Im Kino

Eine Art Ursünde

Die Filmkolumne. Von Rajko Burchardt
29.11.2023. Bereitschaft, sich eigener Körperteile zu entledigen, muss schon gegeben sein, will man in der "Saw"-Horrorfilmserie reüssieren. Deren neuester Streich, Kevin Greuterts "Saw X", veranschaulicht ein weiteres Mal den schwarzen Humor der berüchtigten Reihe.


Würde man die relativ ungebrochene Beliebtheit der blutrünstigen, durch hundsgemeine Todesfallen und abscheuliche Foltermethoden charakterisierten "Saw"-Filmserie erklären wollen, müsste man möglicherweise dort anzusetzen, wo es jeden Eintrag der nunmehr zehn Teile umfassenden Reihe hin bzw. zurück verschlägt: Zu einer Art Ursünde, um deren fatale Folgen die große "Saw"-Erzählung kreist und von der aus sie regelmäßig von Neuem in alle Richtungen ausschert. Figuraler Dreh- und Angelpunkt des irrsinnig verworrenen Handlungsgeflechts ist ein ehemaliger Bauingenieur namens John Kramer, den das Publikum als im permanenten Unheilszustand befindlichen Defätisten kennen- und vermutlich sogar schätzen lernt. Immer wieder spielen die "Saw"-Filme alle Einzelheiten seines Leidensweges durch. Wie Kramers Frau durch einen Überfall das ungeborene Kind des Paares verliert und ihre Ehe diesen Schicksalsschlag nicht verkraftet, vor allem jedoch, wie John eine Hirntumordiagnose erhält, an der er endgültig zu zerbrechen droht. Nach einem Suizidversuch schöpft er, schwer verletzt, zwar neuen Lebenswillen, fällt jedoch unglücklicherweise auch dem Wahnsinn anheim. Die als Geschenk empfundene Nahtoderfahrung möchte der nun zum Richter sich aufschwingende Krebspatient weitergeben, indem er ahnungslose Menschen in eigens entwickelte und garantiert tödliche maschinelle Vorrichtungen zwingt. Entkommen können sie nur durch kurzfristige Bereitschaft, sich eigener Köperteile zu entledigen oder gar selbst zu Mördern zu werden. Gerechtfertigt sieht Kramer diese Barbarei einerseits als Mittel schwarzer Pädagogik: Alle Opfer des todgeweihten Jigsaw-Killers, wie ihn Strafverfolgung und Medien nennen, haben sich auf unterschiedliche Weise schuldig gemacht (als erstes geht ihm der drogenabhängige Mann in die Falle, der seine Ehefrau überfiel). Zudem sollen die "Spiele" an Selbsterhaltungsinstinkte appellieren und den unfreiwilligen Teilnehmern mehr oder weniger profunde Lektionen erteilen. Kramer glaubt, im Lichte des Todes könne der Wert des Lebens erstrahlen. Seine faschistoide Ideologie zielt auf Unterwerfung ab.

Hier greift jener böse Moralismus der "Saw"-Filme, der ihnen nebst Blut und Gedärm in der Vergangenheit zuverlässig Ärger mit (nicht nur deutschen) Jugendschutzbehörden und Rechtsprechungsorganen einbrachte. Immerhin präsentiert sich die reaktionäre Idee des gerechten Mordes als scheinbar abgemilderte Variante vorgeblich selbstverschuldeter Bestrafungsapparate, denen Kramers Opfer theoretisch entfliehen und praktisch doch nur erliegen können - eine trügerische zweite Chance für durch Justizmühlen gerutschte oder diesen gar nicht erst zugeführte Übeltäter. Was in der Tat problematisch und garstig klingt, seit zwei Jahrzehnten aber den speziellen Reiz der "Saw"-Reihe ausmacht: Die hochgradig genretaugliche und beliebig variierbare Prämisse spielt nicht zuletzt mit den eigenen Maßregelungsfantasien des Publikums und schwankt dabei zwischen amüsanter Beklopptheit und schauderlicher Triebreflexion. Anders gesagt, bereiten die "Saw"-Filme auf angemessen unangenehme Weise zweifelhafte Freude.

Weil die Produzenten zuletzt nicht mehr ganz auf ihr fieses Erfolgsrezept vertrauen, sondern es ausgerechnet mithilfe des Spaßvogels Chris Rock generalüberholen wollten, geriet "Saw: Spiral" 2021 zum ersten und leider gänzlich verdienten Verlustgeschäft der Serie - ein bizarr missratener Erneuerungsversuch, der beinahe schon ihr Ende besiegelte. Als Reaktion auf das Fiasko verschiebt der zehnte Film die große Erzählung jetzt wieder in Richtung Anfang, worauf sichdas  Franchisekino im Allgemeinen und "Saw"-Drehbücher im Besonderen ohnehin bestens verstehen. Für die in sich verwobene, seit jeher auf Plot-Hintertürchen setzende Reihe ist die Rückkehr John Kramers alias Jigsaw unvermeidlich - obwohl die Figur seit mittlerweile sieben Filmen tot ist! Während frühere Fortsetzungen manch absurden Haken schlagen mussten, um ihren Star trotzdem eine Schlüsselrolle spielen lassen zu können (vornehmlich durch Flashbacks und aufgezeichnete Videobotschaften), beschreitet "Saw X" sichere Prequel-Pfade und erzählt eine weitere Vorgeschichte des leidgeplagten Fallenstellers, um daraus sehr buchstäblich frisches Blut zu gewinnen.



