Essay

Aktuell noch zu wenig

Von Lacy Kornitzer
16.09.2023. Dass der Verfassungsschutz die AfD beobachtet und sie als Verfassungsfeinde, Rechtsradikale einstuft, wirkt gleichermaßen beruhigend und beunruhigend. Doch noch zu wenig Delikte, noch zu wenig Rechtsradikalität, zu wenig verbaler Terror. Worauf wartet der Staat? Warum füttern wir diese Leute, die an den Zitzen des Staates, den sie bekämpfen, hängen, für ihren Zersetzungsmechanismus durch? Wie wir die AfD wahrnehmen. Ein Essay.
"Mäntel des Schweigens aus zweiter Hand umständehalber günstig abzugeben." P. Sloterdijk


Das hier ist ein guter Ort. Hier leben, arbeiten, informierte, seriöse Leute, heiter an diesem heiteren Ort. Wissen entspannt. Manchmal. Hier treffen wir uns alljährlich einmal zusammen zum Austausch. Einige Ortsansässige sind dabei, andere reisen an aus Hamburg, Bremen, Hof, Bochum, Gütersloh, Berlin. Wir bringen Entwürfe mit, lose Konzepte, ein Buch, Briefe, ein Gedicht. Wir diskutierten sie. Warum gerade hier? Siehe oben. Drei Tage im Jahr im Spätsommer. Richten unseren Blick auf die Lage im Land, Analysen aus Zeitschriften im Kopf. Debatten im Bundestag. Vergleichen Gesagtes mit Nichtgesagtem, sehen das Sichtbare, das zur spitzen Charakteristik einlädt. Wir sind im Bild, einigermaßen. So war es.

Diesmal kamen wir mit leeren Händen, kein Konzept, keine Entwürfe. Wir diskutieren nicht. Sagen wenig, und wenn, dann in kurzen Sätzen. Stichworte aus müden Köpfen. Was wir sagen, entspringt der Sprachlosigkeit. Heiter ist hier keiner mehr. Uns eint die Unvollständigkeit unserer Gedanken.

Die da kriechen sukzessiv heran. Wenn Höcke an die Macht gewählt wird, wird es heißen, ach was, es sei doch nur Thüringen. Und wir befassen uns dann mit der praktischen Aufgabe: Kofferpacken. Über den Witz, den einer hier draußen auf der Terrasse des Cafés unter den alten Bäumen doch noch einwirft: Die Partei ist die Organisation, die zur Lösung der Probleme entstanden ist, die ohne sie nicht existieren würden, lachen wir nicht. Es ist längst kein Witz mehr.

Nach dem langen Schweigen seitens der Politiker, sei Schweigen laut Volksmund auch goldwert, dürfte es nun zu spät geworden sein. Kein Alarm, kein Widerstand gegen dieses ja doch schon Unheil, so als sei es noch zu geringfügig, gut handhabbar. Ist das Politik? Vielleicht. Bei Kundgebungen der AfD und Neonazis laufen Gegenkundgebungen, beide Seiten von der Polizei zumeist erfolgreich abgeschirmt. Keine nennenswerte Eskalation - geordnete Verhältnisse. Man könne also noch gut haushalten. Man könne also weiter Freiheit sagen.

Für Freiheit wird viel geworben. Um die Ecke, etwas weiter weg, in Stadt und Land. Freiheitsliebende wie ihre Kontrahenten werben für sie fast wortgleich. Rewe wirbt für Freiheit, die Telecom, Claudia Tiefenbach im Außenbezirk (Mode), die FDP, die Spülmittelindustrie, Rammstein als prominenter Agent menschenverachtender Ästhetik (Zeitgeist), die gierige Lebensmittelindustrie für die Horrorpreistreiberei, die Fa. mit dem Hörgerät, der Verkehrsminister für die Freiheit des Benzins, der Optiker, die Schwerindustrie, die Gas AG und die AfD. Es kann natürlich sein, dass man wegen einer solchen Liste sich eine Verleumdungsklage einhandelt, er, sie, es, wir haben uns noch nie etwas in Sachen Freiheit zuschulden kommen lassen, kein Wort je für sie eingelegt, höchstens aus Scherz vor längerer Zeit, längst verjährt.

