Bücher der Saison

Bücherherbst 2009

18.11.2009. Dies ist ein Literaturherbst! Man kann sich auf literarische Entdeckungsreise nach China begeben. Eine Vielzahl von gut besprochenen deutschen Romanen ist erschienen, allen voran Herta Müllers "Atemschaukel". Und in den Amerikas sind zwei fette Romane erschienen, die die Rezensenten euphorisiert und erschöpft haben. Viel Spaß beim Lesen!
Drei Romane prägten diesen Literaturherbst: Herta Müllers "Atemschaukel", Roberto Bolanos "2666" und David Foster Wallaces "Unendlicher Spaß". Die letzten beiden Bücher, über 1000 Seiten lang, verlangten den Rezensenten das letzte ab. Bei den politischen Büchern findet man vor allem Neuerscheinungen zu 1989. Zu den interessantesten Sachbüchern zählen einige Neuerscheinungen zu Musik. Es war nicht ganz einfach, die Bücher der Saison in diesem Jahr zusammenzustellen, denn die Verlage sind dazu übergangen, neue Bücher über das ganze Jahr zu verteilen, während sich früher das meiste auf den Frühling und den Herbst konzentriert hat. Wir haben daher auch einige Bücher aufgenommen, die schon seit ein einigen Monaten im Handel sind, aber erst im Sommer besprochen wurden.

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Reportagen

Rein literarisch gesehen war der Ehrengast China ein kleiner Erfolg bei der Kritik. Bei den Romanbesprechungen spürte man manchmal eine leichte Verhaltenheit, ein Befremden angesichts der Drastik, mit der einige chinesische Autoren schreiben. Um ein Gefühl für die chinesische Realität zu bekommen, empfiehlt es sich vielleicht, zuerst einen der beiden ausgezeichneten Reportagebände zu lesen, die jetzt auf Deutsch erschienen sind. Die wahren Geschichten, die hier erzählt werden, sind teilweise derartig ungeheuerlich, dass man sich von der Sprache eines Mo Yan oder Yu Hua, die die Auswirkungen der Kulturrevolution immerhin selbst miterlebt haben, vielleicht nicht so leicht abschrecken lässt.

Liao Yiwu hat für "Fräulein Hallo und der Bauernkaiser" Gespräche mit all denen geführt, deren Existenz die Partei am liebsten leugnet. Einige von ihnen hat er kennengelernt, als er wegen seines Gedichts "Massaker" im Gefängnis saß, andere in den Jahren, in denen er selbst ganz unten lebte (und heute wohl immer noch lebt), oft auf der Flucht vor den chinesischen Behörden. Zu den Interviewten gehören unter anderem eine Prostituierte, eine Falun-Gong-Anhängerin, ein buddhistischer Mönch, ein Feng-Shui-Meister, der eine haarsträubende Geschichte über zwei Totenrufer erzählt, oder ein Toilettenmann, der erzählt, dass Fäkalienräuber früher "Selbstkritiken schreiben mussten. In der Kulturrevolution zitierten die Exkrementenräuber durchweg aus der Mao-Biblel die 'notwendige Kritik am Revisionismus', später hieß es, Diebe von Fäkalien seien von der Profitgier Liu Shaoqis [Präsident der VR China von 1959 bis zu seiner Verhaftung 1965] vergiftet." Für Susanne Messmer (taz) erweist sich Liao Yiwu als einer der "radikalsten, manischsten und brillantesten" Archäologen und Archivare der Erinnerungskultur". Alex Rühle sprach in der SZ dem Band das Prädikat "epochal" zu. In der NZZ würdigt Ludger Lütkehaus das Buch als Dokument ebenso wie als literarischen Text. Hier eineaus der Lettre 2007.

