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Aufsaugen des Rauches

Über Bücher, Bilder und Ausstellungen Von Peter Truschner
28.10.2023. Wer war Erwin Quedenfeldt, ein Fotograf, der Apparate nutzte, um sich von Apparaten zu emanzipieren - und dessen Fotografien am Ende aussahen wie Gemälde? Irmgard Siebert hat über ihn eine interessante Studie vorgelegt, sieht ihn als  Kontrahenten von Laszlo Moholy-Nagy , an den er am Ende - entgegen Sieberts Meinung - nicht heranreicht.
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In Zeiten wie diesen, in denen aus allen Kanälen furchtbare Nachrichten das Bewusstsein fluten, frönt das Fotolot diesmal einer Art von kunsthistorischem Eskapismus, der am Ende doch wieder mit der Gegenwart zu tun hat.

Die langjährige Direktorin der Universitäts- und Landesbibliothek Düsseldorf, Irmgard Siebert, hat (in Zusammenarbeit mit Dietmar Haubfleisch) eine umfassende Untersuchung von Leben und Werk des deutschen Foto-Pioniers Erwin Quedenfeldt vorgelegt.

Quedenfeldt wird 1869 in Essen in gutbürgerlichen Verhältnissen geboren, sein Vater wird später Stadtbaurat von Duisburg.
Der junge Erwin studiert Chemie und wird danach Betriebsleiter einer Chemiefabrik bei Frankfurt am Main, wo er früh an der Fotochemie interessiert ist.

Zurück in Duisburg heiratet er 1897 die aus besten Verhältnissen stammende Emma Rohde, eine bemerkenswert attraktive, vielseitig gebildete Frau. Der familiäre Wohlstand erleichtert es Quedenfeldt, eine Laufbahn als Fotograf und Unternehmer in Sachen Fotografie  einzuschlagen.

Zu Beginn nutzt er seine chemischen Studien und widmet sich der Zündung des Blitzlichtpulvers, dessen lange Brenndauer stationäre Fotografie im Grunde unmöglich und Porträtsitzungen in Ateliers von Berufsfotografen zu einer quälenden Prozedur macht. In Innenräumen kommt es dabei zudem zu einer gefährlichen Verbreitung von Rauch.

Sein erstes Patent meldet Quedenfeldt 1899 für einen "Apparat zum Aufsaugen des Rauches bei Blitzanlangen" an, ein weiteres für eine Blitzlichtpatrone, die mittels Strom statt Feuer zündet. Später kommen noch eine mobile, batteriebetriebene Variante und eine wieder verwendbare Blitzlichtpatrone dazu, die das Fotografieren für Amateure ungleich sicherer und billiger machen. Quedenfeldt fasst die einzelnen Elemente unter einer Produktpalette mit  Namen "Baldur" zusammen und macht damit gute Geschäfte.

1900 stellt Quedenfeldt erstmals eigene Arbeiten aus, in weiterer Folge entstehen Familienszenen in Innenräumen, Porträts und Architekturaufnahmen. Die Familie zieht nach Düsseldorf, wo er 1903 die private "Rheinische Lehr- und Versuchsanstalt" eröffnet, die von Anfängerinnen und Berufsfotografen gleichermaßen rege frequentiert wird und fünf Jahre später dreihundert AbsolventInnen aufweist.
Gemeinsam mit seiner Frau macht er ihr stattliches Haus in der Düsseldorfer Rosenstraße mit der Zeit zu einem Treffpunkt für Künstler und Förderinnen von Kultur.

Er wird Vorsitzender des "Verein der Freunde für Fotografie Düsseldorf" - einer der vielen Vereine, Bünde und Clubs, denen er im Laufe seines Lebens betritt. (Man realisiert wieder mal, wie verbeamtet und verseilschaftet der deutsche Kulturbetrieb immer schon war.)

Interessant sind die Möglichkeiten für Frauen, die sich Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts ergaben, bevor es in Folge des Nationalsozialismus zu einer langen Restauration kam.

Zwei Beispiele. Elsbeth Gropp, geboren 1885, tritt der Schule 1910 bei. 1912 zeigt sie ihre Arbeiten im Londoner Salon of Photography und im Kölner Kunstgewerbemuseum. 1913 eröffnet sie in Köln ein eigenes Atelier, avanciert zu einer erfolgreichen Porträt- und Modefotografin und wird als erste Frau in die Gesellschaft deutscher Lichtbildner aufgenommen. Leider geht ihr Bildarchiv 1944 bei einem Bombenangriff verloren.
Hanna Seewald, geboren 1899, ist 1920/21 Schülerin bei Quedenfeldt und wird nach reger Ausstellungstätigkeit 1953 Direktorin der Münchner Fotoschule.

