Vorgeblättert

Gelbe Schmetterlinge

Von Michi Strausfeld
11.09.2019. Die Geschichte Mexikos lässt sich wie die der anderen lateinamerikanischen Länder durch die Romane und Geschichten seiner großen Autorinnen und Dichter erzählen. Es ist eine Geschichte der Gewalt, aber auch des Widerstands der Zivilgesellschaft. Vorabdruck aus dem Buch "Gelbe Schmetterlinge und die Herren Diktaturen".
Michi Strausfeld war jene Autorin, Wissenschaftlerin, Übersetzerin und Vermttlerin, die den Boom der lateinamerikanischen Literatur in Deutschland und Europa seit den siebziger Jahren durch ihre Begeisterung und ihr Wissen maßgeblich mit bewirkt hat. In ihrem Buch "Gelbe Schmetterlinge" erzählt sie, wie Literatur erzählt - die ganze Geschichte eines Kontinents. Wir danken Strausfeld und dem S. Fischer Verlag für die die Genehmigung zur Vorveröffentlichung des Mexiko-Kapitels. Am Sonntag um 12 Uhr stellt Strausfeld ihr Buch in James Simon Galerie auf der Berliner Museumsinsel vor. (D.Red.)

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"Ich bin Mexikaner und ich bin stolz darauf. Seit meiner Geburt verachte ich das Leben und den Tod."

Antonio Ortuño, Madrid, Mexiko


Ciudad de Mexiko, vormals Tenochtitlan, war die prachtvolle Metropole des riesigen Reiches der Azteken. Als die Spanier sie 1519 erreichten, hatten sie nie zuvor solchen Luxus und Wohlstand gesehen. Es gab schwimmende Gärten in Xochimilco, die Chinampas, und ein raffiniertes Wassersystem, das es den Bauern erlaubte, alles nur Vorstellbare auf den fruchtbaren Böden anzupflanzen und diese Vielfalt auf den Märkten anzubieten. Bernal Díaz del Castillo schwelgte darüber in seinen Erinnerungen, im Wahrhaften Bericht, er beschrieb das märchenhaft schöne Tenochtitlan voller Bewunderung. Damals war es die größte Stadt Amerikas, heute befindet sich hier der Großraum Ciudad de México mit mehr als 20 Millionen Einwohnern.

Systematisch schleiften die Spanier die Tempel und Paläste, und bald schon standen Kathedralen und Kolonialbauten an ihrer Stelle, errichtet mit den Steinen der Azteken. Bald vernachlässigten sie auch das ausgeklügelte Kanalisationssystem. 1535 wurde Mexiko-Tenochtitlan Hauptstadt des Vizekönigreichs Neuspanien und eine prunkvolle Metropole, denn man schmückte das Innere der Kirchen und Klöster mit den unerschöpflichen Silberschätzen des Landes. Die Versorgung der Bewohner konnte aber nicht mehr garantiert werden, so dass sie 1692 einen ersten großen Aufstand wagten. Der Vizekönig und der Klerus teilten sich die Macht, während die Indigenen unterdrückt wurden: Sie hatten keine Stimme, keine Rechte und waren dennoch nicht zu übersehen, denn in der Stadt und im ganzen Land erkannte man sie an ihrem Aussehen und hörte ihre Sprachen. Tempelruinen, gut erhaltene Pyramiden oder gewaltige Skulpturen erinnern die Bewohner von Ciudad de México an die drei Jahrhunderte lang für minderwertig geachtete prähispanische Kultur.

Carlos Fuentes hat sich immer wieder kritisch mit seiner Heimatstadt beschäftigt. In seinem ersten Roman, Landschaft in klarem Licht (1958), evoziert er noch die Schönheit der Stadt mit dem blauen Himmel, der den Blick auf die beiden schneebedeckten Vulkane erlaubt und lobt den "ewigen Frühling". Aber bereits damals sezierte er die bourgeoise Gesellschaft, die keine andere Traditionen pflegt als das Streben nach Gewinn und Macht. Sie ignoriert die eigene Vergangenheit und verachtet die "ungebildeten" Indigenen. Vom klaren Licht ist im heutigen Moloch nichts geblieben, die Vulkane sind fast immer unsichtbar und eine feste, gefährliche Smogschicht liegt über der Metropole. In Der Tod des Artemio Cruz (1962) ist der moralische Verfall der politischen Klasse, die oft mit Hilfe ungeahndeter Verbrechen – begünstigt durch die mexikanische Revolution – reich geworden war, das zentrale Thema. In der Hauptstadt liefen (und laufen) alle Fäden zusammen, hier werden die Intrigen um die Macht gesponnen, die Gegner ausgetrickst oder beseitigt, Karrieren geschmiedet. Davon erzählt dieser Roman, bei dem sich leicht ein Schaudern einstellt.

1968 schreckten die Mexikaner hoch: Auf dem "Platz der drei Kulturen ", Tlatelolco, setzte Präsident Gustavo Díaz Ordaz Truppen und Panzer gegen demonstrierende Studenten ein. Die genaue Zahl der Toten wurde nie eindeutig ermittelt, man spricht von einigen Hundert. Wegen dieses Massakers trat Octavio Paz von seinem Amt als Botschafter in Indien zurück und verfasste einen "Nachtrag" (Posdata) zu seinem Standardwerk Das Labyrinth der Einsamkeit. Scharf verurteilte er die Regierung und warf ihr "geistige und moralische Schwäche" sowie "ungenügende Entwicklung" vor. Über den Platz schrieb er: "Die Plaza de Tlatelolco ist geschichtsträchtiger Boden. Sie war ein berühmter Markt, den Bernal Díaz und Cortés eingehend und entzückt beschrieben haben. Während der Belagerung durch die Spanier war sie das letzte Bollwerk, das sich ergab. Tlatelolco ist eine der Wurzeln Mexikos: dort lehrten die Missionare die eingeborenen Adelssöhne klassische Sprachen […] dort begründete Sahagún das Studium der prähispanischen Kulturen. Aber Krone und Kirche unterbrachen jäh seine Bemühungen […] Spanien trennte uns von unserer indianischen Vergangenheit und damit sich selbst von uns."

