Im Kino

Über das Unaussprechliche

Die Filmkolumne. Von Olga Baruk, Jochen Werner
18.11.2020. In Patric Chihas filmischer Doku "Brüder der Nacht" entwerfen Roma-Jungs, die in Deutschland als Stricher Geld für ihre Familien in Bulgarien verdienen, ein wackeliges Selbstbild. Biene Pilavci sucht mit ihrer Doku "Alleine Tanzen" nach Erklärungen für die Familienhölle, in der sie und ihre Geschwister aufwuchsen.


Diese jungen Männer sind Matrosen der Nacht, gestrandet im Hafen von Wien. Aufenthalt auf unbestimmte Zeit, doch ist es fraglich, ob Zeit hier überhaupt als fester Anhaltspunkt taugt. Was sie tun, hat viel mit Warten zu tun, und Warten hat viel mit Rauchen zu tun. Zigaretten, eine nach der anderen, halten Stefan, Yonko, Vassili, Vasko, Asen, Nikolay und ihre Freunde wach und wachsam. Stefan ist der am meisten getriebene Charakter. Er raucht intensiv aus der Handfläche heraus und mustert nach jedem Zug seine Kippe. Diese Nacht hat kein Ende. Stillstehende Atmosphäre, durchsetzt von Verführung und Verzweiflung, von Ungezwungenheit und Anspannung. Wie die vielen Seitenflächen einer Discokugel blitzen unterschiedliche Männlichkeitsbilder im schillernd subtilen Spiel abwechselnd auf. "Brüder der Nacht" von Patric Chiha handelt von jungen Roma-Männern aus Bulgarien, die auf der Suche nach einem Job ein Tabu brechen und fortwährend Kompromisse mit sich selbst aushandeln. Ein Spektakel von Selbstliebe und Selbsthass, von Resignation und Eitelkeit.

Rüdiger heißt die Stricherbar, in der sie den österreichischen Freiern ihre sexuellen Dienste anbieten. Die Kabinen bleiben im Off. Noch weiter im Off, in Bulgarien, gibt es Ehefrauen und Kinder. Dort, wo die Protagonisten herkommen, heiratet man oft schon mit sechzehn. Die prekäre Traditionen und die Armut ihrer Familien treiben die Männer häufig in existenzielle Fallen, wie zum Beispiel diese in Wien. Sie beschaffen das Geld, versorgen die Verwandtschaft und nehmen an dem Leben "dort drüben" ansonsten so gut wie gar nicht teil. Ein Film ganz ohne Frauen, auch geredet wird über sie kaum. Was es stattdessen gibt: viel naiv vulgäres Zeug über Potenz und Wohlstandsträume. Hundert, hundertfünfzig Euro, darunter hat es natürlich noch niemand getan - die Jungs übertreiben gern, wenn sie über ihre Blowjob-Tarife berichten. Im repetitiven Charakter dieser Gespräche wird die Frustration spürbar.



"Brüder der Nacht" wurde 2016 auf der Duisburger Filmwoche mit dem 3sat-Dokumentarfilmpreis ausgezeichnet. Als eine Reise vom Dokumentar- zum Spiel- zum Dokumentarfilm bezeichnet der aus Österreich stammende Patric Chiha die Arbeit am Projekt. "Brüder der Nacht" hat auch etwas von einem Theaterstück. Von Rainer Werner Fassbinders "Querelle" leiht Chiha Matrosenmützen, das ästhetische Programm und die zwischen allen Extremen changierende Stimmung. "Querelle", der nach einem Ausdruck für homosexuelle Liebe strebte, war dreckig, sublim und derart mit Verlangen geladen, als stünden seine Bilderwelten kurz vor der Explosion. Die artifiziellen Tableaus, alles Pappmaché und ohne Himmel, weichgezeichnet und mit dem Orange eines infernalischen Sonnenuntergangs gefärbt. Todessehnsucht. In "Brüder der Nacht" schillert die Donau im Licht der Straßenlaternen prachtvoll zwielichtig. In lila Halbdunkel und in Kunstnebel getaucht, wirken die artifiziellen Settings des Films warm wie kalt. Hinreißende Bilder, in denen kaum etwas geschieht, und doch sehr viel.