Bei uns geht es ja noch. Anderswo - na bitte, sogar Israel - in Italien beispielsweise, sind die Faschisten bereits an der Macht. Und hat nicht die Präsidentin der Europäischen Komission die Meloni bei deren allererstem Auftritt in Brüssel wie eine verlorene Schwester herzlich begrüßt, umarmt, umgarnt? Und wird der Herr Weber dem Herrn Krah nicht auch links und rechts Willkommensküsse auf die Wange drücken in Brüssel, wenn es soweit ist? Einladungen zur Selbstzerstörung.

Kürzlich - für den, dem vergangene Ereignisse stets gegenwärtig sind, war manches gerade erst kürzlich - grub einer nach rund 20 Jahren absichtsloser Zurückhaltung wieder den Slogan Rote Socke aus, einst der Lieblingsspruch von Helmut Kohl, die öde, langweilige, dumme Parole. Dass Schröder damals, dass die SPD etwas mit Rotem zu tun hätten, ist eine Farce. Dass Freiheit ein relativer Begriff ist, ist seit 5000 Jahren bekannt. Der Optiker hat recht, auch die Fa. mit dem Hörgerät, Ohr und Auge müssten intakt sein. Für die vernünftige Zuordnung von Gehörtem und Gesehenem. Sind die Sinnesorgane dabei zu versagen? Obschon die Grenzen deutlich verwischt sind, zwischen lebbar und unlebbar wehklagt noch der Unterschied.

Der Mangel an Courage, dem eklatanten Bruch des Prinzips der Gegenseitigkeit nichts entgegenzusetzen, ist bestürzend. Zu sehen, dass totaler Skrupellosigkeit, totalem Verzicht auf politischen Anstand wieder Respekt gezollt wird. Wie sonst hätte die AfD es bis hierhin geschafft. Gefragt, wie es zum großen Zuspruch komme, zückt Herr Ramelow, Ministerpräsident, Mitglied der Partei Die Linke, die gängige (selbst)mitleidige Aussage, der Mensch hier - Ost - fühle sich nicht respektiert. Und er dreht so den Sachverhalt um: der AfD-Wähler erfahre keinen Respekt dafür, dass er rechtsextrem denkt, fühlt und wählt. Diesem Statement folgt kein weiteres - und mit diesem bedrückenden Zeugnis des Stumpfsinns leistet Herr Ramelow Direktwerbung für die AfD. Kein Wort von den zehlreichen No go areas im Osten Deutschlands, lauter begehbare Zikkurate, in denen schon seit langem Neonazi-Schlägerbanden herrschen beim leisen Einvernehmen der Einwohner, sie helfen uns ja. Die Banden wählen zwar auch AfD, obschon sie ihnen viel zu wenig radikal ist. Dass Höcke ihre destruktiven Energien fördert, genügt ihnen einstweilen. Bei Herrn Ramelow in Thüringen herrscht wohl bloß allgemeiner Neid auf den Abiturienten und den Rentner in Gütersloh, beide Grünwähler, weil sie ja doch im Genuss allgemeiner Achtung und Anerkennung dem Leben fröhnen dürfen. Kürzlich nahm zu dem Problem auch Bundeskanzler Scholz Stellung, der Freibrief für die AfD sei zwar unangenehm, das sage ich ganz klar, doch er gehe davon aus, dass bei den Wahlen 2024 es wieder ganz anders aussehen werde. Kein wörtliches Zitat, aber ein inhaltliches, das signalisiert, dass es immer noch zu wenig sei, was da passiert. Durch derartige Objektivierungen der Lage frohlockt das Objekt. Konflikt? Wo? Womöglich erinnert sich Herr Scholz an Schönhuber und seine rechtsnationalen Republikaner, die nach Höhenflügen, öfter gut über 10 Prozent, am Ende doch eingegangen sei. Ein solcher Vergleich als letzter Erklärungsversuch ist der deprimierendste von allen: Damals war es die BRD ohne die DDR, wo man nach 60 Jahren aufeinanderfolgender Diktaturen und trotz 33 Jahre währender Eingliederung in den freien Westen anscheinend doch lieber Diktatur möchte. Sie liegt im Angebot der Rechtsextremen. Außerdem war den Menschen in der BRD die sogenannte Freiheit - längst ein geschändeter Begriff - entschieden wichtiger als die Wiederkehr der braunen Zeit durch einen Schönhuber, Sohn eines Metzgers, der von 1931 an Mitglied der NSDAP war. Eine Familie.

