Essay

Eine Pandemie made in China

Von Matthias Küntzel
08.04.2020. Das wichtigste chinesische Forschungsinstitut für Corona-Viren befindet sich in Wuhan. Seit 2002/2003, seit der SARS-Krise, war gerade dort bekannt, welche Gefahr von Corona-Viren ausgeht. Heute spielt sich die chinesische Regierung als Retter auf. Dabei ist sie zuallererst für den weltweiten Ausbruch von Covid-19 verantwortlich. Und der Westen an zweiter Stelle.
Die Propagandaapparate der VR China machen Überstunden, um das Land als Retter in der Not anzupreisen und Chinas Versagen nach Ausbruch der Corona-Epidemie zu vertuschen. Dabei ist eine Analyse dieses Versagens unumgänglich: Ohne Untersuchung der Frage, was in Wuhan Ende 2019/Anfang 2020 schiefgelaufen ist, wird man die Fehler der Vergangenheit auch bei künftigen Virenausbrüchen wiederholen. Die tatsächliche Dimension des chinesischen Fehlverhaltens lässt sich jedoch nur erfassen, wenn wir die Jahre 2002/2003 mit in den Blick nehmen.

Damals kam es zur ersten SARS-Pandemie, die ebenfalls in der VR China ihren Ursprung hatte und besonders Asien heimsuchte. SARS bedeutet "Schweres aktues Atemwegssyndrom" ("Severe Acute Respiratory Syndrome"), für das ein Corona-Virus verantwortlich war. Auch damals wurde das Virus vermutlich von Wildtieren auf Menschen übertragen und löste schwere Lungenentzündungen aus, auch damals schlug die chinesische Führung erst verspätet Alarm. Die Viren aber verbreiteten sich mit rasender Geschwindigkeit: Binnen weniger Tagen weitete sich die lokale Infektion zur Pandemie. So steckte ein einzelner Infizierter, der damals, ohne dies zu wissen, ein Hotel in Hongkong aufsuchte, binnen 24 Stunden zwölf Hotelgäste an, die ihrerseits das Virus in alle Welt trugen und mehr als 4.000 SARS-Erkrankungen weltweit auslösten. Es kam zur wochenlangen Schließung sämtlicher Bildungseinrichtungen in Hongkong und zum Einbruch der Tourismusindustrie um 70 Prozent. Es wurden insgesamt 8.500 Menschen in 30 Ländern infiziert. Bei einer Mortalitätsrate von 9 Prozent starben etwa 800, wobei 50 Prozent der Verstorbenen im Gesundheitsbereich als Ärzte oder Pfleger gearbeitet hatten.1

Diese erste SARS-Pandemie war das einschneidende Erlebnis, das eine ganze Generation von Mikrobiologen prägte. Zwar waren Coronaviren seit den 1960er Jahren bekannt; sie galten aber als harmlos bis 2002 klar wurde, dass die jüngst mutierte Version dieses Virus lebensgefährlich war. "Die nächste Welle von Krankheitserregern der Atemwege ist in Kürze zu erwarten", warnten amerikanische Wissenschaftler 2005 und machten Vorschläge, wie sich Gesellschaften hierauf vorbereiten sollten.2 2013 bezeichneten chinesische Wissenschaftler in einem Aufsatz in der Zeitschrift Nature das Auftreten dieses Virus beim Menschen als "eines der folgenschwersten Ereignisse für die Weltgesundheit". Dieser Virentyp bleibe auch in Zukunft eine "erstrangige Bedrohung."3

Die meisten der zwanzig Autorinnen und Autoren dieses Aufsatzes kamen vom Institut für Virologie in Wuhan - dem Zentrum des neuen Corona-Ausbruchs. Dieses Institut hatte den Coronavirus seit 2003 intensiver als jedes andere Forschungseinrichtung der Welt studiert, um vergleichbare Ausbrüche zu verhindern.4 Hier war man Ende 2019 somit besser als anderswo auf der Welt informiert. Und damit nicht genug: Aufgrund der ersten SARS-Pandemie führten zahlreiche asiatische Staaten, so auch die VR China, ein Frühwarnsystem ein, "das sicherstellen sollte, dass Seucheninformationen unabhängig von politischen Erwägungen unverzüglich … weitergeleitet werden" und "Krankenhäuser noch am selben Tag die lokale und die nationale Ebene informieren, wenn drei oder mehr Fälle einer Lungenentzündung unbekannten Ursprungs auftauchen."5

Man kann also sagen, dass die VR China als das Ursprungsland der ersten SARS- Pandemie für den erneuten Ernstfall wissenschaftlich und organisatorisch vorbereitet war.

