Bücherbrief

Schiere Schönheit und Skurrilität

06.10.2017. Marion Poschmann begibt sich auf eine zart schillernde Reise zu den japanischen Kieferninseln. Robert Menasse macht Brüsseler Bürokratie mit scharfem Witz literaturfähig. Sasha Marianna Salzmann schreibt wild und anarchisch über Jüdisch- und Queersein in Istanbul. Han Kang erinnert an das koreanische Gwangfu-Massaker. Und Arlie Russell Hochschild reist ins Herz der amerikanischen Rechten nach Louisana. Dies alles und mehr in den besten Büchern des Monats Oktober.
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Weitere Anregungen finden Sie der Krimikolumne "Mord und Ratschlag", in Arno Widmanns "Vom Nachttisch geräumt", der Lyrikkolumne "Tagtigall", in unseren Büchern der Saison, den Notizen zu den jüngsten Literaturbeilagen und in den älteren Bücherbriefen.

Literatur

Joseph Andras
Die Wunden unserer Brüder
Roman
Carl Hanser Verlag 2017, 160 Seiten, 18 Euro



In Frankreich hat Joseph Andras' Debütroman über den Algerienkrieg für einigen Wirbel gesorgt: Denn der Autor erzählt hier die verdrängte Geschichte des Algerienfranzosen und Kommunisten Ferdinand Iveton, der als einziger Europäer vom französischen Staat hingerichtet wurde. NZZ-Kritiker Jürgen Ritte mag nicht mal glauben, dass es sich um ein Debüt handelt: So meisterhaft, ohne Larmoyanz und Parteilichkeit, kühl, doch empathisch, fast wie Flaubert, erzählt ihm Andras die wahre Skandalgeschichte. In der SZ wird Joseph Haniman von den so trockenen wie strengen Sätzen getroffen wie von "Faustschlägen". Vor allem ist er dankbar, dass Andras intellektuelle Pariser Debatten auslässt und stattdessen in Rückblenden Kindheit und erste Liebe des Helden in die finsteren Beschreibungen der Gefangenschaft einflicht. Auch FR-Kritiker Martin Oehlen gehen die drastischen Schilderungen von Folterung und Prozess unter die Haut. Auf Deutschlandfunkkultur lobt Dina Netz die literarische Feinheit des Buches, in dem der Autor auch bewegend von Ivetons großer Liebe zu seiner Frau Helene erzählt. Für den Standard hat sich Ruth Renee Reif mit Andras über Kolonialismus, Algerienkrieg, Verdrängung in Frankreich und den abgelehnten Prix Goncourt unterhalten.

Marion Poschmann
Die Kieferninseln
Roman

Suhrkamp Verlag 2017, 168 Seiten, 20 Euro



Marion Poschmann veröffentlicht in schöner Regelmäßigkeit abwechselnd Prosa und Lyrik. Das Denken und Schreiben in beiden Gattungen scheint außerordentlich fruchtbar zu sein, wie man den Reaktionen auf ihren neuen Roman "Die Kieferninseln" entnehmen kann. Poschmann erzählt hier die Geschichte des Bartforschers Gilbert, der auf einer spontanen Japanreise den lebensmüden Chemie-Studenten Yosa Tamagotchi kennenlernt und mit ihm die Wanderung wiederholt, die der Dich­ter Matsuo Bas­ho En­de des 17. Jahrhunderts angetreten hatte. In der FR mag Judith von Sternburg das Buch nur ganz vorsichtig anfassen, so "zart und schillernd" findet sie es. FAZ-Kritiker Andreas Platthaus las es vor Begeisterung gleich zweimal: Wie ein "japanisches Lackkunstwerk" erscheint ihm der Roman - unter der Oberfläche "schierer Schönheit und Skurrilität" verbirgt sich ein exaktes Kompositionsprinzip und die Genauigkeit der Recherche, schwärmt der Kritiker. Zeit-Kritiker Alexander Cammann staunt vor allem, wie leichthändig und sprachlich elegant Poschmann in ihrem temporeichen "kleinen Meisterwerk" magische Momente einflicht und dabei Fragen nach dem Wesen der Wirklichkeit stellt. "Knisternd-klug", nennt Paul Jandl in der NZZ das Buch. Und während taz-Kritikerin Katharina Granzin vor allem der Schönheit des Romans erliegt, bewundert Christoph Schröder im Tagesspiegel wie gnadenlos Poschmann die westlichen Japan-Klischees karikiert und gleichzeitig originelles poetisches Potenzial daraus zieht.

