Essay

Erschöpfte ligne claire

Von Stefanie Diekmann
08.02.2018. Das Festival international de la Bande dessinée von Angoulême ist immer noch maßgeblich, trotz seines Sexismus (es bisher kaum Frauen mit den wichtigen Preisen ausgezeichnet worden) und trotz einer zu starken Tendenz zu frankophonen Comics. Einige der gerade ausgezeichneten Werke setzen dennoch neue Akzente in dieser Kunst, zum Beispiel Marion Fayolles "Les Amours suspendues" und Nick Drnasos "Beverly".
Das Comic-Festival von Angoulême verteilt sehr viele Preise. Neben dem Grand Prix de la ville d'Angoulême, der für ein Gesamtwerk vergeben wird, existieren unter anderem der Preis für das beste Album (Fauve d'or), der Preis der Jury (Prix spécial du jury), der Publikumspreis (Prix du public Cultura), der Nachwuchspreis (Prix révélation), ein Preis für Comics, die sich an junge Leser richten (Prix Jeunesse), sowie, sehr charmant, einer für den besten Comic-Krimi (Fauve Polar SNCF), den das Französische Bahnunternehmen SNCF gestiftet und damit begründet hat, dass im Zug eben besonders viele Krimis gelesen werden. (Ist das wahr?)

Den Grand Prix hat in diesem Jahr Richard Corben erhalten, ein wilder alter Herr, der seit Mitte der 1970er Jahre Comics gestaltet, die zunächst in dem Magazin Métal Hurlant und später bei verschiedenen Verlagen in den USA veröffenlicht worden sind, und in denen es vor allem um Muskeln, Waffen, Hinterteile und ein erstaunliches Spektrum physischer Deformationen in erstaunlich unattraktiven Farben geht. Frauen bekommen den Grand Prix eigentlich nicht, mit Ausnahme von Florence Cestac (2000); eine Beobachtung, bei der man sich jetzt eine Weile aufhalten könnte. Dafür zählen zu den Preisträgern der letzten zwanzig Jahre Robert Crumb (1999), Joann Sfar (2002), Georges Wolinski (2005), Baru (2010), Art Spiegelman (2011) oder Bill Waterson (2014); in diesem Jahr waren neben Corben Chris Ware und Emmanuel Guibert nominiert.

Dem manifesten Sexismus, der die Geschichte des Grand Prix bestimmt (doch; es gibt Comic-Zeichnerinnen und -Autorinnen, deren Nominierung keiner weiteren Erklärung bedürfte), korreliert auf der Ebene der vielen Auszeichnungen, die sich auf Einzelwerke beziehen, eine gewisse Fixierung aufs Frankophone. Die Nominierungen für den Fauve d'or sowie den Prix Jeunesse, Prix SNCF Polar und anderen dokumentieren seit einigen Jahren den Versuch, dagegen anzuarbeiten. Was nichts daran ändert, dass in der Übersicht über die Preisträger der französischsprachige Comic wieder dominiert.

Der Prix révélation stellt in dieser Hinsicht eine Ausnahme dar und kann insofern, ebenso wie der relativ neue Prix spécial du jury (seit 2010), als Konzession des Festivals an sein eigenes schlechtes Gewissen betrachtet werden. Eine erfreuliche Konzession, die seit 2001 unter anderem zur Auszeichnung von Marjane Satrapi, Isabelle Pralong, Ulli Lust und 2018 zur Prämierung des Albums "Beverly" des jungen US-amerikanischen Comic Book Artist Nick Drnaso geführt hat.

Thematisch steht "Beverly" irgendwo zwischen Chris Ware und Daniel Clowes, in der Tradition jener tristesse infernale, die seit etwa zwanzig Jahren von der Graphic Novel über die US-amerikanische Provinz verhängt worden ist. Diese Tristesse erzählt sich in Vignetten über verfehlte Begegnungen, lange Autofahrten und lange Nachmittage, sehr viele Einsamkeiten, plötzliche Gewalthandlungen und Gespräche, die auf halber Strecke zwischen den Panels hängen bleiben. Und sie zeichnet sich als Abfolge der kleinen und kleinsten Rahmen, der Repetitionen und seriellen Abläufe sowie in den blassen Farben einer erschöpften ligne claire, die außer Konturen und ein paar Markierungen nicht viel von ihren Figuren zurück behält.

