Vorgeblättert

Peter-Andre Alt: Franz Kafka. Teil 1

11.08.2005.
Vorwort

Franz Kafkas Wirklichkeit war ein weitläufiger Raum der Einbildungskraft. "Die ungeheuere Welt, die ich im Kopfe habe", notiert er im Juni 1913 in seinem Tagebuch. Während sich Kafkas äußeres Leben mit wenigen Ausnahmen in der überschaubaren Topographie Prags und der Provinzstädte Böhmens abspielt, bleibt die Erfahrung, die ihm das Reich des Imaginärenvermittelt, unumschränkt und grenzenlos. Was sein literarisches Werk inspiriert, stammt nur in Bruchteilen aus den Zonen der externen Realität. Aufmerkwürdige Weise scheint seine Welt der Phantasie von der wechselvollen Geschichte der Moderne unberührt. Die gravierenden Zäsuren, die Europa am Beginn des 20. Jahrhunderts bestimmen, spielen für Kafkas Leben scheinbar keine Rolle - weder seine Briefe noch die Tagebücher widmen ihnen größere Aufmerksamkeit. Die russische Revolution vom Winter 1905 taucht in der Erzählung Das Urteil auf, als sei sie ein gleichsam literarisches Ereignis. Die Balkankriege von 1912 und 1913 nimmt der Briefschreiber wie durch den Schleier des Tagtraums wahr. Die Mobilmachung vom August 1914 registriert der Tagebuchautor in einer lakonischen Beiläufigkeit, die befremdlich wirkt. Dem Zusammenbruch der k. u. k.-Monarchie, der am 28. Oktober 1918 zur Geburt der tschechischen Republik führt, widmet er kaum ein Wort. Die Existenz des neuen Staates, als dessen Bürger er fortan lebt, ist ihm keinen näheren Kommentar wert; einzig über die bürokratischen Widerstände, denen sich der Reisende im Europa der Nachkriegszeit ausgesetzt sieht, klagt er gelegentlich. Als er 1923 nach Berlin zieht, beobachtet er die gesellschaftlichen Umbrüche des großen Inflationswinters wie ein Forscher, der den Gegenständen seiner wissenschaftlichen Neugier fernbleiben muß, um sie besser zu verstehen: "(?) und so weiß ich von der Welt viel weniger als in Prag."
     Als Visionär ohne Geschichte und Mystagogen ohne Realitätssinn haben die Nachgeborenen Kafka wahrgenommen. Das Porträt des einsamen Prager Asketen, der seine privaten Ängste und Obsessionen in traumhaft-phantastischen Texten verarbeitet, darf jedoch nicht davon ablenken, daß es auch noch eine andere Seite gibt. Sie zeigt dem Betrachter einen auf komplizierte Weise in die Epoche Verstrickten, der vor der gesellschaftlichen Wirklichkeitseiner Zeit die Augen nicht verschließt. Als Jurist in öffentlichen Diensten ist ihm die staatliche Bürokratie in Böhmen aus den Details eines grauen Büroalltags vertraut. Die Fabriken des Industriezeitalters, jene Schreckensorte im Inferno moderner Technik, hat er, anders als die meisten Schriftsteller des 20. Jahrhunderts, in seiner Rolle als Gutachter für den Unfallschutz bei Inspektionsbesuchen sehr genau kennengelernt. Seine privaten Reisen führen ihn durch die Länder Mitteleuropas, in die Schweiz, nach Frankreich und Oberitalien. Die großen europäischen Metropolen erkundet er mit der Neugier des Voyeurs, der vom nervösen Pulsschlag urbanen Lebens fasziniert ist. Sämtliche bedeutenden intellektuellen Strömungen der Zeit hat er aufmerksam registriert, ohne sich freilich von ihnen vereinnahmen zu lassen; Zionismus und Psychoanalyse, Anthroposophie und Naturheilkunde, Sozialismus und Anarchismus, Frauenbewegung und Pazifismus nimmt er als Epochenphänomene mit dem scharfen Blick des distanzierten Beobachters wahr. Sein Wissen verbirgt er dabei hinter der Maske des naiven Dilettanten, der die Souveränität bewundert, mit der die Akteure auf der Bühne des Geisteslebens ihre Rollen spielen.