Doch dann lief dennoch alles schief.

Zwar steckte sich der erste chinesische Covid-19-Patient schon Mitte November 2019 an; zwar war die Gesundheitsbehörde in Wuhan spätestens am 27. Dezember 2019 über den Befund eines SARS-ähnlichen Erregers informiert - Vorrang aber hatte die alljährliche Sitzung des lokalen Volkskongresses in Wuhan, die zwischen dem 12. und 17. Januar stattfinden sollte.6 Wider besseres Wissens erklärte am 31.12. die Wuhaner Stadtverwaltung, dass es für eine Übertragung von Mensch zu Mensch keine Hinweise gäbe.

Es wurde wochenlang gemauert. Wie Ai Fen, die Leiterin der Notaufnahme im Wuhaner Zentralkrankenhaus berichtet, sei "die Diagnose einer infizierten Krankenschwester gezielt gefälscht worden. Medizinisches Personal, das an Covid-19 erkrankte, wurde daran gehindert, Kollegen zu warnen, und durfte die CT-Bilder der eigenen Lunge nicht einsehen." Sie selbst wurde "von einem Mitarbeiter der Parteiaufsicht, wie es sie in jeder staatlichen Einrichtung in China gibt, angewiesen, mit keinem Menschen über die Krankheit zu sprechen. Jene, die bereits darüber wüssten, solle sie mündlich, ohne schriftliche Spuren zu hinterlassen, anhalten, zu schweigen."

Das Totschweigen der Wahrheit trug entscheidend dazu bei, dass sich mehr als 3.000 Ärzte und Pfleger in Wuhan mit dem Virus infizierten und viele daran starben. Mehr noch, mit ihren Lügen und Repressionen gegen Ärzte und Wissenschaftler bahnten die chinesischen Machthaber seiner weltweiten Ausbreitung den Weg.

Friederike Böge berichtet in der FAZ von einer Studie des renommierten Epidemologen Zhong Nanshan. Ihm zufolge hätte die Zahl der Infektionen allein in der VR China um zwei Drittel niedriger ausfallen können, wenn die Eindämmungsmaßnahmen nur fünf Tage früher erfolgt wären. Dass mit einem entschiedenen sofortigen Handeln die Pandemie sogar gänzlich hätte verhindert werden können, zeigt das Beispiel Taiwans, ein Land, das von der ersten SARS-Katastrophe schwer getroffen war.

Hier musste man nach Ausbruch der neuen Pandemie das Schlimmste befürchten: Immerhin hatten 2019 mehr als zwei Millionen Festland-Chinesen das nur 130 km entfernte Taiwan besucht.7 Doch es kam anderes: Nachdem taiwanesische Virologen von ihren chinesischen Kollegen Ende 2019 erfahren hatten, dass medizinisches Personal in Wuhan erkrankt sei, reagierte die Regierung sofort: Vom 31. Dezember an wurden Passagiere aus Wuhan am Flughafen von Taipeh noch an Bord auf Symptome überprüft.8 Anschließend wurden systematisch alle Personen erfasst, die während der letzten Wochen in der Wuhan-Region gewesen waren und ein auf diesen Ernstfall vorbereitetes Epidemie-Zentrum aktiviert, das noch im Januar 124 verschiedene Maßnahmen wie zum Beispiel einen staatlich verfügten Preisstop für Atemschutzmasken in Gang setzte.9

Das Ergebnis ist beeindruckend: In Taiwan waren bis zum 8. April 2020 16 Personen pro einer Millionen infiziert, in Deutschland hingegen 1294. Dort sind bisher fünf Menschen dieser Krankheit erlegen, hierzulande 2017.10

Während Taiwan im Wissen um die rasante Ausbreitungsgeschwindigkeit auf dieses Virus unverzüglich reagierte, ließen die Verantwortlichen der VR China dreieinhalb Wochen vergehen, bevor sie am 23. Januar 2020 den Schalter umlegten und die 11 Millionen Einwohner Wuhans von der Außenwelt abriegelten. Bis dahin hatte sich das Virus längst in alle Welt ausbreiten können.