Die Geschehnisse von Tlatelolco am 2. Oktober 1968 bleiben eine Zäsur, eine Wunde und ein nicht bewältigtes Trauma im Bewusstsein der Mexikaner. Die Regierung scheute nicht vor einem Massaker zurück, um vor den Olympischen Spielen das Bild einer friedlichen und prosperierenden Nation zu liefern – was nun definitiv gescheitert war. Elena Poniatowska verfasste einen aufwühlenden Bericht über La noche de Tlatelolco (1971), für den sie Teilnehmer und Angehörige interviewte sowie Fotos, Statements, Polizeidokumente und Zeitungsausschnitte verwendete. Ergebnis ist eine Collage authentischer Stimmen, mit der sie alle offiziellen Bemühungen vereitelte, den Vorfall zu bagatellisieren. Sie wollte den Opfern, darunter ihrem bei den Unruhen verstorbenen Bruder, Recht verschaffen und ein Verschweigen der Fakten verhindern. 50 Jahre später, 2018, haben Autoren in Sammelbänden noch einmal Bilanz gezogen und die Veränderungen, die die Ereignisse von 1968 für die Gesellschaft bedeuteten, aufgezeigt. Jorge Volpi legte eine umfangreiche Studie vor, in der er auf die intellektuellen Unruhen der Zeit eingeht. Er lobt die Stärke und Qualität der Presse, die Intensität und Ernsthaftigkeit der Debatten in den Zeitschriften und die Diskussionen über die Auswirkungen des Kalten Krieges und der weltweiten Studentenunruhen für Mexiko: La imaginación y el poder (Phantasie und Macht). Der Autor, 1968 geboren, sieht Parallelen zwischen der damaligen und heutigen Situation, denn die Gesellschaft stehe wieder an einem Wendepunkt.

Der Cervantes-Preisträger Fernando del Paso schildert in Palinurus von México (1977) die lange und leidenschaftliche Liebesbeziehung zwischen dem Erzähler Palinurus, einem Medizinstudenten, und seiner Kusine Stephanie. Er integriert eine Vielzahl von politischen Ereignissen der 1960er Jahre, dazu liefert er eine schier unüberschaubare Fülle von literarischen Anspielungen, klassischen und modernen Mythen, Bibelzitaten, Fakten aus diversen Wissenschaften und der Geschichte. Er vertritt die Auffassung, dass die "tote" Vergangenheit höchst lebendig ist und endlich aufgearbeitet werden muss. Der Studentenaufstand ist für ihn das exemplarische Ereignis, um die gesamtpolitischen Probleme des Landes aufzuzeigen, denn die Regierung tue "nichts und wieder nichts. Wir warten immer noch auf eine Antwort. Die wahren Agitatoren sind das Elend, die Unwissenheit und der Hunger. Wir Studenten haben uns zusammengeschlossen, um sie aus der Welt zu schaffen. " Das umfangreiche Werk ist sowohl sprachlich wie strukturell ein weiterer Versuch, einen "totalen Roman" vorzulegen, den auch andere Schriftsteller in diesen Jahren gewagt hatten.


Subcomandante Marcos und die Rebellion der Indigenen

Das nächste einschneidende Ereignis der jüngeren Geschichte war der Aufstand der Indigenen unter Führung von Subcomandante Marcos 1994 in der Provinz Chiapas. Die "zapatistische Armee der nationalen Befreiung" ( EZLN) berief sich auf das verratene Erbe von Emiliano Zapata, und der stets maskierte Anführer verlangte, dass die elementaren Grundrechte für alle Indigenen (die "Maisfrauen und Maismänner "), die noch immer nicht gewährleistet seien, endlich durchgesetzt würden. Man verlangte – wie damals Zapata – Land und Freiheit. Nach zehntägigen heftigen Kämpfen und der Vermittlung der Kirche zog sich die EZLN in die Berge des mexikanischen Südostens zurück.

Das Geheimnis um die Identität von Subcomandante Marcos konnte lange nicht geklärt werden. Inzwischen weiß man: Er ist ein Intellektueller, war Hochschullehrer. Seine politischen Botschaften aus dem Lakandonischen Urwald. Über den zapatistischen Aufstand in Mexiko oder die Geschichten vom Alten Antonio, dem verehrten Indianer und geistigen Ziehvater der EZLN, zeugen von literarischem Talent. Seine Schriften elektrisierten das Land und die Welt, denn viele teilten die Kritik von Marcos an der neoliberalen Globalisierung, die in Mexiko nach dem Abschluss des Freihandelsabkommens NAFTA 1994 mit den USA und Kanada intensiviert wurde und sich in vielen Bereichen negativ auswirkte. Sie hatten Sympathien für Marcos, der keine Macht für sich verlangte, sondern die Losung wiederholte: "Es ist nicht nötig, die Welt zu erobern. Es genügt, sie neu zu schaffen." (Botschaften) Das stand auch auf den Wänden der 1968er.

Endlich fiel der Blick der mexikanischen und der Weltöffentlichkeit auf die elenden Zustände in Chiapas. Daher ergriffen viele Intellektuelle (meist für und selten gegen ihn) Partei. Carlos Fuentes sprach in seinem Buch Mexikos neue Zeit vom "Erwachen. Chiapas 1994", versuchte Verständnis zu wecken und verlangte: "Das Drama [von Unrecht und Armut] in Chiapas anzuerkennen, politische Demokratie zuzulassen und dafür zu sorgen, dass gesellschaftlicher Fortschritt nicht in wirtschaftlicher Unterdrückung versickert oder von der politischen Repression hinweggefegt wird." Octavio Paz widmete dem "Phänomen Marcos" und dessen Bedeutung 1994 eine Ausgabe seiner Zeitschrift Vuelta und diagnostizierte: "Wenig Blut, viel Tinte." Er verurteilte die Gewalt sowohl der Regierung wie die der Aufständischen und machte die Kirche und Großgrundbesitzer für das Elend der Bevölkerung von Chiapas verantwortlich. Letztlich trügen alle Mexikaner Schuld an diesen unhaltbaren Zuständen.

Marcos meldete sich unregelmäßig zu Wort, aber immer verlangte er die Restituierung traditioneller Rechte und den Schutz der Indigenen. Seine Botschaften über Demokratie, Freiheit und Gerechtigkeit wurden in den Medien intensiv diskutiert. García Márquez und Roberto Pombo führten ein langes Interview mit ihm, das am 26. 3. 2001 in der Revista Cambio in Bogotá erschien. Dort verkündete Marcos, er sei 518 Jahre alt, genauso alt wie der Widerstand gegen die Kolonialisierung. Er analysierte den Neoliberalismus aus der Perspektive des lakandonischen Urwalds, sprach über Shakespeare im Urwald und verkündete, dass die Zapatisten Freiheit und Blumen bringen. Desgleichen erklärte er, warum die Jungfrau von Guadalupe, also Tonantzín, gemeinsam mit den Zapatisten durch den Urwald wandere. Er korrespondierte mit Carlos Fuentes, Elena Poniatowska, Eduardo Galeano oder John Berger. Seine oft poetischen Texte, die er im Internet bekanntmachte, wurden in vielen Ländern publiziert. 2004 untersuchte Jorge Volpi das Verhältnis der Intellektuellen zum Subcomandante in einem umfangreichen Essay, La guerra y las palabras. Una historia intelectual de 1994, denn der geheimnisumrankte Marcos faszinierte weiterhin breite Schichten der Bevölkerung. Als der Kommandant 2014 seinen Rücktritt auf der Homepage der EZLN verkündete, lautete seine Botschaft: "Es ist unsere Überzeugung und unsere Praxis, dass man für Rebellion und Kampf keine charismatischen Anführer oder Chefs braucht, keinen Messias und keinen Erlöser; um zu kämpfen braucht man nur ein bisschen Anstand, etwas Würde und viel Organisation." 20 Jahre hatte Marcos den mexikanischen Regierungen die immergleichen Forderungen der Indigenen gestellt: Sie wollten ihr Land zurück und es gemeinschaftlich bestellen, wie es ihre Tradition war; sie beharrten auf ihrer kulturellen Eigenständigkeit; sie verlangten ein menschenwürdiges Dasein. Einige Verbesserungen wurden erzielt, aber Chiapas zählt noch immer zu den ärmsten Regionen Mexikos, aus der die Menschen emigrieren (müssen).


