Vorworte

Leseprobe zu Abel Quentin: Der Seher von Étampes

Über Bücher, die kommen.

Zurück zu Angela Schaders "Vorwort".

==================

Roscoff hat seine Tochter Léonie und Jeanne, ihre neue Partnerin, zum Nachtessen eingeladen. Es ist der zweite Anlauf nach einer ersten, verunglückten Begegnung zu dritt. Der Protagonist ist nach der Kritik an seinem Buch exponierter denn je - und schießt sich einmal mehr selbst ins Knie.

Das Osso Buco war ganz gut gelungen: Die Beinscheiben vom Kalb zergingen förmlich auf der Zunge. Auch das Gespräch war nicht allzu verklemmt - ab und zu wurde sogar freudig gelacht. Léonie strahlte: Mit ihrem Babyshambles-Shirt, ihren Slim-Fit-Jeans und ihren Repetto-Ballerinas sah sie erstaunlich feminin aus. Vermutlich hatte ihre Freundin sie dazu gebracht, sich von ihren Butch-Codes zu verabschieden, und das missfiel mir gar nicht: Ich hatte immer das Gefühl gehabt, dass ihr Trucker-Style weniger einem innigen Wunsch entsprach als einer notwendigen Transition, einer Strategie, ihre sexuelle Identität für alle sichtbar zu machen. Ihrem Moment der Negativität, mit Sartre gesprochen. Jetzt schien sie diesbezüglich eine Art Ruhe gefunden zu haben, und vielleicht war es nicht mehr zwingend notwendig, kanadische Trapper-Hemden und Timberlands zu tragen. Ein Album von Fats Waller begleitete unser Geplauder. Léonie erzählte ein paar schmackhafte Anekdoten über das Body Language-Modul, das sie im Auftrag einer großen Handelskette ausgearbeitet hatte: "Die haben ein Millionengeschäft verloren, in Marokko, weil ihr Verhandlungsführer die Beine so überschlagen hat, dass der Gesprächspartner die Schuhsohle sehen konnte. In manchen maghrebinischen Ländern gilt das als Geste der Beleidigung." Ich stellte ihr Rückfragen, beglückwünschte sie. Vielleicht war ihr Job alles in allem doch irgendwie interessant, und nicht nur heiße Luft. Die Entschlüsselung nonverbaler Kommunikation war sogar von strategischer Bedeutung und wer sie beherrschte, konnte den Verlauf menschlicher Unternehmungen beeinflussen. Ich hatte den Artikel über mein Buch vergessen, ich war bereit, allen die Absolution zu erteilen, alles zu verstehen. Mit Hilfe des Côtes du Rhône kam auch Jeanne ein bisschen aus der Deckung: Objektiv gesehen wies ich keines der charakteristischen Merkmale eines dominanten Männchens auf, ich war weder Steven Seagal noch Lino Ventura. Meine Tochter behandelte mich wie eine alte, leicht übergeschnappte Freundin und ich nahm diese mir angetragene Rolle dankend an. Allmählich begann ich, Jeanne zu mögen, die Frau mit den strengen Zügen: Wahrscheinlich hatte sie auch viel gelitten. Inmitten des Chaos klammerte sie sich an die Slogans des radikalen Feminismus: Wer hätte ihr das zum Vorwurf machen können? Die Unterhaltung plätscherte flüssig dahin, bis zum Dessert. Als ich die drei Schälchen Crème brulée auf den Topfuntersetzer stellte, fragte Jeanne:

"Und, haben Sie ein paar Artikel bekommen?"

Unmerklich hatte sich ihr Blick zugezogen. Ich wusste, dass sie es wusste. Es hat keinen Sinn, ihr etwas vorzuspielen, sagte ich mir. Es tat mir in der Seele weh, eine Oktave hinabsteigen zu müssen, zu schweren und spaltenden Themen, die die gute Laune, die sich wider Erwarten dieses Abendessens bemächtigt hatte, zweifellos kompromittieren würden. Ich legte die Topflappen auf den Tisch. Gut, dann also zum Blogartikel, dann also zur kulturellen Aneignung. Ich hatte eine ganze Nacht damit verbracht, mich in das Thema einzulesen, ich fühlte mich gewappnet, besser jedenfalls als vor zehn Monaten im Renaissance.

