Essay

Kleiner geht immer

Von Stefanie Diekmann
09.07.2020. In Comics gibt es Superhelden oder Anti-Helden. Dazwischen ist wenig. Zum Gewimmel der Antihelden tragen neue Comics von François Schuiten, Paolo Bacilieri und Shane Simmons bei.  Bei Schuiten (einem neuen Band der Klassikerreihe "Blake und Mortimer") dominieren die Gebäude, Bacilieri erzählt die Geschichte eines Autors der Harakiri beging. Und bei Shannon werden die Helden zu Punkten.
Zur Konzeption von Akteuren hat der Comic ein grundsätzlich experimentelles Verhältnis. Das betrifft nicht nur die Gestaltung von Heldenfiguren, deren Ausstattung mit besonderen und ganz besonderen Kräften sowie mit Vorgeschichten und Traumata ein Experimentierfeld für sich ist, sondern ebenso die Frage, wer oder was eigentlich im Comic zu Akteuren werden kann. (Antwort: fast alle und fast alles). Die Geschichte der Neunten Kunst beginnt dezidiert unheroisch, mit Kinderbanden, seriellen Träumern und einer Maus, die mit Ziegelsteinen wirft. Die ersten Superhelden (Zorro, Buck Rogers) treten erst zwei, drei Jahrzehnte später auf den Plan, und selbst wenn sie sich von da an vervielfältigen, ist doch das Gewimmel der Anti-Helden und unwahrscheinlichen Akteure zu jedem Zeitpunkt sehr viel größer gewesen als das der Straight Heroes und Überfiguren.

Zu diesem Gewimmel tragen drei Comics bei, die im letzten halben Jahr in deutscher Übersetzung und mit mehr oder weniger großer Verzögerung publiziert worden sind: "Blake und Mortimer: Der letzte Pharao" von Jaco van Dormael, Thomas Gunzig und François Schuiten (Carlsen Verlag 2019; zweite Auflage angekündigt), "Sweet Salgari" von Paolo Bacilieri sowie "Das lange ungelernte Leben des Roland Gethers" von Shane Simmons, der über zwanzig Jahre nach der ersten deutschen Übersetzung, damals in der sehr schönen Reihe der "Tollen Bücher", wieder aufgelegt worden ist.

Besser etabliert als die Figuren Salgari und Gethers sind zweifellos die Figuren des Comics "Der letzte Pharao": Blake und Mortimer, zwei Veteranen der Ligne Claire, die seit 1950 mit dem Projekt der Weltrettung beschäftigt sind. Wichtiger als diese beiden jedoch ist jene Instanz, die alle Arbeiten des Zeichners François Schuiten dominiert, verschiedene Namen trägt, mit verschiedenen Narrativen verknüpft wird und doch immer unverkennbar bleibt: die Architektur, diesmal in Gestalt des Palais de Justice, der als superlativer Steinhaufen im Zentrum von Brüssel thront. In der Hommage, die Schuiten, Dormael & Gunzig auf Einladung des Verlags Dargaud als Spezialheft gestaltet haben, entwickelt der Steinhaufen gleich zu Beginn eine Eigenaktivität. Und was sich aus dieser Aktivität entspinnt, ist eine Geschichte, die zugleich anachronistisch und zeitgemäß erscheint, da sie einerseits von Mythen, Hieroglyphen, altem Zauber handelt, andererseits aber von explodierenden Kräften (Modell: Tschernobyl), Sicherheitszonen und -maßnahmen, vom Umgang mit Energie und von der Frage, wie die Zukunft der Städte eigentlich vorzustellen sei.

In seinen bildschönen, stockkonservativen Alben hat François Schuiten seit Beginn seiner Karriere nie einen Hehl daraus gemacht, dass er sich für die Gestalt von Städten mehr interessiert als für die Geschicke von Figuren, oder genauer: für Figuren nur insofern, als diese dazu verwendet werden können, die Städte, die seit der Reihe "Les Cités Obscures" in erster Linie Architekturen sind, zu erkunden. Dem Umgang mit Blake und Mortimer, Helden einer Serie mit mehr als 25 Comic-Alben, sind damit klare Grenzen gesetzt: Der eine (Blake) befindet sich auf einer Reise, die zum Palais de Justice und später durch dessen geheime und ganz geheime Räume führt; der andere (Mortimer) steht in London vor einem Modell desselben Gebäudes und berät mit Spezialisten darüber, wie der Aktivität des Palais am besten beizukommen sei. Was weiter geschieht, entscheidet das Gebäude; wenn die Helden aktiv werden, ist das nicht mehr als eine Intervention; und sofern am Ende noch etwas von der Welt steht, ist das anderen Instanzen geschuldet als denjenigen, die bislang für ihre Rettung zuständig waren.