Mexiko zwischen Imperialismus und Korruption

Die politischen und kulturellen Debatten in Mexiko waren vielfältig, lebendig und scharf, und sie wurden auf hohem Niveau geführt. Die Intellektuellen polemisierten und polarisierten, man befand sich schließlich im Kalten Krieg. Viele Studenten verteidigten Kuba und lobten den vorbildlichen Einsatz für Bildung und Gesundheit, gleichzeitig prangerten sie den Imperialismus der USA und seine politischen Einmischungen in Lateinamerika an. Auch Octavio Paz verurteilte ihn in "Lateinamerika und die Demokratie": "Ein fremdes Element … das zugleich den Zerfall [unserer Länder] beschleunigte und die Gewaltherrschaften festigte: der nordamerikanische Imperialismus […] die Vereinigten Staaten sind mitschuldig geworden […] sie haben die Zwiste zwischen den Ländern, den Parteien und den Anführern gefördert: sie haben mit Waffengewalt gedroht, und sie haben nicht gezögert, sie anzuwenden, wann immer sie ihre Interessen gefährdet sahen; und wie es ihnen gerade passte, haben sie die Aufstände unterstützt oder die Diktaturen gefestigt. Ihr Imperialismus war nicht ideologisch, die Motive ihrer Interventionen waren Erwägungen wirtschaftlicher Art sowie das Streben nach politischer Vorherrschaft. Aus allen diesen Gründen waren die Vereinigten Staaten eines der größten Hindernisse, auf das wir bei unseren Modernisierungsbemühungen stießen."

Als Paz 1984 den Friedenspreis des deutschen Buchhandels erhielt, publizierte Die Zeit den Essay "Ideologie und Realitäten: Mexiko und die Vereinigten Staaten". Darin beklagt der Dichter den "Hochmut der mächtigen Reichen und der reichen Mächte" und hält fest, "es ist keine Übertreibung, dass Ignoranz und Arroganz die nordamerikanische Haltung gegenüber Mexiko bestimmen". Paz war ein paradigmatischer Intellektueller, unermüdlich mischte er sich in die politischen Debatten ein – und förderte so die Streitkultur Mexikos. Seine Aufsätze aus zehn Jahren fasste er zusammen unter dem Titel Der menschenfreundliche Menschenfresser. Geschichte und Politik 1971 – 1980, posthum erschien eine breite Auswahl unter dem Titel Sueño en libertad (Traum in Freiheit) – genau ein Jahr, nachdem der Partido Revolucionario Institucional ( PRI) seine Macht verloren hatte und ein politischer Wandel möglich schien, den er stets verlangt hatte. In dieser Zusammenstellung wird deutlich, wie hellsichtig Paz die wechselnden Situationen Mexikos analysiert hatte: den korrupten Paternalismus des PRI, die mangelnde Intellektualität der neuen Regierungspartei PAN, die Fehler und Demagogie der Linken, die Struktur einer pluralistischen Gesellschaft. Das umfangreiche Gesamtwerk enthält etwa 1300 Seiten politische Schriften, El peregrino en su patria (Der Pilger in seiner Heimat). In den 1990er Jahren reklamierte Paz neue Antworten auf alte Fragen und verlangte von der Jugend, sie müsse die politische Philosophie in der Tradition des Liberalismus und Sozialismus aktualisieren und dürfe dabei nicht die Macht der Gefühle vergessen: Liebe, Hass, Neid, Interessen, Freundschaft, Treue.

In der Tat stritten die Studenten nach 1968 energisch für durchgreifende Veränderungen in ihrer Gesellschaft und in der Politik, die vom alleinherrschenden PRI geprägt war und deren Praxis der Präsidentennachfolge durch das Erheben des Zeigefingers – El dedazo – immer heftiger in Frage gestellt wurde. Mexiko erlebte nach der Revolution zwar keine weiteren Diktaturen, aber die Macht lag im Sechsjahreswechsel in den Händen der gleichen Partei, die potentielle Gegner rechtzeitig ausschalten konnte. Eine gewaltige Korruption breitete sich wie ein Krake aus und drang in alle Sektoren der Gesellschaft ein, insbesondere in die lukrative Erdölindustrie.

Darüber schrieb der Historiker, Journalist und Romancier Héctor Aguilar Camín einen packenden Politthriller (und Liebesroman), Der Kazike (1985). Ein mächtiger Gewerkschaftsführer im staatlichen Erdölbetrieb PEMEX, Lázaro Pizarro, und ein kleiner Provinzpolitiker, Francisco Rojano, streiten um den Besitz fruchtbaren Ackerlandes im Staat Veracruz. Beide gehören dem PRI an, sind verfeindet und doch Komplizen. Pizarro kontrolliert die Arbeiter paternalistisch, wie ein Kazike, aber er kann gut mit der Regierung verhandeln und wird deshalb geschätzt. Die Arbeiter bestellen freiwillig auch sein Land, denn diese Ernte können sie später günstiger erwerben als in den Geschäften, so lautet das Versprechen. Aber alles beruht auf Korruption, denn PEMEX bezahlte die Gewerkschaft für diese Arbeit, wie sich später herausstellt. Rojano träumt von einer politischen Karriere und kennt keine Skrupel, um das Ziel zu erreichen – wie in der mexikanischen Wirklichkeit. Aguilar Camín integriert aufschlussreiche Fakten und Daten, so dass sich der Leser ein genaues Bild vom Leben in der Erdölprovinz in den 1970er Jahren machen kann. Mit Verve und Ironie entlarvt er die Verlogenheiten und Absprachen der Macht.