Unbedingt lesenswert ist auch Yang Xianhuis "Die Rechtsabweichler von Jiabiangou" (). Es enthält 19 Interviews, die der ehemalige "glühende Rotgardist" (taz) mit Überlebenden des Umerziehungslagers Jiabiangou geführt hat. Im Zuge von Maos "Hundert-Blumen-Kampagne" wurden die Intellektuellen Ende der 50er Jahre aufgefordert, Kritik an der Partei zu üben - wer nicht mitmachte, dem wurde mangelnde Loyalität mit der Partei unterstellt. Die Kritik nahm jedoch schnell ein derartiges Ausmaß an, dass sie schließlich unterdrückt und die Kritiker in Umerziehungslager verschleppt wurden. In diesem Buch, das größtenteils die Überlebenden selbst sprechen lässt, überwiegt ein lakonischer Ton, der die entsetzlichen Zustände des Lagers drastisch vor Augen führt, so die beeindruckte NZZ. Die taz hat das Buch gleich zweimal besprochen: Christian Semler (selbst viele Jahre Großer Vorsitzender der maoistischen KPD/AO in Deutschland) hat den Eindruck "rückhaltloser Ehrlichkeit", die Interviewten "verschweigen auch nicht, wessen sie sich schämen". Im Zentrum aller Aufzeichnungen stehe der Hunger. Susanne Messmer zeigte sich, ebenfalls in der taz, von der bildreichen und klaren Erzählweise der Interviewten beeindruckt. In China durfte das Buch übrigens erscheinen, weil Xang Xianhui der Zensur seine Interviews als Fiktion verkauft hatte.

Schon 2006 erschienen, aber immer noch sehr zu empfehlen ist die Reportage von Chen Guidi und Wu Chuntao "Zur Lage der chinesischen Bauern". Für die englische Ausgabe haben die beiden 2004 den Reportagepreis Lettre Ulysses Award gewonnen. Das Buch ist leider vergriffen. Vielleicht entscheidet sich ein Verlag, es wieder herauszubringen? Im ZVAB, bei Amazon oder abebooks findet man es gebraucht.


Romane

Yu Huas Roman "Brüder" hat die Kritiker nicht nur als Epochenroman von buddenbrookschem Format ungemein beeindruckt. Sie fanden ihn auch richtig komisch! In der Zeit staunt Hans-Christoph Buch über den Reichtum des Romans, der die grausame Tragödie der Kulturrevolution ebenso schildere wie die Farce der Reformpolitik. Und dass hier nach Herzenslust "gefurzt, gepisst und gevögelt" wird, hält der vergnügte Buch für einen gezielten Angriff auf die guten Sitten. NZZ-Kritiker Andreas Breitenstein rühmt das 768 Seiten starke Werk als vielschichtiges, welthaltiges und "ironisch-heiteres, gefühlsstark-witziges Schelmenstück". Unbedingt empfehlen möchte auch der Philologe und Übersetzer Fung On Lui in der FR diesen Roman. In der taz rümpfte Lennart Laberenz das Näschen: "bestenfalls kurzweilig". Die Bedeutung der öffentlichen Toiletten, die auch in einem der Interviews von Liao Yiwu erörtert werden, wird einem gleich zu Beginn der Geschichte klar vor Augen geführt: Hier eine

Li Ers Roman "Koloratur" spielt in den dreißiger Jahren und erzählt von dem Lyriker, Übersetzer und Parteikader Ge Ren, der, wie Li Er der Zeit erzählte, dem - real existierenden - Journalisten und Schriftstellers Qu Qiubai nachempfunden ist, einem Führungsmitglied der kommunistischen Partei, die ihn später aus unklaren Gründen ausschloss und schließlich hinrichten ließ. Ge Ren, ein Held des chinesisch-japanischen Krieges, gewinnt indirekt Gestalt durch die Zeugenaussagen, die über ihn berichten. Die Zeugen, die über ihn in den vierziger, sechziger Jahren und der jüngsten Zeit berichten, betrachten ihn natürlich jedesmal aus einer anderen Perspektive. Der Roman ist nicht einfach zu lesen, warnt Iris Radisch in der Zeit, aber die Lektüre scheint sich in jedem Fall zu lohnen.