Und die Nachkriegszeit-Erfahrung besagt, dass sobald eine rechtsradikale Partei auch nur in die Nähe politischer Gestaltungsmacht gerät, erweist sich, dass sie über keinerlei Konzept verfügt.

Nur dass fehlendes Konzept inzwischen das Versprechen ist - hätte die AfD eines, könnte sie sich von ihrem Höhenflug verabschieden. Sie geben sich das Pädikat Protestpartei und ihren Wählern Protestwähler. Was sie nicht sind; es ist eine rein auf Angriff ausgerichtete Bewegung, und in Bewegung gesetzt wird das dramatisch wachsende Klientel. Das Gemeinwohl an sich ist nicht ihre Sache. Analysen der Lage weisen sie strikt ab. Gegen Argumente sind sie immun. Weshalb ihre repetitiven Parolen viele für Argumente halten. Dass das Land, ganz Europa, große Teile Welt sich durch Krisen schlängeln musste und muss, halten sie für inszenierte Show.

Im Osten Deutschlands gab es keine Bekanntschaft mit Faschisten und Nazis. Man weiß also nicht, wie sie aussehen und was das denn seien, sie müssen außerhalb dieses Gebietes gezeugt worden sein, vorzugsweise in Westdeutschland, vorzugsweise in Rosenheim. Buchenwald lag nicht in Thüringen. Heydrich war nicht in Halle geboren, und sein Vater sang bloß melancholische Opernlieder. Bormann war nie in Sachsen-Anhalt. Die Nazi-Schergen, die KZ-Aufseher waren Österreicher. Rudolf Hess war Ägypter. Und und und.

Die einmal gestreute Idee, von wem eigentlich?, Höcke sei Portugiese, war ein Witz. Er ist waschechter Westfale, Parteiführerin und Busenfreundin Weidel, Gütersloh, ebenfalls. Beide hatten die Umschau in Westfalen satt und zogen Richtung Ural, machten aber rechtzeitig Halt: sie erkannten, in welchem trüben Gewässer der große Fang schwimmt. Höcke liebt das Deutschtum, die Deutschen und die deutsche Sprache. Was man nicht ganz beherrscht, liebt man erstmal. Derzeit leide sie an Schizophrenie, ihre Persönlichkeit sei gespalten. Das Gehirn funktioniere zwar, aber nur solange es sich um Technologie handelt, auf allen anderen Gebieten sei die Degeneration in vollem Gang. Sie seien alt und krank, die Herren und Damen da oben, die Prediger der Demokratie, Presseleute, Künstler, Atheisten. Auch die Technologie werde auseinanderbrechen. Der Bau einstürzen, kein Kraftwerk mehr Strom produzieren. Gas aus Russland müsse wieder her. Im Regierungsviertel sehe man alle Anzeichen eines krankhaften Egotismus, der auf dem Instinkt erlahmter Kräfte beruhe. Die Europäische Union ein Missverständnis, ein Schrotthaufen. So Höcke, ein Mann der überdosierten, zu keiner Denkbewegung veranlassten Sprache, ein Amtswalter jenes Deutsch, dass einmal kraftvoll und unwidersprochen gewesen war. Dumpfe übergewichtige Männer jubeln ihm zu in Sonneberg, Thüringen, in Sachsen, Mecklenburg-Vorpommern, in Moskau. Wir wissen wovon wir reden. Wenn Denken adelt, möchte ich lieber Spießbürger bleiben. Geschichtslehrer Höcke erklärt seinen Anhängern, warum ein Magnet Eisen anzieht und nicht Butter. Ist das ein Gedanke? Ein Code? Jedenfalls sagt er damit seinen Mitläufern ohne es zu merken, dass sie als Person und als Kollektiv von geringem Schicksal sind. Und lässt sie so den lebendigen Traum von der Wiedergeburt der NSDAP träumen. Das wollen wir, sagen sie denn auch wörtlich, sagen sie barbarisch-fromm, schmunzelnd und selbstgewiss, ja, die NSDAP, sagen Frauen und Männer unumwunden direkt in die Kamera. Keine Selfies, ARD live. Wer es nicht sagt, weil es gerade gesagt wurde, nickt blicklos stumm. Soviel über das kulturelle Niveau in den ihrer inneren Konstitution nach menschenabweisenden und den Bedürfnissen eines menschlichen Wesens von vornherein kompromisslos entgegengesetzten Landstrichen, wo Höcke & Co. Irrlichtern; jedoch auf festem heimatlichem Boden, denn 20 und mehr Prozent sind ja stabilisierendes Faktum. Es ist, auf der niedrigsten Stufe der Erkenntnis und der Selbsterkenntnis, als habe Höcke, hätten seine Fans keinen Platz in der Wirklichkeit. Den sie aber unbedingt einnehmen, Lieferanten und Empfänger von Weisungen. Politik an Orten, die so wirken wie Orte eines ungesühnten Verbrechens, zusammengewachsen zu einem einzigen psychologiefreien Raum. Wer will, kann es hören und sehen. Soweit der objektive Befund.