1990 publizierte der Autor einen weiteren politischen Roman, La guerra de Galio (Der Krieg von Galio). Hier wird das politische System unter dem PRI noch gründlicher durchleuchtet und bloßgestellt. Der Protagonist ist ein Intellektueller, García Vigil, dessen Ehe gescheitert ist und der Affären mit mehreren Frauen hat. Wichtiger aber ist ihm die Politik, in deren Fallstricken er sich verfängt. Nach seinem Tod erhält ein Freund von einer langjährigen Geliebten Kisten voller Notizen, Briefe und Tagebuchaufzeichnungen und beginnt eine Recherche über sein Leben – das ist der vorliegende Roman. Im Vorwort heißt es: "Als Historiker habe ich gelernt, in den Neuerungen und Veränderungen bloße Verkleidungen der Vergangenheit zu sehen, die Gerissenheit der Tradition. Es genügt, eine empfindsame Hand auf die Steine von Monte Albán oder Palenque zu legen, um zu verstehen, dass unsere eigenen Städte und Errungenschaften auch künftige Ruinen sein werden. […] Ich hege also kein Vertrauen zur Gegenwart und ihrer höchsten, gänzlich sinnentleerten Form, dem Journalismus. Ich habe der Kolonialgeschichte Mexikos dreißig Jahre und zwölf Bücher gewidmet und kann sagen, dass ich dort mehr Erklärungen für die aktuellen Übel unseres Landes gefunden habe als im Register der täglichen Katastrophen, von denen die Zeitungen berichten." Galio führt dies als Entschuldigung an, um die nachfolgende Veränderung seiner Überzeugungen zu erklären, die ihn dazu führen, den Tod seines Schülers, "seiner Hoffnung" zu verstehen. Fünf Jahre lang braucht er, um alle Daten zu entschlüsseln und das Puzzle der Aktivitäten von García Vigil zusammenzusetzen. Das Ergebnis ist niederschmetternd, denn der Zynismus in der Politik zerstört jeden Idealismus. Der Roman Aguilar Camíns schildert die Suche seiner Generation, der revoltierenden Studenten, nach Freiheit, Liebe und Gerechtigkeit, und er betont die Bedeutung der Presse jener Jahre. Nach 1968 mussten politische Veränderungen erfolgen, ebenso ein Ende der Einheitsherrschaft des PRI.


Erdbeben und erstarkende Zivilgesellschaft

Das nächste Drama, das Mexiko erschütterte, war die gewaltige Schuldenkrise 1982, eine neue Wirtschaftspolitik wurde zur dringlichen Notwendigkeit. 1985 fand das größte Erdbeben in der Geschichte des Landes in der Metropole statt, das mehr als 10.000 Opfer forderte, mehr als 250.000 Menschen wurden obdachlos. Ganze Stadtviertel stürzten ein. Bevor die offizielle Hilfe die zerstörten Gebiete erreichte, leisteten die Bewohner selbst Erste Hilfe und versuchten, ohne adäquates Werkzeug Opfer aus den Trümmern zu bergen. Es war ein bewundernswerter Einsatz und markiert das Entstehen einer tatkräftigen Zivilgesellschaft. Autoren und Journalisten schrieben voller Anerkennung darüber, und Elena Poniatowska sammelte wieder Stimmen der Betroffenen, der Helfer und andere Zeugenaussagen, die sie im Bericht Nada, nadie (Nichts, niemand) vorlegte. Niemand sollte später behaupten, er habe nichts gewusst. Das Erdbeben war auch deshalb so verheerend, weil die Regierungen keine ausreichenden Kontrollen beim Bau der Häuser verlangt (oder sie durch Korruption außer Kraft gesetzt) hatten. Carlos Monsiváis analysierte rückblickend die Folgen der Katastrophe in No sin nosotros. Los días del terremoto 1985 – 2005 (Nicht ohne uns. Die Tage des Erdbebens 1985 – 2005) und lobte die Anstrengungen und Erfolge der Zivilgesellschaft, die inzwischen deutlich zugenommen und Veränderungen in vielen Bereichen erstritten hatte. Urbane, kirchliche, ökologische, indigene und feministische Bewegungen stärkten durch ihre Aktivitäten das Selbstbewusstsein der Mexikaner.

Wie eine Naturkatastrophe literarisch gestaltet werden kann, zeigt Yuri Herrera in Körperwanderung. Er lenkt das Augenmerk auf die angsterfüllte Atmosphäre in einer Megapolis, nachdem eine Epidemie ausgebrochen ist. Obwohl Mexiko-Stadt nicht genannt wird, denn dieser Albtraum mit apokalyptischem Beiklang könnte sich in vielen Millionenstädten ereignen, verweisen Kontext und Personen auf die Hauptstadt. Längst gehört die Violencia zum Alltag und bestimmt das Verhalten ihrer Bewohner. Im Roman wollen zwei verfeindete Familien jeweils den Mord eines jungen Familienmitglieds rächen: eine überzeugende Romeo-und-Julia-Geschichte vor Drogenhintergrund. Mit der tödlichen Plage bricht der ohnehin spärlich vorhandene Rest an Menschlichkeit zusammen, es gibt weder gesunde Luft noch genug Wasser oder ausreichend Nahrung. Die Stadt kollabiert, und der Protagonist zieht am Ende des schmalen, meisterhaft geschriebenen Romans eine bittere Bilanz: "Heutzutage stolpern wir alle naselang über einen leblosen Körper auf der Straße, wir können unmöglich so tun, als sähen wir ihn nicht." Das gilt leider nicht nur für die literarische Wirklichkeit.

2000 war wieder ein einschneidendes Datum in der Geschichte Mexikos. Zum einen verlor der PRI erstmals seine Hegemonialstellung, die rivalisierende Partei PAN gewann das Präsidentenamt – ein politisches Beben. Zum anderen fielen die letzten Zölle im Freihandelsabkommen NAFTA, dessen Vorteile für Mexiko von vielen Ökonomen bezweifelt werden. Die Landwirtschaft zählt eindeutig zu den Verlierern, denn die Bauern konnten nicht mehr mit den subventionierten Agrarprodukten aus den USA konkurrieren, daher verließen geschätzt eine Million Menschen ihre Dörfer. Inzwischen stellen die Mexikaner in den USA die größte Diaspora der Welt: etwa 36 Millionen, und die meisten emigrierten nach den Wirtschaftskrisen 1994/1995 und 2005. Dazu kommen die illegalen Einwanderer, 2015 waren es rund sechs Millionen. 27 Millionen Familien in der Heimat hingen 2017 von den Transfers ihrer Angehörigen ab. Zurück bleiben Gemeinden ohne Männer – und ohne Schutz der Regierung. Narco-Bosse drangen in diese Gebiete ein und errichteten ungehindert ihre Gewaltherrschaft.

