Bücherbrief

Das Glück beim Pflücken

11.09.2023. Emmanuel Carrère erzählt mit unnachsichtigem Erbarmen vom Prozess gegen die Attentäter der Terroranschläge in Paris, Maxim Biller beweist in "Mama Odessa", dass er auch das Leise und Zarte beherrscht, Valery Tscheplanowa lehrt uns, dass Glück beim Pflücken zu finden und Susan Neiman überlegt, was heute links ist. Dies alles und mehr in unseren besten Büchern des Septembers.
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Weitere Anregungen finden Sie in in der Lyrikkolumne "Tagtigall", dem "Fotolot", in den Kolumnen "Wo wir nicht sind" und "Vorworte", in unseren Büchern der Saison, den Notizen zu den jüngsten Literaturbeilagen und in den älteren Bücherbriefen.


Literatur

Emmanuel Carrère
V13
Die Terroranschläge in Paris
Matthes und Seitz Berlin. 275 Seiten. 25 Euro

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Es ist vielleicht das wichtigste Buch der vergangenen Wochen: Die Gerichtsreportage, die Emmanuel Carrère über die Terroranschläge in Paris verfasst hat. Knapp zehn Monate hat der französische Schriftsteller den Prozess gegen die islamistischen Attentäter im Pariser Justizpalast verfolgt und Material zusammengetragen. Die Kritiker verneigen sich vor dieser Leistung. Dass Carrère einer der spannendsten französischen Schriftsteller ist, war für Adam Soboczynski in der Zeit ohnehin klar. Aber wie der Autor sowohl die Opfer in ihrer Individualität als auch die Terroristen in den Zusammenhängen und Entstehungsgründen des Islamismus fasst, beeindruckt den Rezensenten nochmal nachhaltig. Carrère lässt die Opfer zu Wort kommen, gibt ihre grausamen Erfahrungen wieder, ohne sie allzu oft mit philosophischen Reflexionen zu unterbrechen, lobt auch FR-Kritikerin Christina Lenz: Stattdessen verlegt er sich aufs Zuhören, erkennt die Rezensentin an, die auch den Umgang des Autors mit den Angeklagten vorbildlich findet: Nüchtern und im nötigen Umfang skizziert Carrére sie als "perspektivlose Männer mit einem Hang zur Kriminalität", deren "faschistische Ideologien" austauschbar scheinen. Beeindruckend findet Lenz zudem, wie der Autor auch die eigentliche, nahezu unbeschreibliche Tat formal wiedergibt: Atemlos, ohne Chronologie, die Zeugenaussagen aneinanderreihend. Eberhard Falcke (Dlf) verdankt dem Werk "spannende" Denkanstöße. Seiner Tränen muss sich hier kein Leser schämen, meint ein ergriffener Gustav Seibt, der in der SZ vor allem das "unnachsichtige Erbarmen" hervorhebt, mit dem der Autor die Tatnacht im Bataclan beschreibt.

Maxim Biller
Mama Odessa
Roman
Kiepenheuer und Witsch Verlag. 240 Seiten. 24 Euro

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Kaum eine Zeitung, die nicht den neuen Roman von Maxim Biller besprochen hat. Die meisten beglückt, andere wenigstens zufrieden. Für die SZ-Kritikerin Marlene Knobloch ist der Roman nicht nur ein Meisterwerk, sondern auch der beste Beweis dafür, dass Biller keineswegs als lautsprecherischer Polemiker abgestempelt werden darf. Denn er beherrscht auch das Leise und Zarte, wie ihr diese Mutter-Sohn-Story zeigt: Erzählt wird aus der Perspektive von Mischa, der meist nicht viel mehr macht, als auf dem Sofa zu liegen und über seine Mutter zu reflektieren. Diese Mutter, Aljona Grinbaum, ist mit ihrer von Migration und politischer Verfolgung geprägten Biografie das eigentliche Zentrum des Buchs. Virtuos findet Knobloch nicht nur, wie Biller die Familiensaga mit wenigen Strichen andeutet und wie gefühlvoll er seine Figuren zeichnet, sondern auch, dass es ihm gelingt, all die diversen narrativen Stränge, die unter anderem zum KGB, zu den Nazis und nach Israel führen, stets auf die zentrale Mutter-Sohn-Konstellation zurück zu binden. In der FAS hebt auch Julia Encke die poetische Verdichtung hervor, mit der der Autor seine das Schicksal der europäischen Juden reflektierende Familiensaga zwischen Hamburg, Odessa und Tel Aviv erzählt. Für Roman Bucheli (NZZ) ist das Buch von "existenzieller Wucht". Nur Emilia Kröger entdeckt in der FAZ hier nichts Neues, wenngleich sie einräumt: Unterhaltsam ist dieser "Biller-Evergreen" allemal.

