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Gelegenheiten, sich schämen zu müssen

Über Bücher, Bilder und Ausstellungen Von Peter Truschner
13.03.2024. Mari Katayama, Laia Abril und Joanna Szproch formulieren - mit unterschiedlichen Erfolgen, auch bei Publikum und Kuratoren - drei relevante feministische Positionen in der aktuellen Fotografie. Bei manchen dieser Arbeiten fragt sich allerdings, ob sie ihr Potenzial, zum Denken anzuregen, nicht in anderen Räumen als denen der offiziellen Kunstrepräsentation besser entfalten könnten.
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Vor Jahren habe ich im Fotolot das erste Mal auf Mari Katayama und Laia Abril hingewiesen.

Die Berliner Galerie "f³ - freiraum für fotografie" kann sich auf die Fahnen heften, Abrils Arbeiten 2019 im Rahmen der Ausstellung "CRAZY - Leben mit psychischen Erkrankungen" früh gezeigt zu haben, während Katayama seither zwar Erfolge auf der Biennale in Venedig und im Pariser "Maison Européenne de la Photographie (MEP)" feierte, hierzulande aber eine Unbekannte blieb.

Nun gab und gibt es Einzelausstellungen beider Künstlerinnen bei Foto Arsenal Wien und C/O Berlin. (Abrils Recherche in "On Abortion" über den politisch oder religiös motivierten Zugriff auf Geburt und Schwangerschaft und die Gefahren illegaler Abtreibungsmethoden begann im Wiener "Museum für Verhütung und Schwangerschaftsabbruch", wo sie eine mit Schilfrohren und Dornen gefüllte Glasschachtel fand. Diese waren afrikanischen Frauen operativ entfernt worden, nachdem sie damit Abtreibungen vorgenommen hatten.)

Es wird die LeserInnen von Fotolot nicht überraschen - erst recht nicht jene, die meinen Beitrag zu ihrem großartigen Buch "Gift" gelesen haben -, dass mir Katayamas singuläre Bildwelt (hier trifft so ein hochtrabender Begriff ausnahmsweise einmal zu) näher ist der gesellschaftspolitische, die Kamera strikt in den Dienst dokumentarischer Aufklärung stellende Ansatz von Abril.

Wohl nie zuvor hat eine Künstlerin ein beträchtliches Handicap (Tibiale Hemimelie, eine Knochenschwäche, die zu schweren Missbildungen führt) für sich zu einem derartigen Triumph gemacht wie Katayama.

© Mari Katayama





















Die Stringenz und Insistenz von Abrils Arbeit ist nichtsdestoweniger beeindruckend.

Die Themen, die sie in ihrem Langzeitprojekt "A History of Misogny" in Kapiteln wie "On Abortion" und "On Rape" kompromisslos verhandelt, sind universell gültig und werden es leider auch bleiben - mit das erste, worüber reaktionäre Regimes und Bewegungen auf aller Welt und in allen Kulturen Definitionsmacht auszuüben versuchen, sind der weibliche Körper und die weibliche Sexualität.

Zu befürchten steht, dass - wenn die Zeiten wieder schwieriger und unsicherer werden - der von manchen jetzt schon konstatierte Backlash feministischer Errungenschaften noch einmal Fahrt aufnimmt (diesmal in vorderster Front unterstützt von rechtsreaktionären Frauen). Es ist daher wichtig, dass Derartiges in aller Klarheit gezeigt und thematisiert wird.

Aber gerade bei diesem Thema - anders als bei Ausstellungen von Stillleben oder Architekturfotos - muss die Frage lauten: Wo und in welchem Kontext?

Schauen wir uns das Beispiel Wien genauer an.

Im Jahr 2024 sieht in Wien die Situation für Frauen in der Kunst so aus: Die österreichische Kunstministerin, die zuständige Abteilungsleiterin und die Wiener Stadträtin für Kultur sind Frauen. Bedeutende Wiener Museen wie das Kunsthistorische Museum, das Belvedere, das MUMOK, die Kunsthalle und das MAK werden ebenso von Frauen geleitet wie das Rektorat der Hochschule für Angewandte Kunst und die Geschäftsführung des Wiener Museumsquartiers, in dem Foto Arsenal zwischenzeitlich untergebracht ist.