Als die Möglichkeit der Gründung einer fotografischen Abteilung an der Düsseldorfer Kunstgewerbeschule ansteht, umreißt Quedenfeldt seine missionarische Sendung: Im Sinne "höherer Ziele" gelte es, keinesfalls "mittelmäßige Dutzendphotographen zu erziehen" und zu verhindern, dass "ungebildete und anderswo gescheiterte Elemente zum photographischen Gewerbe drängen". (Das Geld von Handwerkern und Angestellten in den Abendkursen der Schule nimmt er dennoch.)

Quelle: ULB Düsseldorf




























Zum Ausgleich für seine Aktivitäten verbringt er gern Zeit im Freien und wird auf eine Landschaft aufmerksam, die bis dahin eher gering geschätzt wurde, etwa von Dürer, der sie "über die Maßen eintönig" fand: den Niederrhein. Quedenfeldt wird zum Dokumentaristen dieser im Zuge der Industrialisierung verschwindenden Landschaft und ihrer regional gewachsenen Architektur - Uferwege, Backsteinhäuser, Windmühlen, Details wie Türeingänge und Fensterrahmen. Wie Eugene Atget in Paris hält er eine dem Untergang geweihte Welt fest.
Immer wieder protestiert er gegen die "Düsseldorfer Abrisspolitik", nennt sie "einfältige Barbarei" und kritisiert "den Geist ruhelosen Erwerbs".

Er stellt seine "Lichtbildkunst" in den Dienst des Heimatschutzes: Zwischen 1909 und 1911 veröffentlicht er 1.400 Fotografien - ginge es nach ihm, würden sie als Schulmaterial verwendet, um die Jugend "zu echter Heimatliebe zu erziehen". 

Der Heimatschutz lässt ihn für kurze Zeit ein Stück des Wegs gemeinsam mit reaktionären Männern gehen, etwa  Paul Schultze Naumburg, der von 1932 bis 1945 als Abgeordneter der NSDAP im Reichstag saß und 1944 von Hitler in seine "Gottbegnadeten-Liste" deutscher  Kunst aufgenommen wurde. Oder Ernst Rudorff, der als einer der Begründer des modernen Natur- und Umweltschutzes gilt, was ihn freilich nicht davon abhielt, Frauen und Juden die Unterzeichnung der Gründungsurkunde des von ihm initiierten "Bund Heimatschutz" zu untersagen.

Kontakte wie diese und seine Stellungnahmen zur Stadtentwicklung haben Quedenfelt im Urteil der Nachwelt das Image eines Reaktionärs eingebracht. Dabei sei "alles was links war" damals im Hause Quedenfeldt zusammengekommen, so Zeitzeugen. 1921 halten sich die Quedenfeldts gern in der anarcho-pazifistischen Siedlungsgemeinschaft "Freie Erde" auf, einer Verkörperung des Traums einer Alternativ- oder Gegenkultur.

Schon als er die Landschaft des Niederrheins fotografiert, beschäftigt ihn die Frage, inwiefern denn die Fotografie eine Kunst sein könne wie die Malerei, anstatt eine bloße technisch produzierte Wiedergabe der Wirklichkeit. Angeregt vom Impressionismus eines Monet und Seurat, entwickelt er das äußerst aufwändige Staubfarben-Gummidruckverfahren, um die künstlerischen Möglichkeiten bei der Erzeugung eines Bildes zu erhöhen. 1912 lässt er sich ein "Verfahren zur Herstellung von symmetrischen Mustern" patentieren. Von Beginn an bezieht er prononciert Stellung gegen Zeitgenossen, die seiner Meinung nach in ihrer Entwicklung stehen geblieben sind wie Heinrich Kühn, oder aber nicht weit genug gegangen sind wie Ernst Haeckel.

Im letzten Drittel des Buches nimmt etwas Fahrt auf, das man Sieberts konsequente Apologie von Quedenfeldt nennen kann.
Man Ray bescheinigt sie, dass er an "komplizierten fotografischen Verfahren nicht interessiert war" und nicht über "erforderliche Kenntnisse und Fertigkeiten verfügte". In maliziösem Eklektizismus zitiert sie fragwürdige Quellen wie denHochschulkünstler Tim Otto Roth, der sich mit lichtempfindlichem Material auseinandergesetzt hat, und Man Ray und Maholy Nagy "Dilettantismus, Unerfahrenheit und Unkenntnis" bescheinigt. (Hier übrigens eins der professionellen, erfahrenen und kenntnisreichen Werke Roths: Indem er den Schriftzug NATUR in Form einer  "Großskulptur" aus Holz auf einen Schwarzwaldhügel setzt, leistet er einen eminent wichtigen "Beitrag zu Innovation und Nachhaltigkeit".)

