Im Kino

Geschmackvolle Tristesse

Die Filmkolumne. Von Thomas Groh, Elena Meilicke
03.04.2014. Ziemliches Unbehagen löst Lars von Triers "Nymphomaniac Vol.2" aus - aber nicht wegen der Sexszenen und der Blasphemie. Scott Coopers Soziopathenfilm "Auge um Auge" bietet zutiefst traurigen Männerstoff.


"Nymphomaniac Vol. 2" nimmt den Faden dort auf, wo "Nymphomaniac Vol. 1" aufgehört hatte, steht aber von Anfang an unter ganz anderer Prämisse. Ging es im ersten Teil um Joes unbändige Lust, wuchernd, vielgestaltig, anarchisch, so hat der zweite Teil ein anderes Problem: die Lust ist weg. Schluss, aus, vorbei: "I don't feel anything", hallt der Schrei vom Ende des ersten Teils herüber in den zweiten, in dem heitere Schlüpfrigkeit abgelöst wird von verzweifelter Getriebenheit. Deutlicher als zuvor gibt sich das Nymphomaninnen-Epos als Abschluss und Finale einer von Trier'schen Depressionstrilogie - gemeinsam mit "Antichrist" und "Melancholia" - zu erkennen.

In dem verzweifelten Versuch, irgendeine sexuelle Empfindung aus sich herauszupressen, greift Joe zu extremeren Mitteln und "gefährlichen Männern", wie sie sagt: sie probiert Sex zu dritt mit zwei afrikanischen Männern, deren Sprache sie nicht versteht, oder sadomasochistische Züchtigungen im hell erleuchteten Keller eines Neubaus, der aussieht wie eine perverse Behörde. Dabei schreibt sich die Faszination von "Nymphomaniac Vol. 1" für Zahlen und Quantifizierungen (3+5, man erinnert sich, war die Formel für Joes Entjungferung) fort: "Nymphomaniac Vol. 2" hat einen kalten und sachlichen Blick aufs Begehren und zerlegt sexuelle Erregung in eine Folge nüchtern beobachteter Handgriffe und Techniken: lange und regungslos schaut die Kamera dabei zu, wie Joe umständlich in die korrekte Züchtigungshaltung gebracht wird, welche Seile und Knoten dabei zum Einsatz kommen und wie trotz dieser Fixierung ein minimales Maß an Bewegung und damit Stimulation der Klitoris möglich ist.



Joes treuer Gesprächspartner und Zuhörer Seligman identifiziert den Knoten, der dieses komplizierte Manöver vollbringt, als einen "Prusik-Knoten": erfunden wurde der von einem Wiener Bergsteiger, dem es mit dessen Hilfe gelang, sich nach einem Unglück am Berg aus eigener Kraft vor dem Abgrund zu retten, ungefähr so, wie der Baron Münchhausen sich einst am eigenen Schopf aus dem Sumpf gezogen hatte. Die große Analogien- und Metaphernmaschinerie aus "Nymphomaniac Vol. 1" läuft weiter, aber sie hat ein wenig von ihrem Schwung verloren, stottert beizeiten ein wenig ziellos vor sich hin: "That was one of your weakest digressions", bemerkt Joe spitz zu Seligmans Prusik-Knoten-Geschichte. Ihre eigenen Analogien gehen mehr in die klassisch blasphemische Richtung: "Ostkirche und Westkirche" betitelt sie ein düsteres Kapitel ihrer Vita sexualis, an anderer Stelle verwechselt sie die berüchtigte römische Ur-Nymphomanin Valeria Messalina mit der Jungfrau Maria, und überhaupt stilisiert sie ihre eigene schmutzige Leidensgeschichte mehr und mehr nach dem Vorbild der Passion Christi.

Zielsicher sucht von Triers Film die Provokation und den Tabubruch, wobei die olle Blasphemie-Nummer wohl noch am wenigsten für Aufruhr sorgen dürfte (genauso wenig wie die Provokation durch expliziten Sex): been there, done that. Unbequemer, auch unangenehmer sind die säkularen Gebote und Tabus, die "Nymphomaniac Vol. 2" in durchaus selbstgerechter Weise zur Disposition stellt. Die Szene mit den zwei Afrikanern im Hotelzimmer, die in einen Streit geraten, den sie lautstark und mit lächerlich erigierten Penissen in einer für Jo und die meisten Zuschauer unverständlichen, ja nicht einmal identifizierbaren Sprache austragen, weckt natürlich beklommene Rassismus-Bedenken: Au weia, darf man sowas? Und ebenso natürlich ist der Film smart genug, diese Frage später wieder aufzunehmen und im Rahmen einer Political-Correctness-Diskussion zwischen Joe und Seligman selbstreflexiv zu wenden. Es wird dadurch ganz grundlegend unmöglich, den Film auf irgendeine Haltung oder Aussage festzunageln (in der Hinsicht ist er wirklich schlüpfrig), und gerade das bringt einen beim Zusehen immer wieder in die Zwickmühle, stiftet tiefes Unbehagen.