Über sechzig Prozent der Ankäufe der Artothek des Bundes sowie der Vergabe öffentlicher Förderungen und Ateliers betreffen inzwischen Frauen.

Ich erwähne das nicht etwa, weil mich das stört. Schon, als in unseren Breitengraden noch klar die Männer das Sagen hatten, habe ich mir über diese Form von Establishment-Kultur keine Illusionen gemacht, und werde nun nicht damit anfangen, da sich die Chromosomensätze der Beteiligten geändert haben. Aber: Einen wirklichen Aufklärungsbedarf sehe ich in diesem in Bezug auf Feminismus und Patriarchat komplett gebrieften Umfeld eigentlich nicht (mehr).

Ganz anders stellt sich das dar, wenn man die Kunstblase verlässt - was selbstverständlich so gut wie niemand tut, im Gegenteil: alle wollen ja in volatiler Personalunion aus "artist, curator, activist" in diese über weite Strecken öffentlich geförderte Kunstblase hinein.

Hilfsmittel bei illegaler Abtreibung © Laia Abril, Foto Arsenal





















Österreich hat ein Problem mit Gewalt gegen Frauen.

Unabhängig von der nach der jüngsten Ermordung mehrerer Frauen in Wien an einem einzigen Tag wieder hoch kochenden Diskussion um Femizide gibt es noch andere, weniger gängige Zahlen, die ein einigermaßen düsteres Bild zeichnen: Wurden 2014 von der Polizei noch 8466 Betretungs- und Annäherungsverbote gegen Männer ausgesprochen, waren es 2022 bereits 14643. (Und nein, allein mit der seit 2015 schwelenden Flüchtlingsproblematik lässt sich diese Zahl nicht erklären, auch wenn die Anzahl der Tatverdächtigen aus der Gruppe der Nicht-EU-Staaten mit 19 Prozent das Dreifache ihres Anteils an der Bevölkerung ausmacht.)

Nahe liegend wäre es also, die Kooperation mit anderen, mit der Thematik so handfest und lebensnah wie möglich befassten Vereinen und Organisationen zu suchen und mit der Ausstellung  zum Beispiel in Problembezirke wie Wien Favoriten zu gehen - bei Foto Arsenal gibt es dazu nichts auf der Website. Bei C/O Berlin gibt es durch die Kooperation mit der "MaLisa-Stiftung" die übliche Gesprächsrunde mit Expertinnen. (Die Stiftung widmet sich Themen wie "Biodiversität im deutschen Fernsehen" und "Storytelling in deutschen Kinofilmen". Naja …)

Stéphane Magnan, der Gründer der Pariser Galerie "Filles du Calvaire", die Abril und Katayama vertritt, erzählte einmal auf der "Paris Photo" stolz, dass das Centre Pompidou ein großes Konvolut von Abril angekauft hat. Als ich ihn fragte, ob er mit den Arbeiten von Abril nicht auch in die Banlieues gehen und dort für Aufklärung sorgen möchte, schenkte er mir einen Blick, der mir bedeutete, dass wohl ich besser einen Arzt als eine Kunstmesse frequentieren sollte.

Um kein Missverständnis aufkommen zu lassen: Ich erwarte von niemandem, dass er/sie sich so angreifbar macht wie Seyran Ates (hier eine Doku über sie), die in Berlin Kreuzberg einen Treffpunkt für von häuslicher Gewalt bedrohte, kurdische und türkische Frauen ins Leben rief, dort 1984 vom Mann einer Klientin niedergeschossen wurde und seit 2006 unter polizeilichem Personenschutz lebt.

Aber etwas mehr Verlassen der eigenen Blase und Kontakt mit einer anderen, ungleich prekäreren gesellschaftlichen Realität als der eigenen, darf es gerade bei solchen Themen dann doch sein.