     Wer diese Selbstinszenierung als Tarnung durchschaut, erblickt einen sehr bewußt lebenden Zeitgenossen, dem seine kulturelle Umwelt niemals gleichgültig bleibt. Kafka hat seine besondere Identität als deutscher Jude in Prag, belehrt durch Theodor Herzls Zionismus und Martin Bubers Religionsphilosophie, mit wachsender Sensibilität reflektiert. Es ist das gesellschaftliche und kulturelle Milieu Böhmens im Zeitalter der jüdischen Assimilation, das seine Kindheit und Jugend am Ende des 19. Jahrhunderts bestimmt. Hier, vor dem Hintergrund einer verschatteten Überlieferung - der jüdischen Glaubenskultur - und auf dem Boden der technischen wie kulturellen Moderne, liegen die Voraussetzungen seiner ästhetischen Produktivität. Selbst wenn sein Werk die Spuren der Epoche stets nur indirekt verarbeitet, läßt es sich nicht lösen von deren politischen, sozialen und intellektuellen Signaturen. Auch der in seine Privatkonflikte eingesponnene Autor Kafka ist ein Künstler mit zeitgeschichtlich geprägter Identität, dessen literarische Arbeit unter den gesellschaftlichen Bedingungen eines katastrophenreichen Jahrhunderts steht.
     Dieses Buch geht von der Beobachtung aus, daß Kafkas äußeres und inneres Leben zwar punktuell seine Texte inspiriert, umgekehrt aber auch die Literatur die Linien der Biographie festlegt. Kafka hat nicht selten in seinen poetischen Arbeiten Konstellationen der eigenen Vita vorweggenommen; man könnte, anders akzentuiert, auch sagen: er hat im Leben die Literatur nachgeahmt. Dieser Befund gilt etwa für das Verlobungsmotiv der Erzählung Das Urteil, das die Beziehung zu Felice Bauer antizipiert, aber ebenso für die tödliche Wunde des Jungen im Landarzt, die das Ausbrechen der Tuberkulose zu präludieren scheint. Es gehört zu den Grundmustern von Kafkas Leben, daß es sich im Geltungsbereich der Literatur abspielt und über ihn wesentlich definiert; das reflektieren zahlreiche Äußerungen in Tagebüchern und Briefen mit nicht ermüdender Intensität. Zentrale Aufgabe dieses Buchs ist es daher, die Prägungen zu beschreiben, die das Leben durch die imaginären Welten der Poesie und die Formen ihrer inneren Ordnung empfangen hat. Erst die Einsicht in die literarische Konditionierung der Erfahrung erschließt das geheime - keineswegs mythische, vielmehr bewußt produzierte - Gesetz, das Kafkas Vita machtvoll regiert. In ihr existieren keine einfachen Lösungen, sondern nur Paradoxien und dialektische Verstrickungen, denen traditionelle Mythen wie das Bild vom asketischen, lebensängstlichen Schriftsteller so wenig gerecht werden wie ihre programmatischen Entzauberungen.
     Man kann Kafka im Hinblick auf solche Paradoxien einen 'ewigen Sohn' nennen, der seine Furcht vor dem Vater mit obsessiver Lust kultiviert, weil sie für ihn die Bedingung seiner Existenz bildet. Diese Konstellation bezeichnet ein Lebensprinzip, das Kafkas künstlerische Identität ebenso wie sein - von ihm selbst so empfundenes - Scheitern in der praktischen Wirklichkeit begründet. Kafka hat sich, obgleich er sich seines literarischen Rangs bewußt war, niemals aus der Rolle des Nachgeborenen befreit, der zögert, erwachsen zu werden. Seine Liebesgeschichten treiben in Katastrophen, da der Eintritt in die Rolle des Ehemanns oder Vaters seine Identität als Sohn zerstört hätte. Sie aber bildete die Voraussetzung für seine schriftstellerische Arbeit, die sich nach seiner Überzeugung nur in der unbedingten Einsamkeit vollziehen konnte. Nicht zuletzt wird in der Rolle des Sohnes die Logik seiner Texte deutlich, die endlose Reisen auf dem Meer der Bedeutungen unternehmen. Kafkas literarisches Werk ist einer Ästhetik des Zirkulären verpflichtet, in der sich die Ich-Konstruktion des ewigen Sohnes spiegelt: das 'Zögern vor der Geburt', wie er es genannt hat, das Verharren in Übergängen, Bruchstücken, Annäherungen. Der Sohn, der nicht erwachsen wird, reflektiert seine psychische Selbstorganisation in Texten, die so unabschließbar sind wie sein eigenes biographisches Projekt. Der Ich-Entwurf des 'ewigen Sohnes' ist daher das Geheimnis der Künstlerpsychologie, die Kafkas Schreiben grundiert. Er führt, die Zufälle der äußeren Biographie wie Schwellen überschreitend, in jene Zone, die man die Dämonie des Lebens nennen mag: ins Arkanum der dunklen Verstrickungen, welche die dramatische Selbstinszenierung des Autors Kafka bestimmen.