Seit Beginn des neuen Jahrtausends hat sich die gesellschaftliche Situation dramatisch verschlechtert. Das Drogengeschäft verlagerte sich nach dem Tod von Pablo Escobar 1993 von Kolumbien in den Norden, und rivalisierende Mafiagruppen kontrollieren inzwischen weite Gebiete des Landes, in denen keine staatliche Ordnung mehr sichtbar ist. Die Zetas, das vermutlich mächtigste Kartell, operiert in mehr als 20 Bundesstaaten, ihr heftigster Gegner ist das Sinaloa-Kartell. Die Anhänger beider Banden tragen einen unvorstellbar brutalen Krieg aus. Nachrichten und Bilder von Enthauptungen, Entführungen, Erpressungen und Zwangsprostitution wiederholen sich in rasender Schnelle. Der oberste Boss des Sinaloa-Kartells, "El Chapo" Guzmán, konnte zweimal aus Hochsicherheitsgefängnissen entfliehen, was viel über die Ohnmacht oder Korruption der mexikanischen Sicherheitsbehörden beziehungsweise über die Verstrickung vieler Politiker mit den Kartellen aussagt. Darüber fielen 2019 klare Worte im Prozess gegen "El Chapo" in New York. Die Regierung erklärte schon unter Präsident Felipe Calderón (2006 – 2012) die Bekämpfung der organisierten Drogenkriminalität zum wichtigsten Ziel, ist damit aber komplett gescheitert, denn die Zahl der Toten stieg gewaltig an – man spricht von 200.000 und 35.000 "Verschwundenen", vielleicht sind es sogar mehr, denn die Dunkelziffer ist enorm und immer neue Massengräber werden entdeckt.

Auch dem nachfolgenden Präsidenten Enrique Peña Nieto gelangen keine Fortschritte: 2014 "verschwanden" 43 Lehramtsstudenten in Ayotzinapa im Bundessstaat Guerrero – eines der spektakulärsten Verbrechen. Trotz massiver landesweiter Demonstrationen der Zivilgesellschaft mit heftigen Anschuldigungen gegen die Regierung und der Aufforderung, sie müsse endlich Klarheit schaffen, wurden die Leichen der Studenten nicht gefunden, das Verbrechen nicht aufgeklärt. Möglicherweise handelt es sich "nur" um eine Verwechslung, nahmen die Studenten den "falschen" Bus. Die Staatsgewalt ist offensichtlich unfähig oder hilflos, sie wirkt machtlos im Kampf gegen die Kartelle. Willkürliche Morde gehören inzwischen zum Alltag im ganzen Land, und es handelt sich um viele Morde, etwa 90 pro Tag waren es im Jahr 2018, die Mehrzahl wird nie aufgeklärt.

Unter den Opfern gibt es auffällig viele Journalisten. Wiederum ist es die Zivilgesellschaft, die vehement für die Aufklärung der Verbrechen, ein Ende der Verstrickung von Drogenmafia und Polizei und der verbreiteten Straflosigkeit der Mächtigen, für Gerechtigkeit und Inhaftierung der Schuldigen auf die Straßen geht.


Der Dichter Javier Sicilia verlor 2011 seinen vierundzwanzigjährigen Sohn, der gemeinsam mit sechs Freunden in der Nähe von Cuernavaca brutal ermordet wurde. Möglicherweise ein Kollateralopfer. Sicilia sagte danach, in ihm gebe es keinen Platz mehr für die Poesie, er sei jetzt Aktivist. Er rief zu Großdemonstrationen auf und zuletzt zu einem nationalen Marsch für Gerechtigkeit und gegen Straffreiheit. Das Motto lautete: "Estamos hasta la madre" (Wir haben die Schnauze voll). Hunderttausende nahmen in vielen Städten teil, die Politik stand unter Generalanklage. Und diese wird lauter und ungeduldiger, denn die Angehörigen der 43 ermordeten Studenten ziehen seit 2014 regelmäßig durch die Hauptstadt und verlangen hartnäckig Aufklärung. Der Autor und engagierte Journalist Juan Villoro spricht von einer "Grammatik des Schreckens" und hat die Folgen und Traumata von Ayotzinapa für die Angehörigen und das Land in Artikeln und Debatten analysiert.


Violencia und Kartelle

Carlos Monsiváis verfasste für seine Antología personal (2009) einen "Epilog, der nicht um Erlaubnis bittet, aufgenommen zu werden". Der "unerbittliche Themenpark des Narcohandels" ist ein Albtraum für die Nation, "eine nicht endende Tragödie, die vom Drogenkonsum in den USA und den dazugehörigen Mafias angetrieben wird. Lateinamerika bekommt seinen Anteil, nämlich die enormen verbrecherischen Organisationen, den mitleidlosen Beitrag zur Zerstörung des sozialen Gewebes der populären Klassen und die tägliche Fürsorge für die neuen Friedhöfe. Hier bleiben die Leichen, aber es bleibt keine Zeit mehr für ein Gebet oder einen Grabstein. Das gilt besonders für Kolumbien und Mexiko. […] Der Narco ist eine der ersten industriell-militärischen Vereinigungen, die nicht mehr die früheren, ohnehin nie sehr großen Skrupel über den Wert eines Menschenlebens kennt. Die Kartelle variieren die Arten der Tötungen und greifen zu schonungslosen Ritualen: Prügel und Folterungen gehen den Exekutionen durch Waffen, Erwürgen oder Ersticken voraus, es gibt Enthauptungen, Leichen, die in riesigen Säurekesseln aufgelöst werden, Videos von den gefesselten und geschlagenen Opfern, letzte Geständnisse der Gefangenen. Die Drogenbarone sind die neuen Kriegsherren und fördern nur die Statistik der Beerdigungsinstitute."

Schon in den 1990er Jahren waren die Mexikaner hochgeschreckt, als die unglaublich hohe Anzahl von Frauenmorden in Ciudad Juárez bekannt wurde. Roberto Bolaño hat darüber in seinem umfangreichen, großartigen Roman 2666 berichtet. Im vierten Buch, "Der Teil von den Verbrechen", erzählt er das Schicksal von 108 Frauen (von insgesamt mehr als damals 400 Toten), die erst ab 1993 statistisch erfasst wurden. Oft waren es kleine Mädchen, aber auch ältere Frauen wurden umgebracht, vor allem Heranwachsende und junge Frauen waren (und sind) die beliebtesten Opfer. Den Mördern scheint es letztlich egal zu sein, wen sie vor sich haben. Bolaño erweist diesen Toten eine letzte Ehrung und will ihre Schicksale vor dem Vergessen bewahren. Eine Journalistin, die im Roman aus Mexiko-Stadt entsandt wird, um über das Thema zu berichten, verkriecht sich vor Angst in ihrem Hotelzimmer: "Wenn man an einer Sache arbeitet, die mit den Frauenmorden von Santa Teresa in Verbindung steht, hat man bald vor allem Angst. Angst, zusammengeschlagen zu werden. Angst, entführt zu werden. Angst vor Folter." Die Lage ist eine einzige Katastrophe: "Nach Auskunft der Leiterin der Abteilung für Sexualdelikte von Santa Teresa […] betrug bei Mordopfern das Verhältnis von Männern zu Frauen landesweit zehn zu eins, in Santa Teresa dagegen vier zu zehn. […] Wissen Sie, wie viele Frauen in Santa Teresa Sexualdelikten zum Opfer fallen? Über zweitausend jedes Jahr. Und fast die Hälfte ist minderjährig. Und vermutlich ist die Dunkelziffer doppelt so hoch."