Wenngleich "Beverly", formal betrachtet, im Repertoire bleibt, ist die Narration bei Drnaso virtuos: episodisch, erratisch, mit Figuren, die quer zur chronologischen Zeitordnung hin und her geschoben werden, und mit Augenblicken der Wieder-erkennung, die marginal und zugleich verstörend sind. Unerlöst sind sie alle: Tim, Cara, Tyler, Cup Cake, Mary. Verloren ohnehin, in einer Welt, die sehr klein, aber deshalb nicht einfacher zu bewohnen oder zu verstehen ist. (Dass diesen Szenarien manchmal etwas Sadistisches anhaftet, hat damit zu tun, dass sie in "Beverly" immer auch als das Leben der Anderen präsentiert werden.)

Die Minimalausstattung der Figur (Konturen, Fläche, reduzierte Farbpalette, ein Gesicht, das aus wenig mehr als ein paar Linien und Tupfen besteht) ist ein Kennzeichen des aktuellen Autoren-Comics: in den USA, aber auch in Frankreich, wo Marion Fayolle bei den Editions Magnani "Les amours suspendues" veröffentlicht hat, der in Angoulême mit dem Prix spécial du jury ausgezeichnet worden ist. Der Unterschied zwischen den Welten, die "Beverly" und "Les amours suspendues" entwerfen, besteht vor allem darin, dass das zweite Buch zu jenen Comics gehört, die keine andere Welt zu kennen vorgeben als die der Blätter, Papiere, Linien, Tinten oder Tuschen, aus denen sie selbst bestehen.

Zu der Seitenarchitektur der klassischen Comic-Zeichner wie George Herriman, Frank O. King, Lyonel Feininger (und später, neoklassisch: Chris Ware) unterhält Mayolles schöner Comic eine klare Affinität, nur dass die Buchseiten bei ihr sehr konsequent als Fläche behandelt werden. Das Modell der Anordnung und Aufteilung ist hier nicht die Horizontlinie (George Herriman), die Straße (F.O. King), das Haus (Will Eisner, Chris Ware) oder die Zimmerecke (Richard McGuire), sondern die Bordüre, die Banderole, auch: der Musterbogen, der von rechts nach links aufgespannt wird; dazu immer wieder die tabula rasa, in die kleine Gruppen von Figuren oder Skizzen eines Raumes gesetzt werden, der keinen Anspruch auf Existenz erhebt.

Neben den attraktiven, reduktionistischen und nur manchmal etwas langweiligen Werken des Künstler- und Autoren-Comics findet sich ab und an eines, das anders funktioniert. "Dans la Combi de Thomas Pesquet" (Dargaud, 2017) ist so ein Fall, das heißt: sehr bunt, sehr unordentlich, vollgestopft mit Figuren, Sprechblasen, Konturen; mit Episoden, die sich in rascher Folge ablösen; mit Informationen, von denen einige ziemlich kompliziert sind, und weiter: mit Daten, Fakten, Zahlen, Details, über die nach den ersten hundert Seiten kaum jemand den Überblick behalten kann und nach den nächsten hundert Seiten nicht einmal mehr Thomas Pesquet, der trotzdem ein Held ist.

Pesquet, sehr real existierend, ist das jüngste Mitglied des Europäischen Astronauten-Korps und scheint auch sonst, vor Beginn der entsprechenden Ausbildung, auf seinen Posten als Spacecraft Engineer, Space Craft IT Consultant und Pilot bei Air France das jeweils jüngste Mitglied von Teams gewesen zu sein, die sich aus beängstigend klugen Leuten zusammensetzen. Dem Bild des idealen Schwiegersohns entspricht er außerdem, mit der Einschränkung, dass er hin und wieder längere Zeit abwesend bleibt: 196 Tage zuletzt, die Pesquet auf der Raumstation ISS verbrachte. Die Rückkehr erfolgte am 02. Juni 2017, und da der Held sie überlebt hat (das Berufsrisiko von Astronauten ist ein Thema dieses Comics), konnte Marion Montaigne "Dans la Combi" publizieren, der als Hommage an unseren Mann im All konzipiert ist und sich zugleich dafür interessiert, was es heißt, Astronaut zu werden, Trivia und Belastungen immer inklusive.