Meist wird Billard gespielt, getanzt, getrunken, auf Sofas gelegen. Storys werden erzählt, Herzen ausgeschüttet. Ein Film mit seinen Figuren, nicht über sie. Patric Chiha lässt die Dargestellten zu Darstellern ihrer selbst werden und an den Deutungen ihrer Lebensentwürfe arbeiten. Aus dem Diskussionsprotokoll der Duisburger Filmwoche erfährt man Interessantes über den Drehprozess. Die Vorgehensweise des Regisseurs bestand darin, "künstliche Räume zu schaffen, mit Licht, Bühne, Kostümen. Dann die Burschen einzuladen, vorbeizukommen, um zu trinken, zu essen, zu reden, sich zu verkleiden und Kino zu spielen, das heißt irgendwann vor die Kamera zu treten - oder auch nicht. Für ihr Erscheinen am Drehort bekamen die Burschen Bezahlung". Wie die Kamera von Klemens Hufnagl die jungen Gesichter filmt, ihre kurzen dunklen Haare, die gezupften Augenbrauen, die vollen Lippen. Götter der Nacht sind Stefan, Yonko, Vassili, Vasko, Asen, Nikolay und ihre Freunde. In ihren schwarzen Lederjacken glamourös, strahlend, wunderschön. Die Abwesenheit der Frauen bringt sie dazu, etwas Weiblichkeit aus sich selbst zu schöpfen. Sie rücken körperlich näher zusammen, ohne dass etwas geschieht. Ihre Freundschaft ist von Zärtlichkeit geprägt, aber auch von Eitelkeit und Rivalität. Sie hüten ein gemeinsames Geheimnis.

"Ich überlege ein bisschen und mache mich auf den Weg", sagt Stefan, während er wieder auf die brennende Zigarette in seiner Hand herunterschaut. "Welchen Weg willst du gehen?" - "Mal sehen, was ich tun werde". Gibt es für ihn einen Weg? Wie der Matrose Querelle sind diese Jungs möglicherweise "in danger of finding themselves".

Olga Baruk

Brüder der Nacht - Österreich 2016 - Regie: Patric Chiha - Laufzeit: 88 Minuten. "Brüder der Nacht" in der 3sat-Mediathek (verfügbar bis 10.12.2020).

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Die Mutter


Eine Erinnerung, hervorstechend unter vielen bösen, von Vernachlässigung und Gewalt geprägten Kindheitserinnerungen: Die älteste Tochter der Familie Pilavci, Ilknur, kommt zu spät aus dem Freibad nach Hause und wird von der Mutter Beyhan, wie so oft, brutal verprügelt. Als Ilknur sich losreißt, greift die Mutter in blinder Wut wahllos nach einem Gegenstand und wirft ihn nach ihrer Tochter. Diese stürzt zu Boden, getroffen von einem scharfen Messer, das eine klaffende Wunde schlägt und Ilknurs Lunge freilegt. "Ein Anblick, den ich nie vergessen werde: Eine rosa Traube bebender maiskorngroßer Kügelchen", so erinnert sich die Regisseurin Biene Pilavci in ihrem furchtlosen Dokumentarfilm "Alleine tanzen", der 2012 seine Premiere feierte und den Pilavci nun als kostenlosen Stream in ihrem Vimeo-Kanal zugänglich gemacht hat.

Pilavcis Geschichte ist die Geschichte einer Überlebenden. Nach einer besonders schlimmen Prügelattacke rieb sie sich im Alter von 12 Jahren die Haut mit Schleifpapier auf und wurde daraufhin vom Jugendamt in einem katholischen Mädchenheim untergebracht. Der Kontakt zum Rest der Familie ist fortan sporadisch, reißt zeitweilig auch ganz ab. Bis Pilavci, die inzwischen Regie an der dffb studiert, sich entschließt, den Kontakt wieder aufzunehmen, über das Unaussprechliche zu sprechen - mit der Kamera als Mittler, Begleiter, Unterstützer, vielleicht Schutzschild?

"An welchen Tagen blieb ich verschont?" "An zu vielen" Bienes Bruder und die Mutter.