Dieses beispiellose Versagen der chinesischen Machthaber wäre entschuldbar, wenn die Virenmutation als Naturkatastrophe über eine gänzlich unvorbereitete Menschheit gekommen wäre, wenn es also den Vorlauf der ersten SARS-Epidemie und die wissenschaftlichen Schlussfolgerungen daraus nicht gegeben hätte. Doch es gab sie. Sie wurden jedoch wissentlich beiseitegelegt und ignoriert, während man all jene, die als Wissenschaftler und Ärzte ihrer Verantwortung gerecht werden wollten, abstrafte und mundtot machte.

Es geht nicht nur darum, dass das autoritäre System Chinas, das auf Einschüchterung, Zensur und Unterwerfung setzt, vollständig versagt und eine beispiellose weltweite Katastrophe ausgelöst hat. Auch die westliche Welt hatte die Zeichen, die seit 2003 an der Wand prangten, nicht wahrnehmen wollen und die Gefahr des Coronavirus unterschätzt.

Sondern es geht auch um die Zukunft. Die wissenschaftliche Expertise, die zwischen 2003 und 2019 gesammelt war, blieb wirkungslos, weil sich Politiker weigerten, den worst case als Möglichkeit zu akzeptieren. Sie wollten nur das sehen, was ihr Verstand zu verstehen bereit war. Eine Pandemie mit 60.000 Toten binnen weniger Wochen gehörte nicht dazu. Ihr Mangel an Imaginationsfähigkeit begünstigte die Katastrophe. Dabei lehrt die Geschichte, wozu dieser Mangel führt: Man sah dies 1938 bei Neville Chamberlain, man erlebte es im Vorfeld des Anschlags von 9/11 und spürt es jetzt, aus Anlass der Corona-Pandemie. Die gewaltigen Public Relation-Aktionen, mit denen die chinesischen Machthaber von ihrer Verantwortung für den Ausbruch des Virus ablenken wollen, sind auch deshalb so schlimm, weil sie die Möglichkeit, wenigstens im Rückblick zu lernen, verbauen.

Matthias Küntzel

1 Richard P. Wenzel, Gonzalo Bearman and Michael B. Edmond, Lessons from Severe Acute Respiratory Syndrome (SARS): Implications for Infection Control, in: Archives of Medical Research, 2005 November-December; 36(6):610-616 sowie https://de.wikipedia.org/wiki/SARS-Pandemie_2002/2003.

2 Wenzel et.al., a.a.O..

3 Zheng-Li Shi, Peter Daszak et. al., Isolation and characterization of a bat SARS-like coronavirus that uses the ACE2-receptor, in: Nature, Volumne 503, 30.10.2013. Siehe auch: Detlef zum Winkel, Shi Zhengli und die Fledermäuse, in: Jungle World, 26.03.2020.

4 Khaled Talaat, The Origin of the COVID-19 Outbreak in Wuhan, Tablet-Magazine, 07.04.2020.

5 Friederike Böge, Erst vertuscht und dann bekämpft, in: FAZ,, 23.03.2020.

6 Die nachfolgende Auflistung folgt den Ausführungen von Friederike Böge, der China-Korrespondentin der FAZ, siehe FN 4.

7 C. Jason Wang, Chun Y. Ng und Robert H. Brook, Response to COVID-19 in Taiwan, in: Journal of the American Medical Association, 03.03.2020.

8 Siehe FN 4.

9 Siehe FN 6.

10 https://google.com/covid19-map/?hl=de.