Stattdessen gab es im Resslpark beim Wiener Karlsplatz am Weltfrauentag die Einweihung eines Mahnmals gegen Femizide, das "oft unsichtbar gemachte Mechanismen von geschlechterspezifischer Gewalt verdeutlichen und sich in das Stadtbild einschreiben" soll. (Inwiefern das auch nur annähernd gelungen ist, überlasse ich dem Urteil der LeserInnen).

© Laia Abril, Foto Arsenal



Apropos Österreich: Das Land böte auch genügend Material zur Erforschung eines Typus, der im Feuilleton so gut wie gar nicht vorkommt: die konservative Frau und ihre Wertehierarchie.

Vor der Wahl von Sebastian Kurz (ÖVP) zum Bundeskanzler im Jahre 2017 haben der Standard und der Falter veröffentlicht, welche Etats der künftige Innenminister Herbert Kickl (FPÖ) gerne kürzen oder ganz streichen lassen würde - darunter über hundert (!) Beratungsstellen für Frauen, Frauenhäuser, telefonische Notdienste et cetera. Der Ausgang der Wahl ist bekannt, und obwohl seither die Kurz-Zeit eine Medien wie Gerichte fortdauernd beschäftigende, offene Wunde der österreichischen Gesellschaft darstellt, hat es die Frauen bei den Landtagswahlen in Niederösterreich 2023 nicht davon abgehalten, 41 Prozent ihrer Stimmen der ÖVP und 23 Prozent der FPÖ zu geben.

Flapsige Erklärungen von "Pick me - Girl" bis "Stockholmsyndrom", wie sie für Derartiges im Feuilleton üblich sind, werden zur Erklärung dieser Situation wohl kaum hinreichen.

Aber nun genug mit solch Unbill aus alpenländischer Provinz.

Laia Abril gehört auch zu den Fixsternen der 1979 in Warschau geboren Joanna Szproch, die schon seit längerer Zeit in Berlin lebt, und deren Werk ästhetisch am anderen Ende jener Skala beheimatet ist, auf der die unterschiedlichen Formen weiblicher Selbstermächtigung in der Kunst ihren Ausdruck finden. Der Unterschied zwischen dem Besuch einer Ausstellung von Abril und dem Durchblättern von Szprochs Buch "Alltagsfantasie" könnte gegensätzlicher nicht ausfallen.

Auf der einen Seite möglichst objektive Dokumentation; auf der anderen über Jahre festgehaltene, subjektive Eindrücke und Fantasien. Auf der einen Seite das Allgemeine, Unmissverständliche; auf der anderen das Persönliche, Vage, Vieldeutige. Hier die trockene Realität (auch wenn Abril sich große Mühe gibt, die Gewaltgeschichten konkreter Frauen sensibel zu rekonstruieren), dort die private Oase.

© Joanna Szproch


 
Es gibt Fotobücher, Romane und Filme, die das eigene Leben mal mehr, mal weniger schonungslos aufarbeiten, nicht zuletzt die unglückliche Kindheit und Jugend. Im Zeigen und Aussprechen der Dinge wird man zum Souverän über die eigene Geschichte, in der man - großteils fremdbestimmt - bis dahin nicht selten als Opfer oder Versagerin vorkam - eine Form von biografischer Alchemie.

Szproch hatte auch einiges zu verarbeiten.

Aufgewachsen im bigotten Polen, war es ihr als Mädchen verboten mit anzusehen, wie sich zwei Menschen küssten - wenn im Fernsehen eine solche Szene kam, machte der Vater sofort den Fernseher aus. Eine unschuldige Frage aus Kindermund konnte etwas Schmutziges sein, und der Prozess des Heranwachsens bot unzählige Gelegenheiten, sich schämen zu müssen, nicht zuletzt für den eigenen Körper, der von der Umwelt als nicht perfekt genug bewertet wurde in einem Land, in dem - wie Szproch sagt - von Frauen weitgehend immer noch erwartet wird, möglichst gut auszusehen, um eine möglichst gute Partie zu machen. (Wie es scheint, hat das reaktionäre Regierungsbündnis mit den Abtreibungsgesetzen den Bogen dann doch überspannt, und wurde 2023 endlich abgewählt.)