Robert Menasse
Die Hauptstadt
Roman
Suhrkamp Verlag 2017, 459 Seiten, 24 Euro



Ausschließlich Lobeshymnen für Robert Menasses "Hauptstadt". In der taz staunt Carsten Otte nicht nur, wie der versierte EU-Kenner und Anti-Nationalist seine Erfahrungen, Recherchen und Fakten zu einem dialektisch angelegten Text verbaut, sondern vor allem darüber, wie Menasse europäische Bürokratie literaturfähig macht. Auch SZ-Kritiker Tobias Lehmuhl ist dankbar, dass Menasse keinen Thesenroman vorlegt, sondern ein mit Leidenschaft und Leichthändigkeit erzähltes Buch über Europa geschrieben hat. Überhaupt betonen die Kritiker das große Vergnügen, das ihnen dieser Roman bereitet hat: Lehmkuhl folgt Menasse auf einem rasanten Streifzug durch Brüssel und erkennt dabei mit leichtem Unbehagen, dass die von Menasse geschilderte Bürokratie und die Machtkämpfe in der Kommission nicht das Ergebnis satirischer Überzeichnung sind. Menasses "sarkastischer Humor" läuft hier zur Hochform auf, meint Ursula März im Deutschlandfunkkultur. In der FR staunt Harald Jähner, wie menschlich und melancholisch der Autor den bürokratischen Klotz und seine einsamen Seelen erscheinen lässt, NZZ-Kritiker Paul Jandl betont vor allem das große Krimi-Potential des Romans, in dem ein Skandal in der europäischen Fleischindustrie aufgedeckt wird. Und im Spiegel liest Björn Hayer den Roman als "Spiegelbild eines Europas der Einzelkämpfer, nicht eines der Solidarität". Eine "literarische Intervention zur richtigen Zeit", meint er.

Sasha Marianna Salzmann
Außer sich
Roman
Suhrkamp Verlag 2017, 366 Seiten, 22 Euro

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Sasha Marianna Salzmann hat sich vor allem als Dramatikerin einen Namen gemacht. Mit der Geschichte um das inzestuös verbandelte Zwillingspaar Anton und Alissa, die als jüdische Kontingentflüchtlinge in den Neunzigern aus Russland nach Deutschland fliehen, nach ihrer Identität suchen und getrennt voneinander in Istanbul landen, hat sie nun ein Romandebüt vorgelegt, dass die KritikerInnen glatt umgehauen hat: In der Zeit lobt Ijoma Mangold den frischen Sound, der ihm aus Salzmanns autobiografisch grundiertem Roman entgegenweht. Wenn ihm die Autorin wütend und kühl von der Halt- und Heimatlosigkeit ihrer Figuren erzählt und dabei drei Generationen sowjetische Familiengeschichte schillern lässt, stört es ihn nicht mal, wenn es erzähltechnisch gelegentlich ein wenig ächzt. In der FAZ staunt Sandra Kegel, wie Salzmann dem Russischen, Jiddischen und Türkischen ganz unterschiedliche Empfindungen ablauscht. Im Deutschlandfunk liest Christoph Schröder ein "wildes, anarchisches" Buch, das dialogstark zwischen den Szenen, Perspektiven und Stilen switcht, mit Geschlechtsidentitäten spielt, stringente Deutungen von Vergangenheit verweigert und sein komplexes Figurengeflecht im Griff hat. Und im Spiegel lauscht Tobias Hausdorf einer hierzulande so noch nicht gehörten Stimme über Migration, Antisemitismus, Jüdisch- und Queersein. Weitere hymnische Besprechungen gibt es in SZ, FR und Tagesspiegel. Und für die NZZ hat sich Paul Jandl mit der Autorin getroffen.

Anuk Arudpragasam
Die Geschichte einer kurzen Ehe
Roman
Hanser Berlin 2017, 224 Seiten, 22 Euro