Es ist das Jahr 1979 in China und die ehemalige Rotgardistin Gu Shan soll hingerichtet werden, weil sie nicht mehr dem Kommunismus folgt. Der Debütroman der 1972 in China geborenen und seit 1996 in Amerika lebenden Yiyun Li, "Die Sterblichen" ist eine Geschichte über das postmaoistische China, über einen "Kosmos des Grauens, dem man sich kaum entziehen kann", wie die FAZ festhält. Die SZ geht sogar noch einen Schritt weiter: nicht nur hat sie eine "sehr chinesische Geschichte" gelesen, sie hält sich auch nicht zurück, den Titel "Weltliteratur" diesem Buch zuzusprechen. Und als Dritter stimmt Johannes Groschupf in der Berliner Zeitung in den Lobgesang ein, der Yiyun Li "Mut", "geduldig gebändigten Zorn" und "erzählerische Meisterschaft" bescheinigt. Von der Vielzahl der Besprechungen in den USA und Großbritannien sei auf Pico Iyers Rezension in der New York Times Book Review hingewiesen.

Von Mo Yan sind in diesem Herbst gleich zwei Romane erschienen. Der erste, "Die Sandelholzstrafe" ist eine Geschichte aus der Zeit des Boxeraufstands 1900 um den letzten großen Folterer der Kaiserin-Witwe Cixi und den gewitzten Meister der Katzenoper, Su Bing, der von jenem hingerichtet werden soll. Die NZZ ist beeindruckt von der Lebendigkeit, mit der Mo Yan seine Figuren zeichnet. Aber auch abgestoßen von den Gewaltdarstellungen, die ihr einigermaßen voyeuristisch zu sein scheinen. Auch Alex Rühle bewundert in der SZ die erzählerische Kraft des Autors, warnt aber, die lustvoll expliziten Beschreibungen der Folterungen und der volkstümlich burleske Ton könnten sensibleren Lesern unangenehm aufstoßen. Rühle las auch Mo Yans Roman "Der Überdruss" der in den 50er Jahren während der Landreform spielt. Der 1955 geborene Yan erzählt seine Geschichte "kühl" und "kraftvoll", schreibt Rühle, der nach Lektüre der beiden Romane das Gefühl hatte, alle Danteschen Höllenkreise durchlebt zu haben.

Ma Jians Held in "Peking Koma" der Student Dai Wei, wird bei der Niederschlagung der Proteste auf dem Tiananmen-Platz von einer Kugel am Kopf getroffen und liegt danach zehn Jahre lang im Koma. Aber sein Geist ist wach. Unentwegt reflektiert er seine eigene Geschichte. Zugleich erlebt er, wie sich die Gesellschaft um ihn herum wandelt. "Aus dem Gewebe der Einzelerinnerungen entsteht mit der Lektüre ein Gesamtbild, welches jedoch nie beendet wirkt, sondern die Schorfen und Kanten des Schaffensprozesses beibehält", lobt der hochbeeindruckte Roman Halfmann im Hessischen Rundfunk. Auch die FAZ reagierte mit Respekt. Der Autor Yan Lianke ist ein gutes Beispiel für die Zwiespältigkeit des heutigen Chinas. Geboren als Sohn armer Bauern schlug er sich als Wanderarbeiter durch, bis er mit 20 Jahren in die Armee eintrat und zu schreiben begann, erzählt Iris Radisch in der Zeit. Seine systemkonformen Erzählungen und Theaterstücke wurden mit höchsten Preisen bedacht. Mit Mitte dreißig entschied er sich, nur noch wahre Geschichten zu schreiben und jetzt landen seine Bücher regelmäßig auf dem Index. So auch "Der Traum meines Großvaters" Die FAZ bewundert den Roman als literarisches Denkmal für die Aids-Opfer des Blutspendenskandals in China Mitte der 90er Jahre wie auch als Zeugnis des literarischen Talents des Autors. Die Zeit beschreibt ihn als "eine gekonnte Synthese aus naivem Realismus, beißender Groteske und moderner Lakonie".