Es ist die Furie des Verschwindens, von der hier die Rede ist. Für den Geschichtslehrer beginnt Geschichte jeweils in dem Moment, da er das Podium betritt. Setzt ein mit der Reduktion alles Dagewesenen auf nichts, der Eliminierung der Tatsachen, und mit der Eliminierung dieser Eliminierung offenbart sich die Methode: Auf zur umgekehrten Stunde null. Die begriffslose Sprache, das magische Wort völkisches Volk steigt auf wie von einem alten Grammophon. Das Nazimäßige an Höckes quantitativer, ästhetisch betrachtet ekelerregender Sprache - sie aufweichend für Rhetorik zu halten ist fatal - ist Tatwaffe und gleichzeitig ihre Unsichtbarmachung. Es gibt Gehirne, die genau das produzieren können. (Hitler tat kund, er baue den Juden eine Stadt. Das war schon der halbe Erfolg hin zur Lösung des deutschen Problems, hin zur Endlösung.) Höcke bietet Varianten desselben Musters, verspricht Ostdeutschland den Ostdeutschen, es ist sein Kampf, garniert mit Zitaten aus Mein Kampf. Die Symbiose von gesagt und nicht gesagt - im Zweifelsfall heißt es immer: aus dem Kontext gerissen -, wird erst klar gesagt worden sein, wenn es mit der Macht geklappt hat. Wenn ihm und ihnen die Ämter übertragen wurden. Die Legislative. Damit droht Höcke nicht nur den ihm Öffentlichkeit gewährenden Journalisten, die Drohung, weit mehr als verbaler Affront, entspringt manifester Überzeugung, der Siegesgewissheit. Kein Stimmenfang bloß, vielmehr religiöses Glaubensbekenntnis, völkisches Gebet. Wir werden sie jagen, die Demokraten, rief einmal Gauland in die Runde. Die Jagd geht nun voran, auf die Konkurrenz und das manipulierte Wahlvolk. Die sattsam bekannte Erwartung, er und seine Partei würden sich schon von selbst isolieren, ist dekadent. Nicht zu unterschlagen: Höcke & Co. erhalten viel geistig-materielle Unterstützung nicht nur im Osten inkl. Russland, auch aus dem Westen, von kleinen und großen Fischen; spätestens an diesem Punkt erweist sich der als Allheilmittel angepriesene "Dialog" als Selbsttäuschung. Wie auch, mit dem Thema Nazismus Ost den Nazismus West für harmlos zu halten.

Es heißt oft, man fürchte sich vor dem, das man nicht kennt. Aktuell muss man fürchten, was man kennt. Die Finsternis, das Böse in seinen Abarten. Man hat es erlebt, wenn nicht, erinnert man es trotzdem, man kennt es. Die Produktion von Blüten der Niedertracht, die Produktion des Verschwindens, das Höcke gerade im Hinblick auf das Verschwinden des Verschwindens präsentiert, honorieren ihm seine Wähler als die neu aufleuchtende dritte Phase des Erwachens nach '33 und nach '89.