Auch partnerschaftliche Gewalt hat Szproch am eigenen Leib erfahren - und doch zählt ihr Fotobuch nicht zu jener Art von Werken, von denen ich gerade gesprochen habe. Es ist vielmehr ein geradezu hemmungslos subjektiver Gegenentwurf, den sich Szproch über die Jahre gewissermaßen selbst zum Geschenk gemacht hat, das sie nun an ein Publikum weitergibt. Wie dieses Publikum darauf reagiert oder der etablierte Betrieb, ist ihr egal. "Es liegt außerhalb meiner Kontrolle, wie meine Arbeit rezipiert wird", sagt sie, und nimmt es hin, wenn es bei der Rezeption zu Missverständnissen kommt - und Gelegenheiten gibt es dafür so einige.

In dem Buch dominieren neben der nackten Haut die Farben Pink, Rosa und Hellblau -  Farben, die im feministischen Diskurs in Bezug auf Mädchen und Frauen nicht allzu gut angeschrieben sind. Es gibt Bilder von Schwänen, Chamäleons, Pfauen und Schmetterlingen. Ins Buch integriert sind Zeichnungen von Szprochs Tochter im Alter von neun Jahren, die ein großer Fan von Sailor Moon ist, einer jungen Anime-Superheldin. Patricya, Szprochs Alter Ego im Buch, trägt auf einem Foto eine von der Tochter gebastelte Sailor Moon-Maske. Patricya ist im Alter von Szprochs jüngster Schwester und von jener mädchenhaften Normschönheit, wie sie Szproch oft als Ideal und in diesem Sinn als persönliches Versagen vorgehalten wurde.

Es gehört in Zeiten, in denen Narrative wie #bodypositivity oder #fatshaming dominieren, einiges an Mut dazu, in einem Buch über sich selbst so eine junge Frau als Ideal, an dem man zu leiden hatte und gegen das man sich auflehnt, zugleich als eine Vision von Schönheit zu inszenieren, die man in jüngeren Jahre hin und wieder auch gerne verkörpert hätte. Da werden so einige "Aktivistinnen" nicht begeistert davon sein. Erst recht nicht von der Art und Weise, wie Szporch Patricya inzeniert - würde ein heterosexueller Mann in Szprochs Alter mit solchen Fotos an die Öffentlichkeit gehen, würde man sie ihm als "Lolita"-Fantasien um die Ohren hauen.

© Joanna Szproch






















Szproch ist nicht naiv, ihr ist das durchaus bewusst, aber: sie pfeift da einfach drauf  - eine Haltung, wie sie im Betrieb so gut wie gar nicht mehr vorkommt.

Was als persönliches Konzept zu akzeptieren ist - "das Persönliche ist politisch", lautet ein Credo Szprochs -, ist in seiner Umsetzung nichtsdestoweniger problematisch.
Szprochs Arbeit stellt eine Zurückweisung jedes gesellschaftlichen Anspruchs an Frauen dar. Dennoch stellt sich die Frage, ob es wirklich sinnvoll ist, sich dem Genre "junge, nackte Frau" mit der Prämisse "Unschuld" (Szproch) zu nähern, wenn man bedenkt, dass in weiten Teilen der Welt weibliche "Unschuld" im Sinne von Jungfräulichkeit eine immensen gesellschaftlichen Wert darstellt und einen ungeheuren Druck für Frauen bedeutet.

Wie auch immer: an dem Buch können sich per se einige fruchtbare Diskussionen entzünden. Ein Spalier-Stehen von Kurator:innen und Journalist:innen wie bei Abril wird es dafür mit ziemlicher Sicherheit nicht geben, schließlich taugt es so überhaupt nicht dazu, dass sich alle Beteiligten der ungemein beliebten, kollektiven Halluzination hingeben können, es handele sich beim hiesigen Kulturbetrieb um eine Außenstelle des "Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte" - in Wahrheit auch nichts anderes als eine Alltagsfantasie.

Peter Truschner
truschner.fotolot@perlentaucher.de



Joanna Szproch: Alltagsfantasie. 144 Seiten, 24 x 32, cm, Softcover. André Frère Éditions, Roquevaire 2023, 45 Euro.  ISBN : 978-2-492696-15-2