Im Gewand eines vormals übersprungenen Kapitels soll "Saw X" rückwirkend zum Verbindungsglied zwischen erstem und zweitem Film werden. John Kramer, wieder verkörpert vom mittlerweile 81-jährigen Tobin Bell, reist für eine experimentelle Krebsbehandlung nach Mexiko-Stadt und fällt professionellen Betrügern zum Opfer, die ihm eine aufwändige Operation lediglich vorgaukeln. Um viel Geld und den letzten Funken Hoffnung erleichtert, knüpft Kramer sich die am Schwindel beteiligten Personen im bewährten Jigsaw-Modus vor. Man ahnte freilich nicht, dass zwischen "Saw", dem überraschend erfolgreichen Thriller von 2004, und dessen erster Fortsetzung "Saw II", in der Kramers logistisch komplexe Folterfallen zum Ausdruck eines dubiosen Wertesystems wurden, überhaupt eine Handlungslücke existierte, die geschlossen werden müsste. Seit jeher besticht die Reihe durch solche zeitlich und räumlich ungeradlinige, das Geschehen rekontextualisierende Abzweigungen, wozu nach Kramers Ableben insbesondere dessen frühere Gehilfen beitragen, die sein mörderisches Erbe mit recht unterschiedlichen Weltanschauungen verwalten.

Da sie ihre todkranke Hauptfigur vorzeitig aus dem Spiel genommen haben, sind die "Saw"-Filme notwendigerweise erfinderisch geworden: Wiederholt verschlägt es sie, um nicht vom Franchise-Maskottchen Jigsaw abrücken zu müssen, an bereits geläufige Handlungsorte, wo bekannte Szenen durch veränderte Betrachtungswinkel erweitert und teils ad absurdum geführt werden. Die große "Saw"-Erzählung ist unzuverlässig wie eine Erinnerung, ihre Figuren haben entscheidende Einzelheiten vergessen oder verdrängt, manchmal auch von Beginn an nicht deutlich gesehen - solange zumindest, bis eine weitere Rückblende kurzfristig Klarheit schafft. Unter Kramers Komplizen, die sowohl vor als auch nach seinem Tod wie aus dem Hut gezaubert wirken, kommt es fortlaufend zu Rivalitäten. An der Frage, wer Jigsaws Foltermaschinen durchlaufen und somit überhaupt eine Überlebenschance erhalten soll, entbrennen Quasi-Glaubenskämpfe um abweichende Auslegungen seines Todeskults. Manchen Weggefährten und Nachfolgern des Jigsaw-Killers werden die eigenen Allmachtsfantasien schließlich zum Verhängnis, sofern sie nicht ohnehin nur als ahnungslose Protagonisten fremder Planspiele auftraten.

Angesichts der fatalistischen Darstellung solcher von Hybris zerfressener Überzeugungstäter kann man erahnen, dass die Verantwortlichen der Filme ein durchaus hintersinniges Verhältnis zu den inkriminierten Fragwürdigkeiten der einst mit Kampfbegriffen wie "Torture Porn" belegten Reihe pflegen. Schon im dritten Teil enttäuschte Jigsaw-Jüngerin Amanda, die auch in "Saw X" zu sehen ist und erneut von Shawnee Smith gespielt wird, ihren Ziehvater durch eigenmächtige Grausamkeiten. Nicht nur sah Kramer sein um Ideen von Schuld und Sühne gestricktes Regelwerk missachtet (im neuen Film spricht er konkret von einer "Chance auf Wiedergutmachung"), auch die vorgebliche Richtigkeit des mörderischen Kodex war plötzlich in Zweifel gezogen. Schlüsselfigur Amanda schied daher früh aus dem Diesseits der Erzählung aus, bespielte jedoch ebenso wie Kramer fortan jene Rückblenden, die die Unwahrscheinlichkeiten der Handlung verstärken und für den blutbesudelten Spaß der Serie zentral sind. Mit Jigsaw gesprochen: Die hübsch trivialen, im Geiste des Grand Guignol fabulierenden Exzesse der "Saw"-Filme muss auskosten, wer ihrem schwarzen Humor nicht in die Falle gehen will.

Zwar tritt dieser Witz in "Saw X" zunächst weniger offen hervor als gewohnt. Der inhaltlichen Rückbesinnung wegen orientiert man sich größtenteils wieder am unheilvollen, etwas schwermütigen Ton des Originals. Doch dafür erweitert der neue Film das bekannte Schema der Reihe um eine Facette, die der moralinsauren Glaubensformel ihrer Hauptfigur noch deutlicher das Antlitz eines narzisstischen Wahns verleiht. John Kramers rein persönlicher Rachefeldzug gegen angebliche Wunderheiler verortet "Saw X" konkreter als bisher im Vigilanten-Kino, das traditionell von rechtschaffenen Männern erzählt, denen auf individueller wie systemischer Ebene übel mitgespielt wurde. Weil auch dieses Kino übel beleumundet ist, empfiehlt es sich als idealer Nährboden für die sinistren Machenschaften des Jigsaw-Killers und das vergiftete Identifikationsangebot, das die Reihe mit ihrem Antihelden zu machen versucht. Der böse Witz schlägt dann übrigens umso garstiger zu, in Form einer Gigli-Säge aus Stahldraht zum Beispiel, die Erinnerungen an Takashi Miikes "Audition" aufkommen lässt. Wer direkt weiß, worauf diese Referenz abzielt, dürfte über "Saw X" mindestens verschmitzt kichern können.

Rajko Burchardt

Saw X - USA 2023 - Regie: Kevin Greutert - Darsteller: Tobin Bell, Shawnee Smith, Synnøve Macody Lund, Steven Brand, Renata Vaca - Laufzeit: 118 Minuten.