Im Kino

Sie kann auch bösartig

Die Filmkolumne. Von Michael Kienzl, Robert Wagner
11.11.2020. Zwei Horrorfilme sind anzuzeigen: Natalie Erika James führt mit "Relic" in den Albtraum einer Demenzerkrankung. In Jean Rollins "Die Nacht der Gejagten" endet eine unbegreifliche Drohung in totaler Zerstörung und - mit zwei Händen, die sich aneinander festhalten.


Entschuldigend erklärt Kay (Emily Mortimer) dem Polizisten, dass sie sich schon seit Wochen nicht mehr bei ihrer Mutter gemeldet hat. Es gab unheimlich viel Arbeit, er wisse ja sicher wie das ist. Drei Tage ist die demente Edna (Robyn Nevin) bereits verschwunden, weshalb Kay mit ihrer Tochter Sam (Bella Heathcote) extra aus Melbourne in die Provinz gereist ist. Es wirkt, als wären die beiden aus Bequemlichkeit schon eine ganze Weile nicht mehr in dem alten, mittlerweile leicht vermoderten Landhaus gewesen. Bestimmt, aber auch zögerlich bewegen sie sich durch die zugerümpelten und schummrigen Räume. Zwar legen die vergilbten Tapeten und altmodischen Lampenschirme nahe, dass sich über die Jahre wenig geändert hat, aber man merkt der angespannten Körperhaltung der Frauen an, wie unwohl sie sich hier fühlen. Etwas später hat Kay gründlich aufgeräumt und sich den Ort ihrer Kindheit wieder ein wenig angeeignet. Dann steht auch Edna plötzlich wieder vor ihr; mit nackten, wunden Füßen, einem seltsamen schwarzen Bluterguss und keinerlei Erinnerung daran, wo sie war.

Das Horror-Familiendrama "Relic" widmet sich dem Unbehagen, das entsteht, wenn einem Vertrautes auf einmal fremd wird. Regisseurin Natalie Erika James zeigt sich dabei weniger an einem geradlinigen Genreprogramm interessiert, als an den Feinheiten zwischenmenschlicher Beziehungen und dem Auskosten von Stimmungen, die jederzeit ins Bedrohliche kippen können. Langsam und geschmeidig schweift die Kamera durch die zur Gruselkulisse geronnenen Wohnräume, während das subtil knarzende und fiepende Sounddesign nichts Gutes ahnen lässt. Die Bedrohung bleibt, abgesehen von ein paar Schatten und rumpelnden Geräuschen, lange diffus. Vielmehr scheint sich in Ednas Haus die Scheu dreier Generationen vor Wahrheit und Veränderung zu bündeln. James findet dafür ein schönes Detail: Ein zum Putzen verrückter Wohnzimmertisch wird wieder genau in jene tiefe Kuhle justiert, die er über Jahrzehnte im Teppich hinterlassen hat.



Kay reagiert überfordert auf die Demenz ihrer Mutter und will sie in eine Seniorenresidenz abschieben. Sam spielt die Situation dagegen herunter, schlägt im Übermut vor, bei der Oma einzuziehen und bereut es schon wenig später. Denn Edna ist streckenweise nicht nur etwas verwirrt, sie kann auch bösartig und gewalttätig werden. "Relic" übersetzt diese Unberechenbarkeit in eine Horrorfilm-Sprache. "It's here" heißt es auf einem der überall im Haus verteilten Erinnerungs-Post-its, und auch wenn sich einiges allegorisch deuten lässt, bleibt dieses "It" unscharf genug, um den Horror nicht zur reinen Illustration eines Alltagsdramas zu degradieren. Der zunehmende Verfall macht vor Ednas Körper ebenso wenig Halt wie vor dem Haus, auf dessen Wänden sich schwarze Schimmelflecken ausbreiten. Dabei ist das, was sich hier mit der Zeit materialisiert, vielleicht weniger die Demenz als die alles verschlingende Angst, die diese Krankheit bei den drei Frauen erst ausgelöst hat.

Der Film ist eher langsam, aber von einer einnehmenden Grundspannung durchsetzt. James erzählt von Entfremdung und Annäherung, von schönen und quälenden Erinnerungen, von familiärer Verantwortung und persönlichem Freiheitsdrang. Selbst im ungeschönten Blick auf den Zerfall steckt noch ein gewisser Trost. Als Kay am Klavier sitzt, um Beethovens "Für Elise" zu spielen - so wie Edna ihr es einst beigebracht hat - und dabei wiederholt eine falsche Note anschlägt, erscheint plötzlich Sam und korrigiert sie. Die Hoffnung, die in diesem Moment steckt, zieht sich durch den ganzen Film: Jede Generation kann die vorhergehende nicht nur unterstützen, sondern auch aus ihren Fehlern lernen.