Der Staubfarbengummidruck bindet Quedenfledt letztlich zu sehr an Mechanik, Chemie und Physik. Zwischen 1914 entwickelt er deshalb die sogenannte Erwinographik, die es möglich macht, ohne Presse zu drucken. Durch manuelle Nachbearbeitung können Konturen, Töne und Lichter subjektiv gestaltet und Farben entfernt, reduziert oder verstärkt werden. Wohlwollende Kritiker bescheinigen ihm mit diesem Schritt eine "Zertrümmerung  der althergebrachten Form", die die Fotografie von "der Pflicht der naturgetreuen Wiedergabe" befreit. Quedenfeldt selbst sieht das Verfahren als "Kampfschrei gegen das vorherrschend Technische und Mechanische".

Weniger Wohlgesonnene zeigen sich erstaunt, "warum jemand einen derartigen fotografischen Aufwand betreibt, um Linolschnitte nachzuahmen", "eine individuelle künstlerische Hand ist nicht erkennbar", vielmehr handele es sich um ein von "pathetischen Worten über Kunst und Seelenleben" begleitetes "Armutszeugnis".

Quelle: ULB Düsseldorf, Klostermann Verlag




























Quedenfeldt sieht in seiner Erwinographik tatsächlich ein Aufbegehren des Menschen gegen die Maschine, des Organischen gegen den "Moloch Technik": "Die alles entscheidende Frage für die Zukunft" ist, "ob die Maschinen den Menschen beherrschen oder der Mensch die Maschinen." Seine Befürchtungen, irgendwann würden "an versteckten Orten Kameras ausgestellt, die ahnungslose Menschen von selbst aufnehmen" sind in der Allgegenwart der Videoüberwachung verwirklicht worden.

Den "Charakter des Einmaligen und Unwiederholbaren" soll die Erwinographik durch die handwerklich-künstlerische Bearbeitung bekommen - dumm nur, dass diese bei Quedenfeldt nicht besonders interessant ausfällt, während er selbst sich in einer Reihe mit Cézanne und van Gogh, Klee und Kandinsky sieht. Er befindet sich wieder auf einer Mission: die "Begründung einer schöpferischen, freien Fotografie", die der "impetuosen seelischen Verfassung des Künstlers zum Durchbruch verhelfen" soll.

Skurril wird es, wenn der völlig verkopfte Quedenfeldt anderen "rationales Denken und Intellektualität" vorwirft, während in sich eine Art "Urkunsttrieb" erkennt, der den Weg zu einem "Urzustand des Seins" freimacht. Im Laufe der Zeit zieht er Freuds Theorien ebenso zur Untermauerung seiner Thesen heran wie Meditation und Yoga: "Durch Übungen an mir selbst habe ich gelernt, mich in einen absolut neutralen Zustand zu versetzen, der wie eine tarierte Waage für jeden Eindruck äußerst empfindlich ist." Nicht erst bei Sätzen wie diesen, die jeder Erkenntnistheorie Hohn sprechen, beschleicht den Leser das Gefühl, mehr noch als die Lektüre Freuds hätte Quedenfeldt die eine oder andere Stunde auf dessen Couch gut getan.

Zwischen Bauhaus und Neuer Sachlichkeit ist für Quedenfeldts Ansatz in jenen Jahren kein Platz.

Der von Walter Gropius 1923 ans Bauhaus berufene Laszlo Moholy-Nagy wird Quedenfeldts großer Antipode. Im Exkurs über ihn wird Siebert regelrecht zur Löwenmutter, die die Leistungen ihres Löwenjungen Erwin im Vergleich zum "vermeintlichen Avantgardisten" Moholy-Nagy verteidigt und darlegt, warum "der eigentlich Bahnbrechende der Fotografie" Quedenfeldt ist, der Moholy-Nagy einen "egoistischen Nutznießer" nennt und seine Arbeiten generell für "billig" im Sinne eines "ästhetischen Ausverkaufs" hält.

Siebert charakterisiert Moholy-Nagy als jemand, der "mit  der Maschinenwelt aufgewachsen ist" und sie "nutzt, ohne ihre möglichen negativen Folgen zu reflektieren". Er ist gut vernetzt und "genial im Selbstmarketing". Sie kreidet ihm an, die Mitarbeit seiner Frau Lucia nicht zu erwähnen - was berechtigt ist, aber als Kritik dennoch überrascht, da Quedenfeldt in den wirtschaftlich schwierigen zwanziger Jahren seine mehrköpfige Familie um seiner Selbstverwirklichung willen einfach sich selbst überlässt und nach Wien zieht

Siebert zitiert Zeitgenossen, die Moholy-Nagy wie Roth "fachliche Defizite" sowie "Arroganz, Oberflächlichkeit und Dilettantismus" vorwerfen. (Moholy-Nagy selbst steht übrigens später dazu, "mehr draufgängerisch als wissenschaftlich-fundiert" vorgegangen zu sein.)  
Otto Steinert wiederum macht sich laut Siebert des Irrtums schuldig, dass er in der Nachkriegszeit Moholy-Nagys "ästhetische Positionen reaktiviert" hat.