     Kafka ist kein Meteor, dessen Werk aus einem geschichtslosen Himmel über uns kam. Er steht vielmehr sehr bewußt in einem komplexen Überlieferungsgeschehen, das er freilich mit den Mitteln der Ironie, Travestie und Kafka wesentlich die Welt des Judentums, dessen religiöse Sagen, Geschichten und Handlungsanleitungen ursprünglich mündlich überliefert waren. Über das Gespräch gewinnt Kafka durch Bekannte und Freunde wie Hugo Bergmann, Max Brod, Felix Weltsch, Jizchak Löwy, Martin Buber und Jiři Langer Einblicke in die Erzählwelten der jüdischen Religion. Daß deren Muster die Texte des Landarzt-Bandes, den Proceß-Roman und das Spätwerk geprägt haben, läßt sich begründet nachweisen. Zugleich mischt sich in das Ensemble der legendenhaften Stoffe, die Kafka verarbeitet, die griechische Antike ein. Die Mythen des Kampfes, des Familienkonflikts und der Reise, die er aufgreift, stehen damit in Zusammenhang. Das Buch wird die mythischen Serien rekonstruieren, denen Kafkas literarische Texte folgen. In ihnen sammeln sich Materialien aus unterschiedlichsten Zeiträumen der Kulturgeschichte, freilich im Rahmen von literarischen Experimenten, die ihre ursprüngliche Gestalt verändern. Kafka schreibt die großen mythischen Erzählungen des Abendlandes fort, indem er sie neu deutet und die unaufgelösten Widersprüche, die sie aufgeben, in erregender Weise einschärft.
     Moderne: das ist einerseits die gegen das mündliche Überlieferungsgeschehen gerichtete Ordnung der Schrift, mit ihr die deutsche Literatur, die Kafka von Goethe (dem ältesten Autor, den er las) bis zur Generation seiner Zeitgenossen unsystematisch, aber aufmerksam zur Kenntnis nahm; andererseits die Welt der Medien, die er so genau wie kaum ein anderer Schriftsteller der Zeit beobachtete. Kino, Diktaphon und Schreibmaschine finden sich in seinen privaten Zeugnissen regelmäßig thematisiert; in verdeckter Form aber wird der medientechnische Diskurs der Moderne auch in seinen literarischen Arbeiten aufgegriffen und fortgeführt. Als Autor läßt sich Kafka vom Stummfilm anregen, dessen beschleunigte Bewegungsabläufe sich unmittelbar in einzelne Szenen des Verschollenen übersetzen. Die Erzählung In der Strafkolonie zeigt eine Beschäftigung mit Techniken der Schrift, wie sie ähnlich die Briefe an Felice Bauer, freilich auf anderer Ebene, offenbaren. Der Begriff der Modernität ist bei Kafka doppelt belegt: Literatur und technisch hergestelltes Bild gehören hier zusammen. Walter Benjamin hat über die zweifache Beeinflussung seines ?uvres durch die mündliche Überlieferung religiöser Prägung und die Welt des 20. Jahrhunderts bemerkt: "Kafkas Werk ist eine Ellipse, deren weit auseinanderliegende Brennpunkte von der mystischen Erfahrung (die vor allem die Erfahrung von der Tradition ist) einerseits, von der Erfahrung des modernen Großstadtmenschen andererseits bestimmt sind."