"Haben Sie ihn gelesen? Ich meine, haben Sie den Blogartikel gelesen?"

"Ja, tatsächlich. Den habe ich gelesen."

Jetzt war sie wieder die Puritanerin aus Iowa, die Unflexible, die Schlange. Sie hielt meine Eier zwischen den Klingen einer Gartenschere und jubilierte innerlich. Sie ließ sich Zeit, genoss es, mich schmoren zu lassen. Warum wartete sie, um ihr Verdikt auszusprechen? Vielleicht wäre es ihr lieber gewesen, dass ich es selbst verkündete. Sie gab mir eine letzte Gelegenheit, mein eigenes Urteil zu fällen, denn es reichte nicht, dass ich büßte, ich musste auch Urheber meiner Strafe sein. Ich wurde ein bisschen gereizt:

"Ja, dann sagen Sie doch ruhig, was Sie davon halten, Jeanne. Ich nehme an, Sie wollen mir etwas sagen, nicht wahr?"

"Wenn Sie mich jetzt ernsthaft nach meiner Meinung fragen, sind Sie wirklich ein Fall fürs Lehrbuch."

"Ein Fall …? Haben Sie das Buch denn gelesen? Haben Sie das Buch wenigstens gelesen?"

"Der Artikel ist recht detailliert, ich glaube, wenn man ihn gelesen hat, hat man schon eine ziemlich genaue Vorstellung. Achtung, ich sage nicht, dass Sie dieses Buch mit böswilliger Absicht geschrieben haben. Ich sage nur, dass Sie sich die Figur einer Schwarzen Person aus Amerika auf illegitime Weise aneignen. Das ist ultrasymptomatisch. Sie machen sie ihrer ursprünglichen Community streitig, einer Community, der über Jahrhunderte hinweg alles weggenommen wurde. Aber das reicht noch nicht. Willow muss unbedingt Franzose sein, und vor allem darf er bloß nicht zu Schwarz sein."

"Warte mal", flehte Léonie. "Wir haben da doch schon drüber gesprochen. Das ist eine andere Generation!"

Sie war völlig aufgelöst. Zum zweiten Mal ging ihr Traum vom geschwisterlichen Bankett zu Bruch.

"Man kann sich nicht hinter Generationsproblemen verstecken. Das ist ja genau das, was die Verteidiger von Polanski immer gesagt haben: Kann man nicht verstehen, das waren die Siebzigerjahre. Immer die alten Tricks. Ich glaube schon, dass man eine Generation zur Rechenschaft ziehen kann. Ich glaube, dass es unantastbare moralische Kriterien gibt."

"Und was gebieten die?", stammelte ich. Ich hatte drei oder vier Gläser Vorsprung, und die machten sich gnadenlos bemerkbar.

"Dass ein Weißer nicht das Leben eines Schwarzen zu erzählen hat, weil er es nur verzerren kann."

Sie stocherte mir in der Seele herum. Ich fühlte mich nackt, verletzlich. In den Tiefen meines Blicks machte sie Jagd auf die beschämenden Geheimnisse einer Generation, sie wollte mich opfern, als Vergeltung für all die Jahrhunderte weißen Patriarchats. Mir wurde bewusst, dass ich mich in ihren Augen wirklich in eine Tradition einschrieb. Ich wollte etwas sagen, aber sie kam mir zuvor:

"Sagen Sie jetzt nicht, dass Sie vor antischwarzem Rassismus gefeit sind. Erzählen Sie mir jetzt nicht irgendwas von Legitimität. Ich kenne Ihre Generation, ich kenne diese Linke. Kleine weiße Männer, die sich ums Mikro reißen, um ihre rassifizierten Brüder zu verteidigen. Aber auf die Idee, dass die vielleicht lieber selber sprechen würden, kommen sie nicht. Oh, wow, der kleine schwarze Mann ist undankbar! Erst will er für sich selber sprechen und dann spuckt er uns auch noch in die Suppe!"

"Das haben Sie gesagt. Legen Sie mir jetzt nicht Ihre Worte in den Mund."