Ebenfalls stets desselben Musters bedient sich am Rednerpult im Bundestag und auf Marktplätzen Parteifreundin Weidel. Ihre an Magersucht leidenden Themen, vorgetragen mit fast hysterischer Beflissenheit, mit rigoroser Sachlichkeit ohne Sachbezug, Politik vortäuschendes Geröchel im Grunde mit dem obskuren Charme einer Klobürste. So als habe eine geheime objektive Größe sie persönlich beleidigt. Hat sie sich in Rage geredet, sticht einem der moralische, d. h. intellektuelle Bankrott ins Auge. Im rein physischen Akt ackert die Zynikerin beim vom braven Steuerzahler dotierten Job am Pult, verabreicht veritablen Hass, die grausame Marinade: Zündstoff für die asozialen social Medien. Zündstoff für die Straße, die Oberschüler in Ost und West: Hitlerbilder, Hakenkreuze auf den sozialen Kanälen, unterlegt mit Popmusik. Hitler für die Zehn- bis Zwanzigjährigen, Terrorpropaganda mit Breitenwirkung. Immer häufiger sieht man auf Fahrrädern vorbeiziehende Jugendliche und nicht so ganz Jugendliche in die Sommerfrische radeln in brandneuen SA-Uniformen mit Kniehosen, Kniestrümpfen. Rote Krawatte, der Rest braun. Lauter Vorboten kommender Katastrophen. Woher haben sie diese Ausrüstung? Weihnachtsgeschenk von den Eltern? Wer schneidert ihnen die SA-Uniformen maßgerecht zu? Wer finanziert das alles? Fragt man sie und ihresgleichen, ob sie denn wissen, was sie tun: das ist doch nur Spaß, nur vorbereitende Lektüren für ein Spiel, erklären sie wohlwissend, dass das verboten und eine Straftat ist. Gäbe es das Verbot solchen infamen Abjubelns nicht, wäre der Weg vom angelernten Empfinden zum Sagenkönnen offen; schon von früh an wissen sie, wo ihr Platz ist. Bildungsmisere - besser: Bildungskill - ist nicht bloß ein gängiges Wort von an dieser Lage verzweifelten Lehrern, gängiges Schweigen einer ratlosen, auf ihren guten Ruf bedachten opportunistischen Schulaufsicht.

Den Rahmen für Frau Weidels Vortrag - Schecks von Putin, ggf. auch von Blocher bereits im Briefkasten - bildet die intentionale Ablenkung von grüblerischen Handlungen in schwieriger Zeit, die gute alte Dereflektion. Angebote zum Nachdenken über düstere Themen weist sie, weisen ihre Parteifreunde postwendend zurück. Die an die Macht drängenden Parvenus bieten für das Schlachtfeld Zukunft die gleiche Munition wie etwa die Reichsbürger, Zerschlagung der Europäischen Union, Wiedererwachen der D-Mark, Deutschland mit deutschem Blut first. Diese Gewohnheit ist nicht bloß eine schlechte unter anderen. Was die AfD und ihre Führer sind, was sie bedeuten, kann man politisch nicht mehr einhegen. Wie soll man auch dem pubertisierten Spießertum, das sie vertreten und mobilisieren, beikommen, Vätern, Müttern und Kindern unter sich im homophonen Vaterland. Gleichwohl sie die Rechnung für die erst einmal rein materielle Verheerung, die ihr Programm enthält, nicht aufstellen, selbst als Nebenthema fehlt es, etwaige weitere Pläne noch unter Verschluss. Wehe, diese Partei konsolidiert sich eines Tages. Wehe, man unternimmt den Versuch, sie zu integrieren.