Die Literaturtheorie hat seit der Mitte der 60er Jahre die Vorstellung kritisiert, daß der Autor der allmächtige Herrscher über seine Texte sei. Im Fall Kafkas läßt sich zeigen, daß die Moderne von der Autorfiktion ebenso Abschied nehmen muß wie vom emphatischen Werkbegriff, den Adornos ästhetische Theorie (1970) letztmals mit Nachdruck vertreten hat. Kafkas Aufmerksamkeit galt weniger dem Werk als dem Schreiben, der Logik der Produktion; zwar kannte er den Selbstgenuß, den die Veröffentlichung eines eigenen Textes bedeutete, jedoch wurde er überwogen durch die Ekstase, die der Entstehungsvorgang selbst auslöste. Diese Gewichtung schlägt sich in der latent fragmentarischen Struktur seiner Prosa nieder. Kafkas Arbeit ist selbst dort, wo ihre Produkte vom Autor zur Publikation freigegeben worden sind, unabgeschlossen und offen. Die Unerschöpflichkeit seiner Texte gründet in dem Umstand, daß sie dort, wo sie enden, keine verbindlichen Folgerungen zulassen, mithin für einfache Sinnzuschreibungen unzugänglich bleiben. Im prozeßhaften Medium der Schrift, nicht in der konkreten Gestalt eines Werks hat Kafka seine künstlerische Identität ausgebildet. Die Schrift wiederum vollzieht, wie Jacques Derrida formuliert hat, eine unaufhörliche Annäherung an die Phänomene, die sie repräsentieren möchte. Sie kann nie zu Ende kommen, weil sie stets vor dem steht, was sie bezeichnet. Dazu paßt, daß Kafka sich das glückende Schreiben als ununterbrochenen Strom vorgestellt hat, der durch keinerlei Widerstände aufgehalten wird. In einer Nacht ohne Morgen, frei von Störungen, jenseits der Rhythmen des Lebens wünschte er sich in seine Texte zu 'ergießen' (so die Formulierung vom Januar 1912). Seinem Arbeitsideal entsprach es, ins Zeichenmeer der Schrift einzutauchen und in diesem Vorgang das eigene Ich gesteigert zu erfahren. Ein solches Modell der literarischen Produktion mußte das Interesse an der Publikation abgerundeter, möglichst makelloser 'Werke' keineswegs ausschließen, doch stand es nicht im Vordergrund von Kafkas Entwurf künstlerischer Autorschaft.
     Als biographische Grundkraft verwandelt die Literatur Kafkas Erfahrungswelt zu einem Raum, in dem Phantasie und Realität nicht mehr getrennt werden können. Leben und Arbeit treten daher in diesem Buch in eine konstruktive Beziehung, die jener von imaginären Ordnungen gleicht. Weder versteht sich das eine aus dem anderen, noch bleiben beide blind füreinander. Das Leben funktioniert vielmehr selbst wie die literarische Fiktion, weil es deren Dramaturgie und Inszenierungskunst gehorcht. Kafkas Biographie zeigt, daß es sich der Literatur unterwerfen kann, indem es ihre Motivierungen und Bilder, ihre Sprünge, Widerstände, Stockungen und Verwerfungen, ihre Ekstasen, Glücksmomente und Grenzüberschreitungen, ihr Pathos und ihre Energie, ihre Schocks und Ausbrüche, Komödien und Vexierspiele in sich aufnimmt. Das Leben ist für Kafka vorrangig der Rohstoff, der vom Medium der Sprache geformt wird. Die sozialen und privaten Hintergründe der Biographie zu erfassen bedeutet daher, die grundlegenden Materialien kennenzulernen, die in Kafkas Texten mit eigenem Sinn aufgeladen werden.
     Geschichte und Gesellschaft, Umwelt und Kultur, Politik und Wissenschaft, Geschlechterrollen und Familie erscheinen in diesem Buch als historisch auslegbare, dynamisch veränderliche Felder mit jeweils neu zu erschließenden Bedeutungen. Sie bilden selbst Gegenstände des Verstehensaktes, den letzthin jede historische Untersuchung zu vollziehen sucht. Nur wer das kulturelle Milieu, in dem ein literarischer Text entstand, rekonstruiert, kann die zentralen Merkmale seiner Zeichensprache erfassen. Sie sind dort zu entdecken, wo der Text in einen Prozeß des Austausches mit den sozialen Regeln seiner Zeit tritt. Mißverstanden wäre diese Beziehung, wenn man sie als Vorgang des 'Einflusses' der Gesellschaft auf das kulturelle System betrachtete. Vielmehr handelt es sich um ein Verhältnis der Interdependenz, in dem Zeichen, Symbole und Bilder so zirkulieren, daß sich die vermeintliche Objektivität des Sozialen und der Geschichte notwendig auflösen muß. Historische Wirklichkeit selbst wird geschaffen durch den Vorgang der permanenten Umgestaltung von Bedeutungskonfigurationen, an dem Literatur und Kunst direkt beteiligt sind. Erschließbar wird dieses Faktum aber nur durch die Arbeit der Interpretation, die den besonderen Kontext von sozialer Ordnung und Kultur in seiner dynamischen Wechselwirkung erfassen kann.