"Hören Sie. Man hat uns unser Land genommen, man hat uns unsere Kinder gestohlen. Und jetzt stehlen Sie uns auch noch unser Wort, unsere Künstler. Ach ja, ich vergaß, Sie sind ja Universalist. Der ewige Joker: U.N.I.V.E.R.S.A.L.I.S.M.U.S. Für Sie gibt es nur freie Menschen. Diese Leier kenne ich. Das humanitäre Evangelium. Menschenrechte, die Fortführung der weißen Herrschaft mit anderen Mitteln! All die Energie (tonnenweise Energie, Millionen durchgeschwitzte Hemden), die Sie aufwenden, um zu beweisen, dass Sie vollkommen colorblind auf die Welt schauen! Aber können Sie sich vielleicht mal eine Sekunde lang zurücknehmen? Schwarze Menschen und Araber*innen sagen Ihnen ständig, dass man sie als Schwarze Menschen und Araber*innen behandelt. Können Sie einfach mal darauf hören, was die zu sagen haben, und für eine Sekunde die Klappe halten? Sie. Ja, Sie. Ihre ganze Truppe da, Sie und die anderen. Und euer ganzes angebliches Verständnis. Ihr berauscht euch ja förmlich daran! Und jetzt, wo die Kämpfe ohne euch laufen, kriegt ihr plötzlich eine Scheißangst, jetzt zittert und wimmert ihr auf einmal!"

Ich grollte:

"Wenn man Ihnen so zuhört, laufen die Kämpfe nicht ohne, sondern gegen uns."

"Ja klar laufen die gegen euch. Weil ihr die Unterdrücker des Alltags seid. Kann sein, dass Sie kein Rassist sind. Aber über euch wird Rassismus weitergegeben. Der Rassismus leiht sich eure großen Worte, die Republik und so weiter, er reitet auf euren großen Worten, um sich fortzubewegen, um zu zirkulieren. Der Rassismus sitzt rittlings auf euren republikanischen Prinzipien, bestens gelaunt! Und Sie so: Ich bin nicht böse! Ich will nichts Böses! Sie scheißen auf all das Böse, was Sie verzapfen, für Sie zählt nur, dass Sie es nicht absichtlich gemacht haben. Für Sie zählt nur, dass Sie sich nicht schuldig fühlen müssen. Das ist Ihre große Sorge. Was macht das für einen Unterschied für Personen, die von Rassismus betroffen sind? Und abgesehen davon sind Sie nämlich doch rassistisch. Die Leiden rassifizierter Personen, die Leiden derer, die vielleicht von universeller Weltbürger*innenschaft träumen, aber wissen, dass es das für sie nie geben wird, sind Ihnen scheißegal. Dieses Leid ist nur dann interessant, wenn Sie damit die Welt belabern können!"

"Und was ist mit der Konvergenz der Kämpfe?", wandte Léonie zögernd ein.

Sie war den Tränen nahe.

"Die Konvergenz der Kämpfe ist ein Austausch von best practices, nicht mehr. Man kämpft Seite an Seite mit anderen Minderheiten, aber man spricht nicht an ihrer Stelle. Über antischwarzen Rassismus können nur Schwarze Personen etwas sagen!"

"Aber das ist es ja gerade, der Artikel wirft Papa doch vor, dass er nichts dazu sagt."

"Ja, und das ist noch schlimmer. Das ist Identitätsraub."

Dieses Biest hatte ein Gespür für Formulierungen. Jeanne war bestens bewandert, beherrschte jedes einzelne ihrer Folterinstrumente und handhabte sie mit großem Geschick, legte das eine nur ab, um ein anderes zur Hand zu nehmen, da jedes von ihnen eine bestimmte Verletzung zuzuführen vermochte. Sie hatte mich in die Enge getrieben, ich schnaufte wie ein Zehnender, den die Meute umzingelt hatte. Es brauchte einen Gegenangriff. Ich hörte Marcs Stimme Sun Tzu zitieren, während er vor den Augen seiner betörten Klienten über die Glasglocke mit den kleinen Zinnsoldaten strich: "Wer sich verteidigt, zeigt, dass seine Stärke nicht ausreichend ist; wer angreift, hat Stärke im Überfluss." Gegenangriff. Sich nicht Punkt für Punkt rechtfertigen: Damit würde ich schnell ans Ende meiner Kräfte kommen. Die Sache mit dem systemischen Rassismus, bei der Intentionalität keine Rolle spielte, war eine ausgesprochen wirksame Waffe. Der Dolch konnte jeden Moment zustechen. Ich suchte nach einer Killerformulierung, einer Parade, die dem Spiel ein sofortiges Ende bereiten würde, aber mein Gehirn brachte keinen artikulierten Gedanken hervor, da war nur dieses tiefe Gefühl von Ungerechtigkeit. Bissig platzte es aus mir heraus:

"Faschisten seid ihr."