Kay berichtet einmal von einer Hütte, die sich früher auf dem Anwesen befand. Ihr Urgroßvater wurde dahin zum Sterben abgeschoben und die Flashbacks, die sie heute noch heimsuchen sind furchterregend. Sam hat ihr Urteil dazu schnell gesprochen: Wer dir als Kind die Windeln gewechselt hat, dem wechselst du sie eben im Alter. "Relic" findet dagegen einen Umgang mit Krankheit und Tod, der jenseits von lähmendem Schrecken und allzu naiven Lösungen ist: Man muss sich dem Monströsen stellen. Das Abziehen verdörrter Haut wird im Film zum ultimativen Liebesbeweis, der ekligste Moment zugleich zum berührendsten.

Michael Kienzl

Relic - USA 2020 - Regie: Natalie Erika James - Darsteller: Emily Mortimer, Ryobyn Nevin, Bella Heathcote, Steve Rodgers - Laufzeit: 89 Minuten. "Relic" bei justwatch.

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Der Auftakt ist Robert Aldrichs Film Noir "Rattennest" entliehen. Dieser beginnt mit einer Frau, die im Trenchcoat auf einer Straße durch die Nacht irrt und sich vor ein Auto wirft, um es zum Anhalten zu zwingen. Es folgt der Vorspann. Hier nun sehen wir ein Auto, das, vom Vorspann begleitet, durch die Nacht fährt - bis eine Frau im Nachthemd verloren am Straßenrand steht. Von diesen spiegelverkehrten Absprungpunkten aus entfalten sich zwei Filme, die unterschiedlicher kaum sein könnten. Statt einem getriebenen Mann, der eiskalt hinter Profit und einem der großen Rätsel der Filmgeschichte her ist, haben wir es in "Night of the Hunted" mit einer Frau (Brigitte Lahaie als Elysabeth) zu tun, der die Welt schon zwischen den Händen zerronnen ist. Ihr Gedächtnis ist derart geschädigt, dass ihr jedes Geschehnis nach wenigen Minuten schon wieder entfallen ist. Ohne Vergangenheit, völlig auf eine paranoide Gegenwart zurückgeworfen, schwankt sie in Richtung Zukunft.

Hier schon zeigt sich, dass wir es mit einem Fremdkörper im Werk des Regisseurs Jean Rollin zu tun haben. Bestimmen sonst Memorabilien, muffige Dekors und andere Marker von Vergangenem die alten Villen, Schlösser und Friedhöfe, in denen seine Filme zumeist spielen, da finden sich hier spiegelglatte Korridore, leere Zimmer und schnörkellose moderne Architektur. Der epidemische Gedächtnisverlust des Films wird so in eine Optik transformiert, die nichts Greifbares bietet. Das Fantastische der Rollin-Filme, tief im Expressionismus verwurzelt, ist in seinem Werk für Gewöhnlich ein Echo von etwas Versunkenem und/oder Geschichtsträchtigem. In diesem Film von 1980 ist es aktuell und materialistisch. Lediglich das Hier und Jetzt wird einem geboten. Aber gerade durch diese Abweichung wird die große Sehnsucht der Filme Rollins umso deutlicher.

Dem jungen Jean Rollin wurden Gutenachtgeschichten von Georges Bataille, einem Freund seines Vaters, vorgelesen. Ein Schriftsteller und Philosoph, der von Mystik, Erotik und Gewalt besessen war, von Surrealem und Irrationalem, von den Dingen, die nicht ins Bild der Gesellschaft von sich selbst passen oder aus diesen verdrängt werden; ein solcher Vorleser entfacht natürlich die Phantasie. Süße Schauer könnte der Junge gespürt haben, Schauer, die retrospektiv liebgewonnene Erinnerungen wurden, wie es nur der Grusel aus der Kindheit zu werden vermag. Wohlige Sehnsuchtsorte einer verlorenen Naivität. Wie sehr Rollin tatsächlich von diesen Dingen geprägt wurde, ist letztlich nicht ausschlaggebend. Als Bild passt es perfekt. Die Vampire und Phantome, das Zwielicht und das Fremdartige, der Tod und das Leben nach ihm, beziehungsweise dessen Ausbleiben, die ständige, nicht im sexuellen Sinne fetischisierte Wiederkehr ein und desselben Strands, von Grabmählern, Zwillingen, Amuletten, Clowns oder Rollkragenpullovern: All das ist nicht dazu da, um zu gruseln, sondern wird zum Ausdruck eines Verlangens nach einer zuweilen absonderlichen Geborgenheit, die tiefgreifend mit Alter verbunden ist.