Quelle: Klostermann Verlag




























Quedenfeldt reist nach Paris, wo Picasso seine Erwingraphie ausprobiert, ohne sich aber eingehender dafür zu interessieren, nicht anders als die meisten Zeitgenossen, weshalb Quedenfeldt bald in Vergessenheit gerät und erst in jüngerer Zeit - wenn auch in bescheidenem Maße - wieder entdeckt wird. Historiker sind nun mal nach Hegel Propheten nicht der Zukunft, sondern der Vergangenheit, und Geschichte wird aufgrund wechselnder Schwerpunkte und Narrative von allen Generationen immer wieder neu geschrieben.

Sieberts Buch ist als Herzensangelegenheit respektabel und  sympathisch, als Abhandlung leider misslungen.

Das hat mehrere Gründe.

Es liefert keine echte Biografie Quedenfeldts. Dem kann man zugute halten, dass es nicht genug erhaltene Materialien gibt. Es liefert keine befriedigende Schilderung seiner Zeit, obwohl die Zeit zwischen 1900 und 1945 ist bestens dokumentiert ist. Es liefert keine plastische Schilderung der beteiligten Personen, ob Familie oder Weggefährten, und wenn es wie bei Moholy-Nagy ausführlicher wird, leidet die biografische Skizze unter der Voreingenommenheit der Autorin.

Es liefert auch keine ästhetisch relevante Auseinandersetzung. Siebert behauptet zwar mit Nachdruck Quedenfeldts künstlerische Verwandtschaft mit Cézanne, Klee und Co., liefert dafür jedoch keine Argumente außer Quedenfeldts hypertropher Auto-Emphase. Nicht mal die wohlwollendsten Kritiker seiner Zeit stellten seine Arbeiten auf eine Stufe mit Cézannes Bildern der Montagne Sainte Victoire oder Klees "Ad Parnassum".

Hier verbirgt sich der unsichtbare Elefant im Denk-Raum: Die künstlerisch wenig ansprechenden und überzeugenden Bilder, die Quedenfeldt nach seiner Erfindung der Erwinographik anfertigt.

Während man seiner "subjektive Dokumentarfotografie" vom Niederrhein zugute halten kann, dass ihre Verbreitung darunter litt, im Vergleich zu Eugene Atgets Arbeiten nicht in Paris, der "Hauptstadt des 19. Jahrhunderts" (Benjamin), sondern in kleinstädtischen Idyllen des Rheinlands angesiedelt zu sein, empfinde ich seine späten Arbeiten nicht anders als ein zeitgenössischer Kritiker als "hohl und hölzern". Im Vergleich zu  fototechnisch und -theoretisch "simpleren", dabei ungleich verspielteren, sinnlicheren, visuell überraschenderen Arbeiten von Man Ray, Moholy-Nagy oder Hajek-Halke sind sie ohne jeden Verve, ohne jeden Witz, ohne jede Wucht, ohne jede Funken sprühende, innovatorische Geste - aber auch nicht das konsequente Gegenteil davon.

Alles in allem sind sie Zeugnisse für jene Art von theorie- und  diskurslastiger, "professoraler Kunst" (ein Beispiel etwa hier), wie sie gerade für den deutschen Beamtenkunstbetrieb der Fotografie alles andere als unüblich ist. Das eine oder andere dieser Art gab's kürzlich etwa in der Ausstellung "Expect the Unexpected" im Kunstmuseum Bonn zu besichtigen, und auch von der Ausstellung des Kollektivs "Darktaxa" im Rahmen des Festivals Fotografischer Bilder in Regensburg kann man partiell Ähnliches erwarten.

Somit, liebe LeserInnen, beenden wir diese foto-eskapistische Übung und kehren wieder in unseren Alttag zurück in der Hoffung, dass er Lichtblicke zu bieten hat wie den Ausgang der Wahl in Polen.

truschner.fotolot@perlentaucher.de





Irmgard Siebert
: Erwin Quedenfeldt. 778 Seiten, 14 x 22 cm, Soft Cover. Klostermann Verlag, Frankfurt am Main 2022, 78 Euro. ISBN: 3465045785