Elena Meilicke

Nymphomaniac Vol.2 - Dänemark 2013 - Regie: Lars von Trier - Darsteller: Charlotte Gainsbourg, Shia LaBeouf, Jamie Bell, Connie Nielsen, Uma Thurman, Willem Dafoe, Stacy Martin - Laufzeit: 123 Minuten.

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Vorspiel im Autokino: Auf der Leinwand die stählern monochromen U-Bahnbilder aus der Clive-Barker-Verfilmung "Midnight Meat Train", davor wie hypnotisiert in sich ruhend die Autos. Ein wuchtiges, in grobes Korn und diesig schimmernde Farben getauchtes Bild, das gleich zu Beginn die Parameter für den folgenden Film setzt: Von Anfang an sitzen wir hier im Kino, noch dazu im Autokino, dem symbolträchtigsten Ort für die kunstfernsten Vergnügen der Kinematografie, noch dazu in einem Horrorfilm. Dessen blutige Brutalität wird vom Geschehen vor der Leinwand sogleich noch übertrumpft: In einem Wagen sitzt Harlan DeGroat (Woody Harrelson), Soziopath von Gottes Gnaden und wahrhaftig stiernackige Verkörperung des dumpf um sich beißenden und schlagenden Bösen hienieden, den eine Petitesse derart in Rage bringt, dass er bald den Platz räumt, nicht ohne eindrucksvoll viehisch einen anderen Mann zu Fall gebracht zu haben. In seiner Lust an "Americana" und den angenehm ungebrochenen Texturen amerikanischer Hinterwäldler-Ästhetik beschwört "Auge um Auge" gleich in seinen ersten, dräuenden Bildern den Geist früherer, sehr roher Filmentwürfe des amerikanischen Kinos - vom White-Trash-Drama bis zum B-Picture der 70er Jahre.

Die Geschichte ist so souverän wie effektiv aus Versatzstücken der amerikanischen Provinzpoesie montiert: Es geht um illegale Fights in alten Fabrikhallen, um White-Trash-Drogenexzesse in Bruchbuden, um die Hinterzimmer wenig ansprechender Kneipen, in denen pomadige Typen wie John Petty (Willem Dafoe) die richtig schmierigen Geschäfte ablaufen lassen, um die verfallende Industrie, die zu besseren Zeiten ganze Landstriche und Familien in Lohn und Brot gehalten hat, um den Schmerz verlorener Liebe und schließlich um zwei Brüder, von denen der eine ein im Leben hoffnungslos gestrandeter, sich an die Gewalt verschwendender Kriegsveteran (Casey Affleck), der andere ein wegen Alkoholmissbrauchs mit Todesfolge verurteilter Ex-Knacki (Christian Bale) ist. Es geht um Schulden, Schuld und Sühne - schließlich auch um Rache, die in God's Own Country noch immer mit dem Gewehr geübt wird, um den Willen, einen Knast nie wieder von innen zu sehen, auch wenn es schließlich unausweichlich scheint. Existenzialistischer Pulp ganz ohne Augenzwinkern, von Regisseur Scott Cooper und Kameramann Masanobu Takayanagi in eine herbstlich kahle Farbpalette getaucht und mit viel Liebe für Rost in Szene gesetzt.



Ein Männerstoff mit großartig spielenden Männern in den Hauptrollen. Doch ein klein wenig wie früher bei Peckinpah wird das Männertum auch hier nicht in den Rang universeller Qualitäten erhoben - vielmehr wird kenntlich, welchen Strukturen und Mechanismen der Gewalt Männer sich - vielleicht sogar lustvoll - fügen, in was für eine Maschinerie sie sich zuweilen verstricken. Scott Cooper nimmt das alles durchaus ernst - sogar die poetischen Qualitäten - ohne sich allerdings zum einen bemüht und vorgekehrt davon zu distanzieren oder es zum anderen zu verherrlichen. Im Kern ist "Auge um Auge" ein zutiefst trauriger - wenn darin auch süßer - Film.

Gewiss ist da auch viel Qualitätshandwerk im Spiel. Mit Bedacht ist Cooper darauf aus, seine Erzählwelt bis ins Detail stimmig zu gestalten und den Interessen seines Publikums anzudienen: Wohin das Auge schaut - nichts als ausgesucht geschmackvolle Tristesse. Dennoch: Mit was für einer Liebe Cooper an seinen Stoff geht, was er aus seinem toll zusammengestellten Cast herausholt, mit welcher Konsequenz er seinen erwachsenen, unbedingt ernsthaften Slowburn-Hinterlands-Thriller minutiös aufbaut, um am Ende das Böse selbst auf denkbar böse Weise auf Kimme und Korn zu nehmen, das ringt einem schon deutlich mehr ab als nur Respekt.

Thomas Groh


Out of the Furnace (Auge um Auge) - USA 2013 - Regie: Scott Cooper - Darsteller: Woody Harrelson, Christian Bale, Casey Affleck, Zoe Saldana, Sam Shepard, Willem Dafoe, Forest Whitaker - Laufzeit: 116 Minuten.