In "Night of the Hunted" fehlen nun die Marker des Nostalgischen und des aus der Zeit Gefallenen weitgehend. Sporadisch gibt es kleine Aufbegehren der Ornamente gegen die teflonbeschichtete Glätte des Handlungsort, einer Anstalt. Nachdem der Autofahrer Robert (Alain Duclos) Elysabeth aufgelesen hat und ihr recht ruppig (zu sich nach Hause) hilft, schlafen die beiden miteinander. Umgeben sind sie von einem Arsenal von Topfpflanzen. In warme Farben und anschmiegsame Musik werden sie getaucht. Doch die Musik bricht ad hoc ab und Robert verschwindet nach dem vollzogenen Koitus. Er muss auf Arbeit. Die Tür öffnet sich umgehend wieder und statt dem Retter tauchen bewaffnete Entführer auf, welche die alleingelassene Elysabeth in ein schwarzes Hochhaus mitnehmen. Dort wird sie gemeinsam mit anderen Insassen festgehalten, für welche die Etage bereits ein Irrgarten ist. Falls sie überhaupt noch in der Lage sind, ihre motorischen Fähigkeiten abzurufen. Vertrauliche Beziehungen werden auch hier von Topfpflanzen überlagert, welche der klaustrophobischen Leere etwas Organisches entgegensetzen.

Die Erzählung ist insofern typisch für Rollin, als sie sich sehr wenig aus Dramaturgie, einer straffen Geschichte oder einem Realitätseindruck ohne Anschlussfehler macht. Gerade das Fehlen des Greifbaren macht die Atmosphäre des Films aus. Elysabeth schweift umher. Sie versucht zu verstehen, was mit ihr passiert, ob sie Opfer von Experimenten ist oder ob die Ärzte ihr helfen wollen. Sie macht Bekanntschaften, schöpft Hoffnung, erlebt brutale Selbstmorde. Andere Insassen werden sexuell missbraucht oder fallen übereinander her. Es gleicht Wellenbewegungen, die Körper und Geister der Insassen werden abwechselnd von einem Tasten Richtung Zuneigung und asozialer Zerstörungswut erfasst. Über allem thront die Stimmung völliger Verlorenheit. Das Vegetieren in diesem Hochhaus, in dem höchstens richtungslose Betriebsamkeit herrscht, macht aus der scheiternden Suche nach Wärme etwas Bedrückendes. Oder anders: Im Fehlen des Angestaubten gehen das Lebendige und die Wärme verloren. In diesem einen Rollin-Film herrscht dann doch einmal der blanke Horror.



Mitte der 70er Jahre hatte Jean Rollin zwei schwere Enttäuschungen erlebt. Mit "Phantasmes" hatte er einen ambitionierten Film gedreht, der seine Filmkunst mit Hardcorepornografie, die gerade in die Mitte der Gesellschaft zu dringen schien, vereinen sollte. Es sollte der einzige seiner Pornos bleiben - er kurbelte nebenher zwecks Geldverdienst einige weitere herunter und überließ den Dreh der Sexszenen gerne seinen Assistenten - der nicht unter Pseudonym veröffentlicht wurde. Schnell musste er feststellen, dass sich die Zuschauer in den entsprechenden Kinos nur für den Sex interessierten. Schlimmer war für ihn, dass kurz zuvor einer seiner Filme - "Lèvres de sang" - von den Produzenten zu einem Porno umgearbeitet und als "Suce-Moi Vampire" ("Suck me Vampire") neu verwertet wurde. Nach diesen Erfahrungen verschwanden die vorher omnipräsenten Vampire bis in die Neunziger aus seinem Werk, es folgte eine dreijährige Pause, und die darauf folgenden Filme zeugten mit ihrer grafischen Gewalt oder eben mit ihrer Klaustrophobie davon, wie mitgenommen Rollin war.

"Night of the Hunted" war zunächst ebenfalls als Porno geplant. Da aber in Frankreich zu der Zeit der Steuersatz für Hardcoreproduktionen drastisch erhöht wurde, versprach Rollin den Produzenten, mit dem gleichen Budget einen Genrefilm zu fertigen. Er hatte für den Dreh kaum Zeit und war mit dem Ergebnis äußerst unzufrieden. Und doch macht gerade der Bruch mit seinem persönlichen Stil "Night of the Hunted" zu einem seiner persönlichsten Werke: der Film eines totalen Verlusts. Innerhalb der Geschichte wird dieser Verlust durch die Atomkraft begründet, weshalb am Ende auch Aldrichs "Rattennest" und dessen apokalyptisches Finale wiederkehrt. Doch wo beim Vorläufer eine monumentale Zerstörung wartet, endet Rollin mit zwei Händen, die sich aneinander festhalten. Der denkbar hoffnungsloseste Moment ist gleichzeitig einer seiner zärtlichsten. Das Kino Rollins kann sich selbst hier nicht verleugnen, es ist eines von unverbesserlichen Träumern.

Robert Wagner

Die Nacht der Gejagten - Frankreich 1980 - OT: La nuit des traquées - Regie: Jean Rollin - Darsteller: Brigitte Lahaie, Alain Duclos, Dominique Journet, Bernard Papineau, Rachel Mhas, Cathy Stewart - Laufzeit: 87 Minuten. Der Film erscheint voraussichtlich am 13.11. auf Französisch und Deutsch, aber unter dem amerikanischen Titel "Night of the Hunted" bei donau film als BluRay und DVD.