Im Kino

Glitzer, Quatsch und Rififi

Die Filmkolumne. Von Jochen Werner
11.10.2023. Ein von seiner Familie misshandelter Junge wächst zum Hundeflüsterer heran. Luc Bessons ganz wunderbarer Genrefilm "Dogman" besticht durch ausgiebige Exkursionen in queere Melancholie und freudvollen Unfug. Vielleicht der Anfang von etwas Neuem im von Franchisepleiten gebeutelten Kino?


"Dogman" beginnt mit einer ungewöhnlichen Verhaftung. Ein von der Polizei angehaltener LKW, am Steuer ein blutüberströmter Mann in Make-up und Abendkleid, im Lagerraum unzählige Hunde. Die Geschichte dieses Douglas Munrow werden wir in den folgenden knapp zwei Stunden erfahren - aus seinem eigenen Munde, denn das Verhör des aufgegriffenen Verdächtigen, das den Charakter einer Lebensbeichte annimmt, bildet den Rahmen für den ganz wunderbaren neuen Film von Luc Besson. Dabei wird eine ganze Reihe von Stimmungs- und Tempo-, gar Genrewechseln aufgefahren, in der Eklektizität, die Besson in den 80er- und 90er-Jahren zum Kult- wie Erfolgsregisseur gemacht hat.

Zunächst einmal geht es tief in die Abgründe einer verstörenden Kindheitsgeschichte hinein. Von seinem gewalttätigen Vater und einem fanatisch religiösen, sadistischen Bruder geschlagen und gefoltert, geht der sensible Junge Douglas buchstäblich vor die Hunde. In den Zwinger zu ausgehungerten Kampfhunden gesperrt und somit symbolisch seiner Menschlichkeit beraubt, findet Douglas dort in Wahrheit erstmals Gemeinschaft - unter den Hunden, die zu seiner wahren Familie und schließlich auch zu einer Art Privatarmee werden. Denn der kurz vor seiner Befreiung aus dem familiären Gefängnis auch noch an den Rollstuhl gefesselte Außenseiter wird in den Jahren seiner Gefangenschaft selbst immer tierhafter - und schließlich zu einer Art Hundeflüsterer, der fast telepathisch mit den unzähligen Tieren zu kommunizieren scheint, denen er sein Leben widmet.

Um das Heim für herrenlose Hunde zu finanzieren, das er im Folgenden aufbaut, ist immer wieder Geld vonnöten - an dieser Stelle wird "Dogman" dann zeitweise zu einer Art Heist-Thriller, in dem anstelle der Klein- oder Großganoven der einschlägigen Genreklassiker die Raubzüge von perfekt dressierten Hundehorden durchgeführt werden. Du rififi chez les chiens. Diesen Coups wiederum kommt jemand auf die Schliche, was einen Handlungsstrang um einen Erpressungsversuch ins Spiel bringt. Irgendwann zwischendurch ist Douglas ein Schutzpatron der Nachbarschaft geworden, der sich um schutzgelderpressende Gangs kümmert. Die sind dann wieder auf Rache aus, und dann… "Dogman" ist ein Film, der sich formidabel im Modus des fortwährenden "und dann" nacherzählen lässt. In Stimmung und Plot schlägt er immer wieder Haken und Volten, mit einer Spielfreude, die ansteckend wirkt.



Und dann ist da auch noch dieser queere Handlungsstrang, denn seinen Platz unter den Menschen findet dieser ungewöhnliche, ambivalente (Anti-)Held ausgerechnet in einer Rolle als Drag Queen und Nachtclubperformer. In diesen Sequenzen bekommt Regisseur und Autor Luc Besson ausreichend Gelegenheit, seinen Hang zum stets etwas angeschrägten Glamour auszuleben - wer erinnert sich nicht an Chris Tuckers exzentrische Performance als Radiomoderator Ruby Rhod in "Das fünfte Element"? Derartige Höhen an Hysterizität erklimmt Caleb Landry Jones nicht - was in Anbetracht des Identifikationspotenzials mit seinem zumindest zeitweise sympathietragenden Protagonisten wohl auch kontraproduktiv gewesen wäre. Bessons auch und gerade in seinen großen Klassikern nie wegzuleugnende Neigung zu Glitzer, Quatsch und einer immer wieder leicht deplazierten und gerade deswegen umso charmanteren Grundalbernheit kommt in dieser bunten Tüte voll mit Diesem & Jenem jedoch aufs Schönste zum Ausdruck.

Gerade dieser mitunter etwas bizarre Mix aus Stimmungslagen und Handlungssträngen sorgt dafür, dass "Dogman" auf schöne Weise aus der Zeit gefallen wirkt. Man ist es nicht mehr gewohnt, dass Genrefilme sich mit derart idiosynkratischer Spielfreude, einem durchaus düster-zynischen Grundtonfall zum Trotz, ausgiebige Exkursionen in queere Melancholie oder freudvollen Unfug erlauben. Ein exaltierter Gary Oldman, der zu Beethovenmusik tänzelnd Massaker verübt, wie in Bessons Klassiker "Léon - Der Profi" - in David Finchers demnächst anlaufendem Hitman-Thriller "The Killer" oder irgendeinem anderen dieser kontemporären, stilistisch zumeist in allen Facetten von graugrünbraun gehaltenen Düstergenrestücke wäre das undenkbar.

Umso schöner wäre es, wenn einem lustvoll angeschrägten, so persönlichen wie stylishen Eurogenrethrillerdrama wie diesem einmal wieder ein Erfolg an der Kinokasse beschert wäre. Überdies noch einem Originalstoff, der nichts adaptiert, nichts rebootet und sich auch nicht als Origin Story einer Trilogie, Franchisereihe oder eines Shared Universe anbiedert. Vielleicht muss man die Zukunft des kommerziellen Kinos am Ende der Franchise-Ära vorerst als eine Phase der Restauration denken: als eine Reetablierung all jener (generischen) Erzählweisen, die das Kino ohne echte Not aufgegeben hat. Für sich stehende, persönliche Genrekinovisionen zu entwerfen, die keine Bestseller, keine Comicreihen und keine 40-50 Jahre alten Filmtrilogien adaptieren, das ist eine Fertigkeit, die wieder neu erlernt werden muss. Erfreulicherweise gibt es noch ein paar Altmeister wie Luc Besson, die an frühere Arbeiten anknüpfen - und damit hoffentlich die Flamme an eine neue Generation von Filmemacher*innen wie Zuschauer*innen weitergeben können.

Denn dass wir nun, da die jahrzehntlang konkurrenzlosen Rezepte von Franchise-, Comic-, Reboot- und Nostalgiekino müde geworden sind und, Flop um Flop, immer weniger funktionieren, am Beginn eines Zeitalters der Überraschungserfolge stehen, daran kann kaum Zweifel bestehen. Ob für "Dogman" die Zeit schon reif ist, sei dahingestellt. Aber vielleicht wird es ein Film wie "Dogman" sein, einer, der furchtlos idiosynkratisch ist und stylish und handwerklich gut erzählt, und einer, der auf gar keinen Fall ein Shared Cinematic Universe begründen wird.

Jochen Werner

Dogman - Frankreich 2023 - Regie: Luc Besson - Darsteller: Caleb Landry Jones, Jojo T. Gibbs, Christopher Denham, Clemens Schick, John Charles Aguilar, Grace Palma - Laufzeit: 113 Minuten.