In der Familie ist in den Jahren, seit Biene sie verließ, vieles geschehen. Der alkohol- und spielsüchtige Vater Mehmet wurde inhaftiert, unter anderem wegen Vergewaltigung in der Ehe - ein Vorwurf, den er bis heute bestreitet - und 2001 in die Türkei abgeschoben. Bienes Bruder Ali saß aufgrund von Drogendelikten im selben Gefängnis wie sein Vater und hat sich von seiner Mutter losgesagt. Diese ist geschieden und wirft ihren Töchtern und ihrem Sohn vor, ihr schlechte Kinder gewesen zu sein. Bienes Schwestern Ilknur, Samira und Esra haben ihre jeweils eigenen Wege gefunden, mit den körperlichen wie seelischen Wunden der Vergangenheit zurechtzukommen - und alle haben sich in einem Schweigen darüber arrangiert. Bis Biene zurückkommt.

Es ist ein kleines Wunder, dass alle Beteiligten sich bereit erklärt haben, an dieser Auslotung familiärer Traumata vor stetig laufender Kamera teilzunehmen. Mit Ablehnung nicht nur des Filmprojekts, sondern überhaupt des Aufwühlens von längst Verdrängtem hält jedenfalls niemand hinterm Berg, immer wieder attackieren Schwestern, Mutter und Bruder die verlorene Schwester scharf. Die Geschwister werfen ihr vor, sie mit den gewalttätigen Eltern allein gelassen zu haben, während Beyhan sich in die Verleugnung aller eigenen Schuld und die Fantasie, ihren Kindern eine gute Mutter gewesen zu sein, hinein flüchtet. Alle Schuld weist sie Vater Mehmet zu, unter dessen Brutalität sie ebenso litt wie die gemeinsamen Kinder - die sie aber auch ungehemmt an diesen abreagierte. Am Ende führt Biene Pilavcis Reise in die Familiengeschichte sie in die Türkei, nach Nevşehir, wo Mehmet eine neue Familie gegründet hat und einen Dönerimbiss betreibt. Auch dort: keine Sprache für das Geschehene, kein Schuldbewusstsein, nichts als Verdrängung und Schweigen.

Der Vater


"An meine Kindheit habe ich keine einzige glückliche Erinnerung", mit diesem Satz beginnt der französische Schriftsteller Édouard Louis sein Romandebüt "Das Ende von Eddy", und es ist einer jener Romananfänge, die man nicht mehr vergisst. In der schonungslosen Erforschung der Wunden und Traumata einer von Gewalt geprägten Kindheit steht Louis in der jüngeren Gegenwartsliteratur nicht allein. Von den Autobiografie mit Sozialgeschichte verschränkenden Büchern von Annie Ernaux und Didier Eribon über Emmanuel Carrères hybride Auto-/Fremdbiografien bis zum monumentalen, fünftausendseitigen Romanzyklus Karl Ove Knausgårds wählten viele der aufregendsten Bücher der letzten Jahr(zehnt)e den geschärften Blick auf das Intime, Persönliche, den autobiografischen Pakt mit dem Leser; vielleicht gerade, um aus der Beglaubigung dieses radikal Privaten eine überindividuelle Ebene zu erreichen.

In Verwandtschaft zu diesen im Rückgriff auf das Autobiografische einander ähnelnden und doch so unterschiedlichen Büchern lässt sich vielleicht auch Biene Pilavcis Filmautorenschaft greifbar machen: "Wie konnte ich mich nur auf das Abenteuer Familie einlassen", fragt Pilavci am Ende des Films, und stellt resigniert fest: "Ich merke, dass ich nichts an der Realität ausrichten kann. Nicht mit diesem Film." Ebenso wie Biene Pilavci stehen wir am Ende ohne Antworten und Lösungen da. Keine Versöhnung, keine Klärung, so mutmaßen wir jedenfalls. Jedes Mitglied der Familie Pilavci lebt in der Gegenwart weiter, für die es sich entschieden hat. Biene Pilavci hat sich dafür entschieden, das Schweigen zu brechen, eine Sprache zu suchen, in der sie sagen kann: Dieses ist gewesen, und es ist ein Teil von mir.

Jochen Werner

Alleine Tanzen - Deutschland 2012 - Regie: Biene Pilavci, Laufzeit: 100 Minuten. "Alleine tanzen" kostenfrei auf Vimeo.