Lyrik

Zwei Dichter seien hier vorgestellt, beide Exilautoren: Yang Lian und Bei Dao. Über Yang Lians Gedichte in "Aufzeichnungen eines glückseligen Dämons" meint Ulrich Baron im Spiegel, sie seien allein schon die Buchmesse wert gewesen. Roman Halfmann lobt im Hessischen Rundfunk Autor und Verlag, weil in der zweiten Hälfte des Bandes die Gedichte durch Reflexionen des Autors "näher bestimmt, jedoch nicht erklärt werden ... die Reflexionen des Autors erhellen seine Motive und geben vor allem den europäischen Lesern wichtige Anhaltspunkte, ohne welche die Lyrik dunkel bleiben muss, gleichwohl sie nicht ihren Reiz einbüßt". Bettina Harz, die den im Exil lebenden Yang Lian, Sohn einer Diplomatenfamilie, für den Freitag porträtiert hat, findet immer wieder "Verstehensinseln, die neue Erfahrung erlauben" und sie zitiert: 'Auf dem Teppich sind die Fußspuren eines Jahrhunderts / niemals einsam. Sie schälen einander die Haut / und lauschen vor dem Fenster demselben Gewittersturm.' Susanne Meyer, die den Autor für die Zeit getroffen hat, bewundert seine Musikalität. Auf Bayern 2 kann man Martin Umbach aus dem Band lesen hören (siebter Absatz).

Sehr gelobt wurde auch Bei Daos "Das Buch der Niederlage" Hier wurde in den Rezensionen auch ganz gut die äußerst schwierige Übersetzungsarbeit von Wolfgang Kubin und Karin Betz beschrieben. In der NZZ erklärt Marion Löhndorf, Bei Daos Gedichte seien "vielfältig auslegbar. Offenheit ist ihr Stilprinzip. Dies ist sicher einer der Gründe, die ihren Übersetzer - der übrigens, durchaus überzeugend, Bei Dao als Erben Lorcas und Celans bezeichnet - fast verzweifeln lassen. 'Man kann nichts richtig machen', schreibt Wolfgang Kubin im Nachwort. Den Dichter zu Rate zu ziehen, half wenig, denn der ist - wenig verwunderlich - 'nicht sonderlich auskunftswillig'." In der SZ bemerkte Andreas Dorschel jedenfalls eine "innere Stimmigkeit" der deutschen Übersetzung.

Schließlich sei noch auf ein Hörbuch hingewiesen, dass zwar nirgends besprochen wurde, aber doch interessant zu sein scheint: Für "Schmetterlinge auf der Windschutzscheibe" hat der 1963 geborene, in Peking lebende chinesische Lyriker Xi Chuan, zehn Dichter ausgewählt. "Fast alle gehören der so genannten 'posthermetischen' Dichtung aus China an, die im Unterschied zur 'hermetischen' Dichtung im deutschsprachigen Raum noch wenig bekannt ist. In der Folge der traumatischen Ereignisse auf dem Platz des Himmlischen Friedens 1989 wandten sich diese Dichter vermehrt und in sehr individueller lyrischer Ausdrucksweise der Wirklichkeit zu", lesen wir auf der Webseite des Netzwerks der Literaturhäuser. Die Übersetzungen von Marc Hermann und Raffael Keller wurden dann von Schauspielern wie Hanns Zischler oder Sophie Rois eingesprochen. Hörproben und mehr Informationen über die Autoren finden Sie hier.


Sachbücher

Interessant erscheint uns vor allem der Band "Wie China debattiert" herausgegeben von der Böll-Stiftung, mit aktuellen Essays chinesischer Intellektueller über notwendige Reformen in China. FAZ und taz staunen gleichermaßen über die Offenheit, mit der hier Missstände und Tabus debattiert werden. Das ist umso bewundernswerter als immer noch Menschen verhaftet werden, die sich für Reformen aussprechen. Joachim Fulda, der das Buch im Blog der "Gesellschaft für bedrohte Völker bespricht, erinnert daran, dass während der Buchmesse "der ehemalige Literaturprofessor Guo Quan aus Nanjing, der chinesischen Partnerstadt von Göttingen, Leipzig und weiterer deutscher Städte, für zehn Jahre ins Gefängnis muss. Der Grund: er engagiert sich für die Demokratisierung Chinas." Sehr gut besprochen wurde auch Mark Leonards Band "Was denkt China?" der darin die Gespräche protokolliert, die er im Laufe der vergangenen zehn Jahre mit chinesischen Theoretikern geführt hat. Der Zeit wurde hier mancher Entscheidungsprozess der chinesischen Politik verständlicher. Die taz findet den Band instruktiv. Für die SZ ist er eine der "prickelndsten" Neuerscheinungen zu China, aber sie stellt auch klar, dass es Leonard um die offziellen Debatten innerhalb der KP geht: Das Machtmonopol der Partei werde niemals in Frage gestellt.

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