Im Kino

Drang ins Allgemeine

Die Filmkolumne. Von Fabian Tietke
23.08.2023. Dominik Graf widmet sich in "Jeder schreibt für sich allein" den sehr unterschiedlichen Biografien von Schriftstellern im Nationalsozialismus. Sein Wille zur Komplexität ist dem Thema dabei nicht immer angemessen.


"Was ich gesehen habe, ist auch eine große Normalität." Nach Büchern über eine jüdische Familie in Galizien und der Geschichte seiner eigenen Familie hat es Anatol Regnier in seinem neuesten Buch "Jeder schreibt für sich allein" unter deutsche Schriftsteller im Nationalsozialismus verschlagen. Regniers Buch ist der Ausgangspunkt des gleichnamigen Dokumentarfilms von Dominik Graf, der vor zwei Jahren Erich Kästners Roman "Fabian" aus der Spätphase der Weimarer Republik verfilmt hat. Graf nimmt die Zuschauer_innen mit zu Stationen der Recherche Regniers - ins Literaturarchiv in Marbach, vor die Akademie der Künste in Berlin, an Stationen des Exils - und zeigt ihn im Gespräch.

Die Reise in die Finsternisse deutscher Literaturgeschichte beginnt mit Gottfried Benns Anbiederung an die Nationalsozialisten kurz nach der Machtübertragung 1933. Benn sieht in den neuen Machthabern einen konservativen Neuanfang, dem er postwendend in einem Essay mit dem Titel "Der neue Staat und die Intellektuellen" huldigt. Als Exilanten wie Klaus Mann Benn mit den Abgründen seines Opportunismus konfrontierten, geiferte er gegen diejenigen, die es vorzogen, sich nicht in Deutschland totschlagen zu lassen: "Verstehen sie doch endlich dort an ihrem lateinischen Meer, dass es sich bei den Vorgängen in Deutschland gar nicht um politische Kniffe handelt, die man in der bekannten dialektischen Manier verdrehen und zerreden könnte, sondern es handelt sich um das Hervortreten eines neuen biologischen Typs." Als die Nazis wenig später das Interesse an Benn verloren, wurde er Arzt in der Wehrmacht, inszenierte sich zum Kriegsende als geschmäht und machte in der frühen Bundesrepublik ungebrochen Karriere.

Erich Kästner hingegen sah im Mai 1933 zu, wie Studierende der Berliner Universität bei der von ihnen organisierten Bücherverbrennung auch seine Bücher ins Feuer warfen. Als er erkannt wurde, ging er, verließ das Land jedoch nicht. Anders als die Bücher vieler von Kästners Kolleg_innen konnten seine Bücher jedoch bis Anfang der 1940er Jahre in der Schweiz erscheinen und Kästner zwar nicht unter eigenem Namen, aber doch unter Pseudonym eingeschränkt weiterarbeiten - am bekanntesten ist sein Drehbuch zu Josef von Bákys "Münchhausen" (1943).

Benn und Kästner stehen in Grafs Film für zwei Modelle, sich zum Nationalsozialismus zu verhalten - mit zwei sehr unterschiedlichen Ergebnissen auch für die Nachkriegszeit. Vor allem der Teil des Films, der sich Kästner widmet, zeigt die ganze Komplexität derjenigen, die sich entschieden haben, in Deutschland zu bleiben (und sich dafür entscheiden konnten, ohne mit großer Wahrscheinlichkeit ermordet zu werden).

In Interviews anlässlich der Präsentation des Films auf der diesjährigen Woche der Kritik hat Graf darauf verwiesen, dass "Jeder schreibt für sich allein" wie alle seine Dokumentarfilme um eine Annäherung an die Bundesrepublik ringe und zugleich betont, die Auswahl der Biographien sei modellhaft gewesen. Für Benn und Kästner mag das stimmen und auch die Problematisierung von Frank Thiess' in apologetischer Absicht eingeführten Begriff der "inneren Emigration" ist lehrreich, aber hiernach folgen Episoden zu Jochen Klepper, Hans Fallada, Ina Seidel und Will Vesper, die deutlich knapper ausfallen und die nach der ausführlichen Behandlung der ersten beiden Beispiele auch deshalb nachrangig wirken, weil in ihnen das Fortwirken in der Nachkriegszeit weniger wichtig ist.



Graf ordnet die Beispiele vage entlang einer Chronologie von 1933 bis 1945 und dem zeitlichen Schwerpunkt in der jeweiligen Werkbiographie. Diese Gliederung versucht zumindest, der Episodenhaftigkeit des biographischen Nebeneinander des Films entgegenzuwirken. "Jeder schreibt für sich allein" wirkt insgesamt seltsam unbeweglich, was vermutlich an der Perspektivarmut der Gesprächspartner_innen liegt, die sich Graf und Regnier gesucht haben. Regnier, der Produzent Günter Rohrbach, der Sachbuchautor Florian Illies und der Lyriker und Literaturkritiker Albert von Schirnding liegen in vielen Punkten nah beieinander. Vor allem die Literaturkritikerin Julia Voss hebt sich davon ab, aber man hätte sich durchaus auch kritischere Stimmen hinsichtlich Grafs Willen zu Komplexität in dem Film gewünscht. Man kann ja durchaus darüber streiten, wie komplex Ranschmeißerei an den Nationalsozialismus ist.

Zu den großen Leistungen Grafs zählt die Bildgestaltung. Er entgeht gleich mehreren Fallen: Er löst Talking heads in einen Splitscreen aus jeweils zwei Bilder auf, eines zeigt die Person von vorne, ein zweites in der Regel von der Seite. Diese Anordnung verschafft Graf auch den Spielraum, eines der beiden Bilder für Kontextaufnahmen zu nutzen. Sehr weitgehend widersteht er der Versuchung des Reenactments, lediglich einige generische Hände an der Schreibmaschine haben ihren Weg in den Film doch noch gefunden. Eindrücklich ist auch, wie die Archivaufnahmen die Gesprächsthemen umspielen und kommentieren.

Das Enttäuschendste an Grafs Film ist sein Ende. Nachdem sich schließlich auch der Regisseur selbst der Meinung anschließt, dass alles zum Thema Literatur im Nationalsozialismus und der Ambivalenz von Biografien gesagt ist, was sich in einem ohnehin schon ausufernden Film sagen lässt, geben erst Regnier und später Graf dem_der Zuschauer_in überraschend beliebige Thesen zur RAF im Besonderen und dem Willen zur Eindeutigkeit im Allgemeinen mit auf den Weg. Schon den Thesen selbst muss man keineswegs zustimmen. Vor allem jedoch nimmt dieser Schwenk dem Film seine letzte Klammer. Wer den mäandernden Ausführungen bis hierhin gefolgt ist, hat dies vermutlich auch deshalb getan, weil "Jeder schreibt für sich allein" wie fast alle Filmen Grafs vor allem von Neugier getrieben zu sein schien. Diese Qualität beschädigt der Drang ins Allgemeine am Ende nachhaltig. Gut, dass bis zu diesem Sturzflug schon zweieinhalb höchst interessante Stunden vergangen sind.

Fabian Tietke

Jeder schreibt für sich allein. Schriftsteller im Nationalsozialismus - Deutschland 2023 - Regie: Dominik Graf - Laufzeit: 167 Minuten.