     Zu vergegenwärtigen ist dabei, daß die Lebenswelt Kafkas uns nie in ungestalteter Form, sondern immer schon sprachlich, oft literarisch modelliert entgegentritt. Wenn wir sie aus historischer Distanz durchleuchten, arbeiten wir in der Regel an Texten: Briefen, Journaleintragungen, Quellen. Das Lebensmaterial gewinnt für Kafka Bedeutung nur im Medium der Schrift: Blicke und Gesten, Beobachtung und Reflexion, Träume und Lektüreerfahrungen, die großen Gefühle wie Schmerz, Ekel, Haß, Liebe und Angst wandern, bei ihm oft durch das Tagebuch vermittelt, in die Ordnung des Schreibens ein und gewinnen dort ihre eigene Ausprägung. Leben und Literatur kommunizieren in einem unendlichen Dialog. Wenn das vorliegende Buch diesen Dialog zu rekonstruieren sucht, so bedeutet das nicht, daß der 'Autor'Kafka und sein 'Werk' in traditioneller biographischer Manier erklärend aufeinander bezogen werden. Vielmehr verbindet literarische Arbeit und Vita, Schrift und Erfahrung die gemeinsame Abhängigkeit von der Einbildungskraft: ihre Allianz ist bei Kafka nur aus der Allmacht der Imagination zu verstehen, die den Raum der Erfahrung wie eine Traumlandschaft gliedert.
     Wenn man heute, über achtzig Jahre nach seinem Tod, Franz Kafka liest, so vergißt man leicht, daß es keine Selbstverständlichkeit ist, auch seine nachgelassenen Texte im Rahmen einer Kritischen Ausgabe, sachkundig kommentiert, vor Augen zu haben. Was die Zeugen der frühen Wirkungsgeschichte in den 30er Jahren noch zu erregten Diskussionen herausforderte, bildet inzwischen selbst, so scheint es, eine versinkende Schicht der Überlieferung: die Tatsache, daß Max Brod 1924 Kafkas Testament mißachtete und gegen seinen Willen (aber im Bewußtsein seiner innerlichen Zustimmung) die nachgelassenen Arbeiten - darunter die drei Romane, Prosaskizzen der Oktavhefte und Tagebücher - während der folgenden anderthalb Jahrzehnte veröffentlichte. Die innere Logik, die in diesem Vorgang steckt, entspricht jener von Kafkas Geschichten. Dem im Herbst 1921 formulierten Wunsch, jede von ihm greifbare Zeile ungelesen zu vernichten, folgte ein jahrzehntelanger (noch immer unabgeschlossener) Editionsprozeß, in dessen Verlauf jede von ihm greifbare Zeile veröffentlicht, ausführlich kommentiert und in ihren privaten wie historischen Zusammenhängen erschlossen worden ist. Es gehört jedoch zu den eigenen Gesetzen von Kafkas psychischer Disposition, daß er solche dialektischen Vorgänge der Umkehrung sehr genau gesteuert hat. Wenn er Max Brod mit der Auslöschung seiner Texte beauftragte, so wußte er, daß der Freund, der seine Arbeit wie kaum ein anderer bewunderte, seinem Wunsch nicht entsprechen würde. Die Bitte um Vernichtung der Manuskripte enthüllt folglich die versteckte Sehnsucht nach einem öffentlichen Nachleben, die hier nicht ausdrücklich, sondern in Form einer negativen Dialektik zur Sprache kommt. Kafka möchte gelesen werden, ohne dieses einzugestehen; sein Testament ist daher die verkappte Aufforderung zur Rettung des Nachlasses: ein Text, dessen Kasuistik der Welt seiner Romane entstammt.
     Ehe dieses Buch den Spuren von Kafkas Schriftsteller-Leben folgt, das eine fortwährende Suche nach dem wahren Schreiben war, soll die Sprache der 'letzten Bitte' vernehmbar werden. Es ist eine Sprache, welche die Grenzen zwischen Wirklichkeit und Schein, Bejahung und Verneinung, Wahrheit und Täuschung verwischt; eine Sprache, die - wie die Rede des Talmud - vieles gleichzeitig sagt, weil ihre Zeichen sich entziehen, wenn man sie in ihrer gleitenden Bewegung festhalten möchte. Hinter der paradoxen Logik, die sie ausbildet, steckt das Geheimnis von Kafkas literarischer Welt: "Liebster Max, meine letzte Bitte: Alles, was sich in meinem Nachlaß (also im Buchkasten, Wäscheschrank, Schreibtisch, zuhause und im Bureau, oder wohin sonst irgend etwas vertragen worden sein sollte und Dir auffällt) an Tagebüchern, Manuscripten, Briefen, fremden und eignen, Gezeichnetem und so weiter findet, restlos und ungelesen zu verbrennen, ebenso alles Geschriebene oder Gezeichnete, das Du oder Andre, die Du in meinem Namen darum bitten sollst, haben. Briefe, die man Dir nicht übergeben will, soll man wenigstens selbst zu verbrennen sich verpflichten. Dein Franz Kafka."

Teil 2