Der Autor Emilio Salgari hingegen, der 1911 in Turin durch Harakiri starb, war Zeit seines Lebens nicht mit dem Projekt der Weltrettung, sondern mit dem der Welterkundung beschäftigt. Er verfolgte dieses Projekt als Lohnschreiber, den seine Reiseversuche nicht weiter als bis in die Adria führten und von dort ziemlich direkt zurück an den Schreibtisch, wo er in Diensten verschiedener Verlage fast dreißig Jahre lang Erzählungen und Abenteuerromane verfasste, deren Figuren im Dschungel, in der Karibik, im fernen Osten und im Wilden Westen unterwegs waren. Die Romane waren erfolgreich, Salgari war es nicht. Vielmehr erzählt Paolo Bacilieri sein Leben in "Sweet Salgari" (bestellen) in gekonnt zekritzelten Bildern als eine Existenz, die von Armut und Geldsorgen bestimmt war, von Desillusionierung und einem Mangel an Anerkennung, an dem ein Duell und mehr als ein Verlagswechsel auch nichts ändern konnten.

Bacilieri, der zuletzt viel Lob für den erlesenen, etwas prätenziösen Comic "Fun" erhalten hat, schiebt seinen Protagonisten durch enge, überfüllte Bilder. Zu viele Figuren, zu viele Buchstaben, Gesichter, Gegenstände; die Räume sind zu klein, die Panels sind es auch, und Entgrenzung findet allenfalls auf jenen Seiten statt, die Salgari am Schreibtisch zeigen, wo er emsig kratzend das nächste Abenteuer zu Papier bringt. Es liegt nahe, diesen Comic, der im Original bereits 2012 bei Coconino Press publiziert wurde, als Kommentar zu den miserablen Arbeitsbedingungen der Comiczeichner- und -autorinnen zu lesen, von denen eine große Zahl anlässlich des letzten Festivals de la Bande Dessinée auf die Barrikaden gegangen ist. Geändert hat sich seitdem nicht viel; und wenn "Sweet Salgari" sich als Reverenz an eine Profession präsentiert, ist es zugleich eine präzise Studie der Hoffnungslosigkeit.

Kleiner geht immer. "Das lange, ungelernte Leben des Roland Gethers" (bestellen) ist eine Erzählung vom kleinen Leben in ganz kleiner Form, was in diesem Fall fast bestürzend gut funktioniert. Roland Gethers, titelgebend und gottverlassen, ist ein minusküler Punkt in minuskülen quadratischen Panels, von denen auf jeder Seite nicht weniger als achtzig zusammen-gedrängt sind. Der Strich, der über dem Punkt verläuft, führt zum Text, der Gethers zugeordnet ist und dazu dient, ihn von anderen sprachbegabten Punkten (Vater, Brüder, Ehefrau, Kinder, andere Soldaten, andere Bergarbeiter et cetera) zu unterscheiden. "Longshot Comics" hat der kanadische Zeichner Shane Simmons dieses Format genannt, das er vor fast dreißig Jahren entwickelte und zunächst im Selbstverlag publizierte, bevor es 1994 bei Slave Labor Graphics und 1999 in deutscher Übersetzung erschien, um jetzt in einer sehr liebevoll gestalteten Ausgabe wieder aufgelegt zu werden.

Zu liebevoll vielleicht. Denn zu der Geschichte, die Simmons erzählt, passt die bibliophile Aufmachung des Avant Verlags nur bedingt. Dass die Erzählung einige komische Episoden enthält, ändert nichts daran, dass sie vor allem zum Heulen ist, denn auch das Reich der kleinen schwarzen Punkte wird von Ausbeutung, Klassenverhältnissen, Indifferenz und Gewalt bestimmt. "Roland Gethers" zeigt, wie einer da durch muss: von einem Panel, einer Zeile, einer Seite zu den jeweils nächsten, in einer Dramaturgie der gnadenlosen Serialität, die keine Pause und keine Umbrüche kennt, nur die stetige Fortsetzung, die zweifellos zu den Prinzipien des Comics gehört, für die Figur indes gerade in diesem Fall alles andere als eine gute Nachricht ist.

Stefanie Diekmann