Wie kommt es zu diesen Feminiziden, zur häuslichen Gewalt, zur Violencia? Warum richtet sich die Gewalt mit Vorliebe gegen Journalisten? Gegen couragierte lokale Politiker? Wie erklärt man diese so weit verbreiteten und zunehmenden Schrecken? Warum ist die Staatsmacht so machtlos in ihrem Kampf oder Krieg gegen die Droge? Warum sind ihre Bosse die eigentlichen Herrscher vieler Regionen? Warum ist die Korruption omnipräsent und offensichtlich oder absichtlich nicht zu kontrollieren oder einzudämmen? Welche Bedeutung hat die Grenze zu den USA, die Mexikaner und Mittelamerikaner illegal zu überwinden versuchen, wo Drogen exportiert, Waffen importiert werden und alles ein Milliardengeschäft ist? Warum zählt ein Menschenleben so wenig?

Die Schriftsteller können darauf keine Antworten geben, diagnostizieren die Situation aber wie besessen. Sie entlarven den übersteigerten Machismo, zeigen das Versagen der staatlichen Ordnung und versuchen, die uralten Gründe zu erhellen. Sie schildern die Umstände, unter denen perspektivlose junge Menschen von Drogendealern leicht angeworben oder aber gezwungen werden, bei diesem Spiel mit dem Tod mitzumachen. Sie erzählen packende, brutale und immer wieder hoffnungsvolle Geschichten.

Die Droge hat die mexikanische Gesellschaft an den Abgrund gerückt.

Davon zeugen viele Texte. Juan Pablo Villalobos porträtiert in Fiesta in der Räuberhöhle das Leben eines reichen Kindes, dem jeder Wunsch erfüllt wird, schließlich ist sein Vater ein Drogenbaron, genannt El Rey, der König. Aber es lebt einsam im goldenen Käfig, denn jeder Kontakt zur Außenwelt ist unmöglich. Die Mutter fehlt, seltsame Gäste gehen ein und aus, nicht viele Fragen dürfen gestellt werden. Sohn Tochtli erhält von einem linkspatriotischen Hauslehrer einen kuriosen Unterricht, aber seine Erläuterungen über die Französische Revolution und Guillotine beeindrucken den Jungen, der seine Umgebung genau beobachtet. Wer kommt, welche Frauen, welche Feste werden ausgerichtet? Und er weiß von der Existenz eines verbotenen, geheimnisvollen Zimmers. Aber der frühreife Tochtli ist sich sicher: Hier sind die Waffen versteckt.

Eines Tages äußert er den Wunsch, den Privatzoo mit einem liberianischen Zwergnilpferd zu vergrößern. Also schickt der Vater Emissäre los, um das Tier zu finden und herbeizuschaffen. Leider ohne Erfolg. Daheim geht die Erziehung des Knaben zum Macho und Mörder weiter, und der Autor beschreibt sie mit schwarzem Humor: "Ich finde nicht, dass ich seltsam bin, nur weil ich gerne einen Hut trage […] Aber eins bin ich mit Sicherheit, nämlich ein Macho. Zum Beispiel: Ich flenne nicht die ganze Zeit, nur weil ich keine Mama habe. Alle glauben, dass du ständig heulen musst, wenn du keine Mama hast, literweise Tränen, zehn oder zwölf am Tag. Aber ich heule nicht, denn wer heult, ist eine Schwuchtel."

Normalität scheint ein Fremdwort geworden zu sein. Das erfahren wir in der hintergründigen und komischen Satire Quesadillas. Hier lässt Juan Pablo Villalobos seinen jugendlichen Protagonisten Orest in einem Kaff im Süden Mexikos leben, wo es "mehr Kühe als Menschen, mehr Charros als Pferde, mehr Pfarrer als Kühe gibt, und die Menschen glauben an die Existenz von Geistern, Wundern, Raumschiffen, Heiligen und Ähnlichem". Auch hier werden die Armen um ihre Rechte geprellt und von ihrem Besitz vertrieben – und die Politik steckt mitten drin in diesen schmutzigen Geschäften.

Der Protagonist in Abgesang des Todes von Yuri Herrera ist ein armer Corrido-Sänger, der von Dorf zu Dorf zieht, um ein paar Pesos zu verdienen. Eines Tages fällt er in einer Kneipe einem mächtigen Herrn auf, El Rey, der ihn in seinen Dienst nimmt. Nun muss er als Hofmusikant aufspielen und lebt im Luxus: Alles ist im Überfluss vorhanden, es gibt rauschende Feste, alkoholische Exzesse, einen großen Park mit wilden Tieren, viele Frauen. Der König ist Alleinherrscher und schenkt den Menschen Leben oder Tod. In diesem Buch fließt kein Blut, aber die Willkür und Macht des Bosses sind latent immer spürbar, obwohl das Wort Droge nie fällt. Immer neue Kämpfe zwischen rivalisierenden Banden werden ausgetragen, Versprechungen gegeben und gebrochen, und der Bänkelsänger muss ständig neue Narco-Corridos erfinden, also Loblieder auf El Rey, bis ihm endlich die Flucht gelingt.

Yuri Herrera hat in "Ungebührliche Anmerkungen für die deutschen Leser" seinen Roman so erläutert: "Der Kern […] ist die Beziehung von Kunst und Macht. Mein Vorbild war das Spannungsverhältnis zwischen den Künstlern an europäischen Königshöfen und den Monarchen, doch ich wählte als Schauplatz den Ort, an dem ich damals lebte, die Grenzregion zwischen Mexiko und den USA […] Der Machthaber würde ein Capo des organisierten Verbrechens sein und der Künstler ein Mann, der in der Wüstengegend dessen Heldentaten besingt. So konnte ich […] den Wahn darstellen, der die Mächtigen umgibt und sie bisweilen zu größenwahnsinnigen Ungeheuern mutieren lässt. Die Verbrecher, mit denen wir in diesen finsteren Zeiten in Mexiko kämpfen müssen, haben den Sadismus nicht erfunden, sie üben ihn nur ohne den Prunk jener Monarchen aus, die ich mir zum Vorbild nahm, sind jedoch vom gleichen Stamm."