Jeanne sprang auf, hochrot vor Wut. Sie sah Léonie auffordernd an. Meine Tochter weinte still, von diesem fürchterlichen Loyalitätskonflikt in Stücke gerissen. Zum zweiten Mal in ihrem Leben zerfleischten sich zwei Menschen, die sie liebte, vor ihren Augen und verlangten von ihr, sich zu entscheiden. Jeanne erwartete, dass sie etwas sagte, sie erwartete, dass ihre Partnerin sich für eine Seite entschied (Geschlecht gegen Clan, Sisterhood gegen den Vater), aber kein Wort kam über ihre Lippen. Hastig sammelte Jeanne ihre Sachen zusammen und öffnete die Tür.

"Ich warte draußen. Du hast fünf Minuten", peitschte sie und betonte dabei jede einzelne Silbe.

Die Tür schlug zu. Léonie war verstört, ihr Brustkorb hob sich bebend. Ich stützte mein Gesicht auf die Hände. Ich war erschöpft, ich versemmelte einfach alles, ich wusste, dass meine Tochter Besseres verdiente als dieses fürchterliche Ende.

"Es tut mir leid, Léonie. Es tut mir wirklich leid."

Ich ließ ein paar Sekunden verstreichen.

"Geh zu ihr. Ich glaube, es ist besser, wenn du zu ihr gehst."

Ich hatte mir selber Schmerz zugefügt, indem ich ihr das sagte. Vor ein paar Jahren noch hätte ich das Opfer gespielt, hätte ich hinzugefügt: "Lass gut sein, nicht schlimm, wenn dein alter Vater mal ein bisschen leidet." Heute musste ich endlich damit aufhören, Léonie das Leben schwer zu machen, die Arme saß zwischen allen Stühlen, die Ereignisse zerrten an ihr, in einer Welt, von der sie auch nicht mehr verstand als ich. Ich begleitete sie zur Tür und küsste sie flüchtig auf die Wange. Sie ließ mich walten, niedergeschmettert, mit geröteten Augen. Jeanne als Faschistin beschimpfen, oh Mann, das war so was von erbärmlich. Es war doch offensichtlich, dass hinter ihren Ausfälligkeiten, ihrer Aggressivität leidvolle Erfahrungen standen. Ich war dreißig Jahre älter als sie, es war an mir, Abstand zu den Dingen zu gewinnen. Ich hätte die Wahrheit sagen sollen, ganz einfach. Aber die Wahrheit erforderte die ganze lange Zeit einer zögerlichen Erklärung, und es war nicht sicher, dass Jeanne die Geduld gehabt hätte, sich eine zögerliche Erklärung anzuhören. Was hätte ich ihr sagen sollen? Dass Willow mich berührt hatte, auf eigentümliche, besondere Weise, dass sein rebellisches Lied in mir eine einzigartige Resonanz gefunden hatte. Dass sein Sezessionsakt von einer ruhigen Entschlossenheit zeugte, die mir immer gefehlt hatte. Er hatte sich friedfertig in die Einsiedelei begeben, er war nicht mit einem Tobsuchtsanfall abgetreten, er war nicht geflohen, sondern ganz einfach fortgegangen, und das machte keinen Heiligen aus ihm und auch kein außergewöhnliches Wesen, aber vielleicht so etwas wie ein Vorbild, jedenfalls war der Willow der letzten Jahre ein Vorbild für mich, ja. So kann man es sagen. Und ich bin vermessen genug, um dir, Jeanne, zu sagen; ich werde dieses Sakrileg begehen und denken, dass ich Willow besser verstehe als du. Ich sage dir das ohne Arroganz, und ich sage es dir ohne Scham: Willow gehört dir nicht.

Mit freundlicher Genehmigung des Verlags Matthes und Seitz