Geschichtslehrer Höcke brüllt nicht. Sein eindimensionales Erscheinungsbild enthält ein kleines Geheimnis: die Unschuldsmiene, mit der er sein Publikum auf die baldige Zukunft, in der wir zusammen leben wollen, einstimmt. Ihm ist so der Triumph sicher. Bei der sanften, auf Nachhaltigkeit bedachten Hetze - es ist keine Meinung, ist Hetze, Straftat - verschleppt er die Stimme, spricht mit der Gemächlichkeit eines müden Ochsen mit Selbstverwirklichungswillen. Auch das hat Zugkraft. Wie im einseitigen Gespräch mit einem Journalisten zur Hauptsendezeit, erst wenn es zu den zwei, drei obligatorischen unbequemen Fragen kommt, Nazi, Faschist oder beides, nimmt er Tempo auf, ein einstudierter Tanz, weist zurück, was er tags zuvor noch vorwies, sagt im Tonfall von Wissenden, was er hier bevorzugt: Gehorsam, (a)soziale Nichteinmischung, Respekt vor der Macht, die er bald innehabe. Verhaltensregeln, die er gemeinsam mit einem rabiaten Aufpasser im Hintergrund vom Journalisten einfordert. Woraufhin der Journalist, einigermaßen perplex, aufhört, weiter investigativ vorzugehen, und er bricht die Sendung ab. Spätestens an dieser Stelle, beim Hören und Sehen, fragt man sich unwillkürlich, was für eine Position Höcke, das autistisch geschrumpfte Ich, hätte er damals gelebt, eingenommen hätte zwischen 1933 und 1945; und, ebenso unfair, erscheint er einem in der Uniform von Heydrich im Faschingssaal, eingehakt beim vorerst parteitechnisch beiseite gestellten Kalbitz, der, mit Verlaub, wie ein Wiedergänger von Himmler aussehen will und aussieht.

Wie wirksam die Techniken der Verharmlosung auch sein mögen: Höcke, Weidel, Chrupalla, ein wilhelministisches Überbleibsel, das beim Interview unbeirrt-infantil seine Fertigbau-Antworten abliefert in eitler Erregung wie jemand, der sich nicht ganz sicher ist, ob er hier schon die Wichtigkeit hat, die er sich selber zu geben so sehr bemüht, ziehen reichlich Menschen an, die angeblichen Verlierer beim Bier und Leberkäs. Was haben die Verlierer verloren? Ostpreußen? Den Kopf? Den Moskwitsch? Die kleinen heimeligen Widerstandsnischen, in denen man nur sich selber nicht widerstehen konnte, damals und damals? Die Anführer der AfD suggerieren, dass es sich um Verlierer handele, die sie infogedessen letztlich für wertlos halten, sie zugleich vis à vis aufwerten. Das relativ neue Gesicht in der Runde, Herr Krah, trumpft mit einer Antrittsrede für einen Sitzplatz in Brüssel auf, jederzeit nachlesbar, diese nur leicht und eigenhändig modernisierte Ausgabe nazifaschistischen Guts - ihn sprechen zu hören, schon sein Auftritt gibt einem das Gefühl, im Abgrund einer veränderten, radikal zurückgeänderten Welt zu versinken noch im Nachhall dieses Auftritts, der jenem Negationismus gleicht, der aus zwei Ressourcen schöpft. Die eine besteht darin, nicht zu sehen, was in der Tat nicht oder nicht mehr sichtbar ist, während die andere darin besteht, den Kontext der Ereignisse bis zu dem Punkt auszureizen, an dem die Besonderheit, der Prozess des Verschwindens verschwunden ist.

Es gibt einen redlichen Negationismus, der wissenschaftlicher Natur ist, nämlich nicht nur zu konstatieren, sondern auch zu erklären. Es stellen sich Fragen, auf die es vielfältige Antworten gibt. Man sucht nach ihnen und findet sie. Man ergänzt sie, korrigiert sie, unter Umständen verwirft man sie und findet neue. Und es gibt einen ehrlosen Negationismus, nach dem dies und jenes fraglos nicht stattgefunden hat und nicht stattfindet. Das ergibt den pseudo-strategischen Sumpf von offenbar magnetischer Anziehung, inzwischen auch für jene aus der sogenannten Elite und der sogenannten Mitte der Gesellschaft.

Dass der Verfassungsschutz die AfD beobachtet und sie als Verfassungsfeinde, Rechtsradikale einstuft, wirkt gleichermaßen beruhigend und beunruhigend. Nur scheinen diese Begriffe ihre Schwere allmählich einzubüßen. So als könne man mit der Bezeichnung Nazi, Neonazi, Faschist nichts mehr anfangen: unübersehbares Zeichen für die Art aktiver Ohnmacht inmitten unumgänglicher täglicher Aktivitäten. Doch noch zu wenig Delikte, noch zu wenig Rechtsradikalität, zu wenig verbaler Terror. Worauf wartet der Staat? Warum füttern wir diese Leute, die an den Zitzen des Staates, den sie bekämpfen, hängen, für ihren Zersetzungsmechanismus durch.