Der Autor hat in einem weiteren Roman, Zeichen, die vom Weltende künden, das Leben der jungen Makina geschildert, die aus ihrem männerlosen Dorf weggeht und einen Weg über den großen Fluss sucht, um den Bruder im Norden zu finden, der schon vor Jahren die Familie verließ. Sie braucht Hilfe für den gefährlichen Weg und nimmt deshalb ein "Päckchen" mit, das sie auf der anderen Seite übergeben muss. Als Gegenleistung unterstützt sie ein Kojote. Die Worte Drogenkartell oder Narco-Boss tauchen auch in diesem Text nicht auf, aber jeder versteht, wovon die Rede ist. Makina muss verschiedene Etappen oder Prüfungen überwinden, neun, wie in der aztekischen Mythologie, und jedes Mal findet sie einen Menschen, der ihr weiterhilft, bis sie den Bruder ausfindig machen kann. Herrera gelingt es, die kreativen und üblichen Neuschöpfungen des Spanglish wie selbstverständlich in den Text zu integrieren und noch neue Worte zu schaffen, denn "der Kampf zwischen Latinos und dem Norden kann sich nur in einer dritten Identität auflösen: Es ist keine neue Art, von den Dingen zu sprechen, es sind neue Dinge". Ein beeindruckender, schmaler Roman, der von höchstem literarischem Können zeugt.


Allmacht Droge

Viele mexikanische Schriftsteller beschäftigen sich mit den verschiedenen Formen der Drogengewalt. Orfa Alarcón erzählt in Königin und Kojote von der Bereitschaft der Jugendgangs, das schnelle Geld zu machen und damit die Mädchen zu verführen. Eduardo Antonio Parra nennt seine Romane Parábolas del silencio (Parabeln des Schweigens) und Nostalgia de la sombra (Nostalgie des Schattens) und erzählt von Verschwundenen: Nadie los vio salir (Niemand sah sie fortgehen). Sergio González Rodríguez berichtet vom Hombre sin cabeza (Mann ohne Kopf) und den Huesos en el desierto (Knochen in der Wüste), während Luis Humberto Crosthwaite Instrucciones para cruzar la frontera (Instruktionen, um die Grenze zu überqueren) erteilt. Gabriel Trujillo Muñoz singt den Tijuana Blues, den Tod in der Wüste. Die Gegend erlebt zwar einen industriellen Aufschwung dank der vielen Maquiladores, der billigen Montagebetrieben und Fabriken, aber natürlich gibt es vielfältige Formen, um zu Geld zu kommen: Industriespionage und Giftmüll, Organhandel, Waffenschmuggel, Fluchthilfe, Drogenhandel und Prostitution. Julián Herbert zeigt im Roman Cocaína, dass alle Gesellschaftsschichten in Mexiko Kokain schnupfen, der Krankenwagenfahrer ebenso wie die feinen Beamten. Seine Protagonisten geraten durch ihre Abhängigkeit in eine Abwärtsspirale, das Kokain wird zum besten Freund und ist zugleich der größte Feind. Der Autor liefert ein – auch literarisches – Mosaik der Welten und Unterwelten. Längst ist die Droge allgegenwärtig: Kinder und Jugendliche wachsen sowohl in den Elendsgürteln wie in den besseren Stadtvierteln mit ihr auf, während einige ländliche Regionen ganz unter der Fuchtel der mächtigen, millionenschweren Kartelle stehen. Die Droge: Sie beherrscht und zerstört alles, ein Entkommen erfordert schier übermenschliche Kräfte. Gibt es noch ein Leben ohne sie im heutigen Mexiko?

Die jüngsten Antworten der Autoren lassen die Vermutung aufkommen: eher nein. Eduardo Rabasa beschreibt in Der schwarze Gürtel das Leben im Büro und den Zynismus der modernen Arbeitswelt, bei der zumindest die Droge ein paar schöne Stunden ermöglicht. Guillermo Arriaga lässt den siebzehnjährigen Protagonisten in Der Wilde in seinem bescheidenen Stadtviertel von Mexiko-Stadt herumirren, denn er will die Ermordung des bewunderten älteren Bruders durch eine fanatische Sekte rächen. Dabei erfährt er von dessen geheimen und gefährlichen Drogengeschäften, in die auch er hineingezogen wird. Fernanda Melchor schildert in Saison der Wirbelstürme ein Verbrechen in der Provinz Veracruz und deckt die allgegenwärtige Gewalt auf, insbesondere gegen Frauen. Natürlich spielt der Drogenhandel dabei eine entscheidende Rolle.

Antonio Ortuño hielt 2015 in Die Verbrannten den konstanten Leidensweg Zigtausender mittelamerikanischer Migranten durch Mexiko zur Grenze fest. Immer sind die Frauen besonders gefährdet. Der Zynismus und die Verachtung, mit denen Flüchtlinge benutzt, beraubt, missbraucht und umgebracht werden, wovon zahllose Massengräber oder Mülldeponien zeugen, in denen die Leichen entsorgt werden – all das ähnelt einem Höllenkreis. Und immer ist die Droge Hauptakteur. Im Roman Die Verschwundenen (2019) geht es um Geldwäsche und Luxusimmobilien, die aus dem Boden in den Himmel Olinkas (das heißt Guadalajaras) schießen, schließlich befindet sich hier die Hälfte der mexikanischen Firmen, die an der internationalen Geldwäsche des organisierten Verbrechens beteiligt sind. Im Vorspann heißt es: "Das Finanzministerium der Vereinigten Staaten veröffentlicht regelmäßig eine Liste von Unternehmen weltweit, die beschuldigt werden, für das organisierte Verbrechen Geld zu waschen. Mehr als die Hälfte der auf dieser Liste verzeichneten mexikanischen Unternehmen befindet sich in Guadalajara. Ein reizender Ort."

Also werden die Besitzer kleiner Häuser mit falschen Dokumenten vertrieben, damit ein neuer Wolkenkratzer für das Finanzkapital gebaut werden kann. Sollten sie nicht freiwillig gehen, wendet man Gewalt an und lässt besonders störrische Rechtsfanatiker einfach "verschwinden". So auch hier, als von zwei Familien plötzlich jede Spur fehlt. Eine Aufklärung der vielen Verbrechen in der Stadt ist schwierig und kann meist erfolgreich verhindert werden, da hilft ein Bündel Geldscheine. Hier aber recherchieren ein paar idealistische Journalisten, und es wird ungemütlich für den Tycoon, der schließlich den Schwiegersohn opfert. Dieser geht schuldlos in Haft, da die Familie ihm versprochen hat, er werde gleich wieder befreit. Aber nichts geschieht, er muss 15 Jahre sitzen, die Frau verlässt ihn, und sein Leben ist ruiniert.