Pauken ist eine Sache. Eine andere die Tests, in denen Intelligenz, Stressresistenz. Reaktionsgeschwindigkeit, räumliches Vorstellungsvermögen und psychische Stabilität abgeprüft werden. Noch eine die medizinischen Prozeduren, die für die Leser von "Dans la Combi" viel komischer sind als für Pesquet. Danach das lange Warten (wer hat es geschafft?), die Zweifel; dann der Medienrummel, die ständigen Ortswechsel, die Beziehungskrisen, weitere Tests, Trainingseinheiten, Assessments, die nie ganz aufhören, bis zu den kleinen und großen Herausforderungen des Lebens auf der ISS und der Rückkehr aus dem All, die eine tolle Erfahrung sein könnte, wenn einem danach nicht so kotzübel wäre.

Montaignes Buch nicht zu mögen, ist fast unmöglich. Weil das Interesse an Trivia hier nie mit Demontage zu tun hat. Aber auch, weil "Dans la Combi" zugleich chaotisch und intelligent ist. Ein Hybrid aus Reportage, Wissenschaftsjournalismus, der Sendung mit der Maus und, von Seite zu Seite, Too Much Information, die letztlich doch nie zu viel wird, da sich erweist, dass alles, was hier über Pesquet und die ISS erzählt wird, tatsächlich wert ist, erzählt zu werden, gerne auch in Form dieses gut gelaunten Durcheinanders, das auf dem Festival mit dem Prix du public Cultura ausgezeichnet worden ist.

"Dans la Combi de Thomas Pesquet" ist eine Studie in Understatement. "La saga de Grimr" (Delcourt 2017), am selben Wochenende ausgezeichnet mit dem Fauve d'or für das beste Album, ist eher eine über die Potenziale des "Larger than Life". Ungeheuer ist vieles: die Berge, Hochebenen, Vulkane von Island, wo diese Geschichte angesiedelt ist; ungeheuer auch die Bosheit der Menschen und der Abgrund ihrer Verlorenheit; aber nicht ist ungeheurer als Grimr, der die Landschaften durchquert und sich gegen die Bosheit zur Wehr setzt, was an seiner Verlorenheit nicht viel ändert, aber immerhin manches an seinem Geschick.

Das Bezugsystem der Mythen und Sagen, für Freunde der kleinen Form manchmal irritierend, hat mit der "Grimr" Eingang in die zentrale Auszeichnungen des Festivals von Angoulême gefunden, das gerade mit dem Fauve d'or in den letzten Jahren viel zur Konjunktur einer reduzierten Comic-Ästhetik beigetragen hat. Der mythischen Orientierung entsprechend interpretiert Jérémie Moreau das Konzept der Reduktion auf seine Weise, als Ästhetik des Erhabenen und als Bauprinzip für den Entwurf von Settings, die grandios und sehr abweisend sind, aufgebaut aus zerfließenden Flächen und düsteren Farben, dem Menschen prinzipiell feindlich und in einer ständigen Metamorphose begriffen.

Von allen Werken, die das Festival seit letzter Woche unter dem Stichwort "Palmarès" (Preisträger) listet, ist "Grimr", Saga der Unbehausten, paradoxerweise am besten geeignet, als Coffee Table Book verschenkt zu werden. Weniger erstarrt als "Beverley", weniger kapriziös als "Les amour suspendues", weniger anarchisch als "Dans la Combi": eine dunkle Geschichte mit dekorativen Qualitäten, erzählt und gezeichnet von einem sehr jungen Autor, dessen Geschichte mit Angoulême vor beinahe zwanzig Jahren mit dem Wettbewerb "BD scolaire" begonnen hat.

Stefanie Diekmann