Anuk Arudpragasam erzählt in seiner "Geschichte einer kurzen Ehe" an nur einem einzigen Tag und in nur einer einzigen Nacht die Situation in einem tamilischen Zivilistenlager in Sri Lanka im Jahre 2009. Für NZZ-Rezensentin Claudia Kramatschek ist es ein "eminentes Buch über die menschliche Hoffnung", in dem der tamilische Autor in ergreifend schöner Sprache, auf Kitsch, Sentimentalität und Schuldzuweisungen verzichtend vom Trauma des Bürgerkrieges erzählt. In der FR bewundert Sabine Vogel vor allem, wie Arudpragasam in seinem Debütroman die Ereignisse um die kurze Beziehung zwischen Dinesh und Ganga entfaltet und dabei so "zart" wie brutal beschreibt, wie die Menschen in diesem Grauen ganz auf ihre Körper reduziert werden und alle Persönlichkeit von ihnen abfällt. Dass Politik, etwa der Konflikt zwischen Tamil Tigers und den Regierungstruppen hier keine Rolle spielt, stört FAZ-Kritikerin Verena Lueken nicht: Der Autor erzählt so poetisch, hochkonzentriert und ohne Scheu vor Gewalt, dass sie den Roman gleich zweimal lesen möchte: "Ein ganz besonderer Epitaph, geschrieben von einem Hochbegabten", schwärmt sie. Und für im NDR hat Annemarie Stoltenberg gar einen Roman gelesen, der sich dem Terror kraftvoll entgegensetzt und "wie eine Kerze in allertiefster Dunkelheit" leuchtet.

Han Kang
Menschenwerk
Roman
Aufbau Verlag 2017, 224 Seiten, 20 Euro



Mit dem poetisch-surrealen Roman "Die Vegetarierin" gelang der koreanischen Autorin Han Kang auch hierzulande der Durchbruch. In ihrem Roman "Menschenwerk" erzählt Kang von dem Massaker, das die südkoreanische Militärjunta bei der Niederschlagung der Studentenproteste 1980 in Gwangju anrichtete und dessen Folgen bis heute in der Gesellschaft nachwirken. In der FAZ bewundert Tilman Spreckelsen, wie "behutsam" sich die Autorin dem Massaker in ihrer Heimatstadt nähert, dabei detailreich und dokumentarisch interessiert "die großen historischen Linien bis in die Gegenwart" nachzeichnet und formal elegant und "wie selbstverständlich das übergroße Leid in Literatur überführt, ohne es je zu ästhetisieren". Im Deutschlandfunkkultur staunt Carsten Hueck, wie Kang die Schicksale ihrer drei jungen Protagonisten, die Haft, Folter, Depression und Schuldgefühle erleben, zu einer "großen Erzählung über Grausamkeit und Würde, die Zerstörung des Fleisches und die Feinheit der Seelen" verdichtet. Angesichts der atmosphärischen Dichte, Poesie, Sinnlichkeit und Stille dieses bewegenden Romans bleibt Hueck "fassungslos" zurück. Für die FAZ hat Anne Ameri-Siemens mit der Autorin über das Massaker gesprochen.


Sachbuch

Emmanuelle Loyer
Lévi-Strauss
Eine Biografie
Suhrkamp Verlag 2017, 1088 Seiten, 58 Euro

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Nein, Skandale, Enthüllungen und Intimitäten darf man in Emmanuelle Loyers Lévi-Strauss-Biografie nicht erwarten, versichern die RezensentInnen. Macht aber nichts, denn das Leben des französischen Strukturalisten ist auch so spannend genug: Welt-Kritiker Wolf Lepenies folgt dem Ethnologen von Sao Paolo über die Savannen nach New York, fühlt sich dank der Erzählkunst der Autorin bestens unterhalten, lobt ihre Diskretion und ist dankbar, dass Loyer bei aller Zuneigung für Levi-Strauss auch kritische Töne, etwa an dessen "konsequentem Relativismus", nicht vermissen lässt. Darüber hinaus bewundert er neben der enormen Recherche der Autorin, auch in privaten Archiven, wie Loyer persönliche Anekdoten mit Levi-Strauss' Werk in Verbindung setzt. In der NZZ liest Andrea Roedig in der, wie sie findet, "opulenten" Biografie auch ein Jahrhundert französischer Geistes- und Institutionengeschichte. Loyer nimmt sich selbst zurück und folgt lieber den minimalen Abweichungen, die diese Karriere von der klassischen akademischen Vita unterscheiden, lobt sie.

Gerd Koenen
Die Farbe Rot
Ursprünge und Geschichte des Kommunismus
C. H. Beck Verlag 2017, 1133 Seiten, 38 Euro