Ortuño hält wie nahezu alle jüngeren Autoren mit seinen harten Romanen der Gesellschaft einen erschreckenden Spiegel vor. Gibt es Hoffnung, kann Mexiko seine Probleme allein bewältigen, wo könnten Lösungen liegen? Die erstarkte Zivilgesellschaft gibt Zuversicht, sie ist auch in der gefährlichen Stadt Ciudad Juárez in vielen Bereichen aktiv, die Zahl der Frauenmorde ist dank Denunzierung und Schutzmaßnahmen zurückgegangen. Auf dem Land entstanden Selbstverteidigungstruppen, die Erstaunliches leisten und die Bewohner tatkräftig schützen, besser als jede Polizei. Die Ohnmacht des Staates im Kampf gegen organisierte Gewalt ist evident. Wäre die Legalisierung der Droge daher eine entscheidende Hilfe in der Verbrechensbekämpfung der Kartelle und Mafias, wie immer mehr Intellektuelle, Nobelpreisträger, Exregierungschefs und Experten seit 2011 behaupten?

Mario Vargas Llosa, der der "Globalen Kommission der Drogenpolitik " angehört, erläuterte 2018 in El País ihren 7. Jahresbericht: "Die Kriminalität ist die schlimmste der Kalamitäten, die der Drogenhandel verursacht. Die beste Weise, ihn zu bekämpfen, ist die Entkriminalisierung der Rauschmittel und Toleranz […] Die Vergeblichkeit, diese Geißel mit Verboten und Verfolgungen zu bekämpfen, trotz der Millionen Dollar, die man darauf verwendet, ist unübersehbar. Stattdessen hat sie den Gebrauch von Drogen in schwindelerregende Höhe getrieben. Fast überall auf der Welt, aber vor allem in Lateinamerika, sind die Rauschgifthändler eine Plage, die Zehntausende Tote fordern. Sie sind vor allem eine Quelle der Korruption, die Institutionen zersetzen, das politische Leben infizieren und die Demokratien erniedrigen […] Die Legalisierung würde ein Ende der Kriminalität bedeuten […] in Ländern wie Mexiko hinterlässt der Kampf der mächtigen Kartelle, die um ihre Territorien streiten, jeden Monat Hunderte Tote […] und erlaubt den Kriminellen, atemberaubende Vermögen anzuhäufen."

Ein Ende der Kriminalisierung der Droge, die seit ihrer Erfindung durch Präsident Nixon 1974 bewiesen hat, dass sie keine Erfolge erzielen konnte, verlangt auch Carmen Boullosa, die gemeinsam mit ihrem nordamerikanischen Ehemann, dem Historiker Mike Wallace, ein exzellent dokumentiertes Buch vorlegte: Es reicht! Der Fall Mexiko: Warum wir eine neue globale Drogenpolitik brauchen. Die Verfasser lehnen den Begriff "Mexikanischer Drogenkrieg" ab, "weil er von der amerikanischen Rolle bei seiner Entstehung ablenkt […] Den Amerikanern ist weitgehend bekannt, dass der Großteil der in den Vereinigten Staaten konsumierten Drogen – Kokain, Heroin, Marihuana und Methamphetamin – aus Mexiko stammt. Einige wissen auch, dass der größte Teil der Waffen, mit denen sich die Drogenkartelle untereinander und den mexikanischen Staat bekämpfen, aus dem Süden der USA ins Land kommt."

Die Autoren erläutern, dass mächtige Kräfte in Mexiko vom Drogenhandel profitieren, ebenso wie die Waffen-Lobby NRA in den USA. Beide Aktivitäten werden ausführlich beschrieben. "Wäre eine Beendigung des 'mexikanischen Drogenkriegs' durch die Entkriminalisierung der Drogen politisch denkbar? Vielleicht, bedenkt man die blutgetränkte Alternative. Für die Kartelle und ihre Sprösslinge […] würden verminderte Gewinne jedenfalls einen enormen Schlag bedeuten, der sie womöglich wehrlos macht gegen einen gezielten Angriff sauberer – umstrukturierter und weniger bestechlicher – Ordnungskräfte. Das ist die Hoffnung. Wenn das wütende Beharren der Zivilgesellschaft darauf, dass wieder Gerechtigkeit, Gesetz und Ordnung herrschen müssen, in die unhintergehbare Forderung nach einer fundamentalen, strukturellen Lösung mündet, besteht eine Hoffnung darauf, dass Mexiko sich selbst aus dem Sumpf zieht, in den es, zu einem großen Teil dank der USA, geraten ist. […] Ya basta. Es reicht!"

Die Drogenproblematik führt direkt an die Grenze USA – Mexiko, wo der Schmuggel vor hundert Jahren mit dem Opium begann. David Toscana behauptet, es handele sich um eine bewegliche Grenze. "Grenzen mögen Gegenstand der Geographie sein, solange sie stillhalten; doch wenn sie sich bewegen, werden sie ein Thema der Geschichte. Oder besser gesagt: Es ist die Geschichte, die sie bewegt […] Mal soll die Grenze am Kommen hindern, mal am Gehen […] Im Fall Mexikos und der USA brauchte es weder Markierungen noch Kontrollhäuschen, Mauern, Stacheldraht, Zäune oder Grenzpatrouillen, um die Kluft zwischen zwei Lebenswelten deutlich zu machen. Fährt man in den USA oder in Mexiko über Land an der Grenze entlang, bieten sich zur Linken und zur Rechten sehr unterschiedliche Bilder. Ein Landvermesser könnte die Trennungslinie aus dem Stegreif exakt nachzeichnen."

Hier prallen die Erste und sogenannte Dritte Welt ungebremst aufeinander und machen die Gegensätze sichtbar, die in der Geschichte begründet liegen. Octavio Paz fasste sie in dem Essay "Ideologie Realitäten: Mexiko und die Vereinigten Staaten" zusammen: "Die Grenze zwischen den beiden Ländern überschreiten heißt von einer Kultur in die andere geraten. Die Nordamerikaner sind Kinder der Reformation, ihr Ursprung ist der der modernen Welt; die Mexikaner sind Kinder des spanischen Reiches, des Vorreiters der Gegenreformation, die sich der entstehenden Modernität entgegenstellte und dabei scheiterte. Unsere Haltungen gegenüber der Zeit drücken unsere Unterschiede in aller Deutlichkeit aus: die Nordamerikaner überschätzen die Zukunft und verehren den Wandel; wir Mexikaner halten uns nach dem Bild unserer Pyramiden und Kathedralen an Werte, die wir als unwandelbar erachten, und an Symbole, die wie das der Jungfrau von Guadalupe Dauerhaftigkeit versprechen."

Michi Strausfeld


Michi Strausfeld: Gelbe Schmetterlinge und die Herren Diktatoren. Lateinamerika erzählt seine Geschichte, 512 Seiten, gebunden, 26 Eurr, ISBN: 978-3-10-397474-4. (Bestellen bei buecher.de)