Die integren Parteien arbeiten sich an Themen anderer Größenordnung ab. Natürlich wird geredet, hin und her gedacht. Zu jedem fällt was ein zur AfD, selbst der AfD. Strom erzeugen, egal wie, im Winter heizen, egal wie, ist wichtig. Sich von Leuten unter Strom verheizen zu lassen kann aber nicht unwichtig sein. Wahrscheinlich würde man gerne aufräumen. In der entscheidenden Phase der Weimarer Republik kämpfen Sozialisten gegen Kommunisten, Demokraten verschiedener Coleur gegen alle und gegen sich selbst, und schufen so das Vakuum für die Nazis, das sie nur zu füllen brauchten. Es wäre an der Zeit, gemeinsam Front zu bilden gegen die Feinde der Demokratie heute. Sie gewähren zu lassen ist keine demokratische Handlungsweise. Es gibt genug gute Leute bei der SPD, den Grünen, in der CDU. Warum besinnt sich die SPD nicht auf ihre einstige Geistesgröße. Warum die FDP nicht auf ihre einstmals wichtige, nun vergessene Rolle, die politische Gewissenhaftigkeit hieß. Warum dieser anhaltende Unwille, Subjekt zu sein?

Denkauffrischung könnte die FDP aus Rede und Haltung ihrer Vorgänger Hildegard Hamm-Brücher, Walter Scheel und Gerhard Baum kostenlos beziehen; die Zeit, unsere jetzt, ähnelt jener von damals. Die SPD könnte mit einer einzigen Antwort, entliehen von Herbert Wehner, mit der er die Beleidiger in die Schranken wies, eindeutig positionieren: Unternehmen Sie doch endlich was, Kollege dort rechts, damit Sie nicht länger aussehen und wirken wie ein nie ausgeheilter Herpes. Ein Moment aufrechter Wertung von nicht verblassender Gültigkeit.

So ungefähr waren die Stichworte, die da fielen, und es wurde Abend. Mit wirklich Neuem, Lebendigem, konnten wir nicht aufwarten, außer dass wir beschlossen haben, gleich wieder aufzubrechen, die drei Tage drastisch auf diesen einen zu verkürzen. Jedoch wir verschwinden nicht, gehen einfach.

Was aber ist jenes Verschwinden, von dem oben die Rede ist? Das Auslöschen des Auslöschens? Das vergangene Jahrhundert. Das Gedächtnis. Die Zeit zwischen 33 und 45. Alle Kontextualität. Und aktuell? Es habe keine Pandemie gegeben, dafür aber Zwangsimpfung. Pegida, jederzeit wieder aktivierbar mit ihren Protagonisten in der ersten Reihe, Neonazis, Staatsfeinde, Antisemiten und Wirklichkeitsleugner, sei eine aufrechte Bürgerrechtsbewegung gewesen. Es gebe keine Klimakrise und keinen Angriffskrieg gegen die Demokratie. Putins Krieg, sein Morden seien bloß ein friedenstiftender Ritt ins Freie. Wie viele Tote und Zerstörungen dieser Ritt noch will und das Weltelend auf lange Sicht vertieft, ist nicht von Bedeutung. Der Geschichtslehrer räumt die Geschichte ab und installiert sie neu in den freigewordenen Platz. Indessen sich die AfD als Opfer einer politisch-medialen Verachtung stilisiert. Wo findet das statt? Dabei sind sie in der Tat verachtenswert. Mehr noch, eine Lebensbedrohung. Keine Lust, kein Entschluss zum Zusammengehen der anderen Parteien für eine landesweite laut- und wortstarke Aufklärungskampagne über dieses reale und täglich realer werdende Unheil? Ist der Aufstieg noch aufhaltsam? Ist er unaufhaltsam? An die wahrscheinlich immer noch die Mehrheit bildende Zivilgesellschaft dürfte der Ruf endlich ergehen. Laut einer Spiegelrecherche wählte man zuerst ebenfalls in Sonneberg eine NSDAP-Figur ins Amt, ganz demokratisch, vor neunzig Jahren. Das ist keine bloß traurige Kontinuität bis heute. Es ist jahrzehntelanger skandalöser Endpunkt, ummauerte Leere als innerstes Geheimnis sanktionierter Gewalt. Die sich aktuell als Neubeginn deklariert.

Lacy Kornitzer