Ganz eindeutig fällt das Urteil der Kritiker über Gerd Koenens "Geschichte des Kommunismus" nicht aus, genügend Diskussionsgrundlage bietet das Werk aber allemal. Denn der Historiker spannt den Bogen weit, begonnen bei Gilgamesch und der biblischen Schöpfungsgeschichte, über asiatische Lebenslehren, die Logiken des Terrors und die Täuschungen des Kalten Krieges bis hin zu den jüngsten Verlautbarungen der KP Chinas, resümiert Jens Bisky in der SZ, der das alles interessant findet, sich aber etwas mehr als nur 200 Seiten über die Zeit nach Lenin gewünscht hätte. Das Werk kann als Summe und Höhepunkt von Gerd Koenens bisherigen Forschungen gelten, schwärmt Stefan Nölke im MDR. Sehr weitschweifig, aber die Widersprüche und das Gefälle zwischen Idee und Wirklichkeit sehr schön herausarbeitend, lobt Welt-Kritiker Richard Herzinger das Buch, das er zum Anlass nimmt, "die Natur des Kommunismus von Grund auf neu zu überdenken". NZZ-Kritiker Urs Hafner winkt dagegen ab: Taugt nicht als Historiografie, Anekdoten aus mehreren Jahrtausenden Welt-, Literatur- und Ideengeschichte werden hier nur aneinander gereiht. Das sieht Jacqueline Boysen im Deutschlandfunkkultur ganz anders: Der Autor lässt dem Leser viel Raum für die eigene Deutung. FAZ-Kritiker Herfried Münkler staunt über den hegelianischen Blick des Autors. Für die taz hat sich Stefan Reinecke mit Koenen über Kommunismus, die Bolschewiki und Karl Marx unterhalten

Arlie Russell Hochschild

Fremd in ihrem Land
Eine Reise ins Herz der amerikanischen Rechten
Campus Verlag 2017, 429 Seiten, 29,95 Euro



Schon 2011, lange vor Trumps Wahlsieg beobachtete die amerikanische Soziologin und überzeugte Liberale Arlie Russel Hochschild besorgt die politische und gesellschaftliche Spaltung ihres Landes in ein linkes und ein rechtes Lager. Fünf Jahre lang reiste Hochschild immer wieder durch Louisana, um das Gespräch mit der Rechten zu suchen und traf die Abgehängten und späteren Trump-Wähler auf Augenhöhe, wie die KritikerInnen unisono versichern. Zeit-Rezensentin Susanne Mayer lässt sich von der Autorin auf eine abenteuerreiche und faktengesättigte Reise mitnehmen, liest in Gesprächsprotokollen nach, wie hoch die Krebsrate in der von der Ölindustrie geprägten Region ist, lauscht verschiedenen deprimierenden Lebensgeschichten und bekommt dank des psychologischen Einfühlungsvermögens der Autorin eine leise Ahnung, weshalb sich die Menschen vor Ort vom Rechtsstaat abwenden. Im Deutschlandfunk lobt Katja Ridderbusch Hochschilds Bemühungen, die "linksliberale Blase" zu verlassen und dabei jenseits der Klischees und ohne Belehrungen eine "Chronik der Marginalisierten" zu entwerfen: "Neugierig, beobachtend, unmittelbar und mitfühlend, aber nie herablassend", schwärmt sie. Im NDR lauscht Gabi Biesinger dem Buch gar literarische Qualitäten ab, etwa wenn die Autorin die Lebensgeschichten ihrer Louisana-Bekanntschaften schildert, dabei in die Tiefe geht, Verständnis aufbringt und Widersprüche aufdeckt.

Susan Cheever
American Bloomsbury
Ein Leben zwischen Liebe, Inspiration und Natursehnsucht
Insel Verlag 2017, 287 Seiten, 24 Euro



Im amerikanischen Original ist Susan Cheevers Sammelbiografie des  sogenannten amerikanischen Bloomsbury-Kreises bereits vor zehn Jahren erschienen, und immerhin NZZ-Kritiker Tobias Sedlmaier hat mitbekommen, dass der Insel-Verlag das Buch nun auch auf Deutsch herausgegeben hat. Der Kritiker schätzt nicht nur die Mischung aus Dokumentation und Erzählung, mittels derer Cheever die Zeitspanne von der Ankunft der Alcotts im neuenglischen Concord bis zum Ende des Amerikanischen Bürgerkriegs und dem Zerfall der Gruppe schildert, sondern lobt auch die Sinnlichkeit, mit der die Autorin die ländliche Alltagswelt in Concorde, die Freundschaften und Eifersüchteleien in Farben, Geräuschen und Gefühlen lebendig werden lässt. Im WDR freut sich Mareike Ilsemann, dass Cheever neben den Hauptfiguren, Ralph Waldo Emerson, Henry David Thoreau, Louisa May Alcott, der Feministin Margaret Fuller und dem Schriftsteller Nathaniel Hawthorne auch Freunde und Besucher, darunter Herman Melville, Walt Whitman und Edgar Allen Poe, streift. Dass die intellektuellen Leistungen der Transzendentalisten gelegentlich zu "flapsig" beschrieben werden, stört Ilsemann angesichts der anregenden und "leichtfüßigen" Lektüre kaum.

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