Necati Öziri
Vatermal
Roman
Claasen Verlag. 304 Seiten. 25 Euro

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Begeisterte Kritiken - und eine Longlist-Nominierung für den Debütroman von Necati Öziri. Der im Ruhrgebiet geborene Dramatiker hat sein Stück "Get deutsch or die tryin'" von der Bühne in einen Roman überführt: Aus der Perspektive des unheilbar immunerkrankten Arda erzählt er dessen Familien- und Lebensgeschichte als Deutschtürke: Der Vater kehrte aus Heimweh in die Türkei zurück, wo er wegen Mordes im Namen der Blutrache verhaftet wird, die Mutter versinkt in Apathie, schlägt sich in einem Imbiss durch und zieht die Kinder in prekären Verhältnissen allein groß. Allein wie Öziri vom Abhängen in Jungscliquen, erster Liebe, Prügeleien und dem Verticken von Drogen erzählt, findet Dlf-Kultur-Kritikerin Shirin Sojitrawalla "hollywoodesk". Vor allem aber bewundert sie die Empathie, mit der der Autor seinen Helden schildert, dessen deutsch-türkischer Hintergrund eben nicht im Fokus der Erzählung stehe. Wahrhaft und packend scheint Burkhard Müller in der SZ, wie Öziri von langwierigen Einbürgerungsprozessen und "demütigenden Tagen" im Ausländeramt erzählt, bissig werde es zudem, wenn Arda in seinem deutschen Pflichttext für die Einbürgerung in 300 Zeichen erklärt, er werde "eure Töchter vögeln, bis sie arabisch sprechen" - danach ist er "officially Kartoffel", amüsiert sich Müller. Alle Titel der Longlist finden Sie bei Eichendorff21.

Valery Tscheplanowa
Das Pferd im Brunnen
Roman
Rowohlt Berlin Verlag. 192 Seiten. 22 Euro

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Valery Tscheplanowa, zu Sowjetzeiten im russischen Kasan geboren, ist eine deutsche Schauspielerin. Dies ist ihr erster Roman. FAZ-Kritiker Simon Strauss erkennt in der Familiengeschichte um vier Frauen aus vier Generationen eine behutsame Reflexion über Zeit. Wie vorsichtig und präzise die Autorin ihre Figuren zeichnet, von Urgroßmutter Tanja, die im Sowjetkommunismus lebt, bis hin zu Enkelin Walja, die sich auf Spurensuche nach ihrer Herkunft begibt, ringt dem Kritiker größte Anerkennung ab. Tscheplanowa gelingt kunstvoll das "Changieren zwischen dem Konkreten und Abstrakten", staunt auch SZ-Kritikerin Christiane Lutz, die in diesem "eigen", mitunter auch "karg" erzählten Roman lernt, das Glück auch beim Pflücken, Einwecken oder Grießbrei kochen entstehen kann. In der Zeit bewundert Eva Behrendt vor allem, wie Tscheplanowa in ihrem in Erzählfragmenten gehaltenen Roman die Komplexität der Geschichte immer wieder in materiellen Details aufscheinen lässt. Und der hingerissene FR-Kritiker Ulrich Seidler spürt körperlich, wie geküsst, gerochen und gekaut wird.


Elif Batuman
Entweder/Oder
Roman
C.H. Beck Verlag. 396 Seiten. 25 Euro

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Sechs Jahre nach Elif Batumans Campusroman "Die Idiotin" liegt nun dessen Fortsetzung vor und die Kritikerinnen freuen sich über ein Wiedersehen mit alten Bekannten. Allen voran natürlich mit Selin, der Harvard-Studentin mit Migrationshintergrund, die nun in zweitem Studienjahr angekommen ist und nicht nur gegen ihren Liebeskummer Antidepressiva nimmt. Sie stürzt sich auf Kierkegaard und auf Nabokov, denkt viel nach, verbringt Zeit mit ihrer besten Freundin und auch Beinahe-Geliebter Iwan, bekannt aus dem Vorgängerroman, geistert nach wie vor herum. Aber Selin hat eine Entwicklung durchgemacht, stellt in der FAS Anna Vollmer fest, die den Einfluss der MeToo-Bewegung erkennt: Ein distanzierter Blick auf männlich geprägte Kanonbildung oder heteronormative Paarbeziehungen ist Selin plötzlich eigen, allerdings ohne dass Batum hier je schwere Fundamentalkritik unterbringt, so Vollmer. Sie empfiehlt vielmehr einen so unterhaltsamen wie berührenden Collegeroman. Dlf-Kritikerin Miriam Zeh verfällt vor allem der klugen, feministischen Heldin, der sie auch gern die gelegentlich allzu ausführlichen Reflexionen über Literatur verzeiht. Spiegel-Kritiker Sebastian Hammelehle hat vor allem Spaß daran, die vielen Verweise auf literarische Klassiker zu erkennen.

Sachbuch

Tobias Rüther
Herrndorf
Eine Biografie
Rowohlt Berlin Verlag. 384 Seiten. 25 Euro

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Zehn Jahre nach Wolfgang Herrndorfs tragischem Tod veröffentlicht Tobias Rüther diese Biografie - und das obwohl sich Herrndorf in seinem Testament explizit gegen die "Verwertung" seines Nachlasses von Journalisten und Germanisten ausgesprochen hatte, wie uns Marie Schmidt in der SZ aufklärt. Sie verzeiht dem FAS-Kollegen diese Missachtung unter Absprache mit Herrndorfs Familie aber gerne, denn Rüther behandle das Material mit enormem Fingerspitzengefühl, nehme sich bis auf wenige, gut überlegte Thesen sehr zurück und beschreibe stattdessen einfach das Bild des Künstlers, wie Freunde und Familie es zeichnen: Vom Aufwachsen in einer "statischen" Zeit in Norderstedt über das durchwachsene Studium an der Kunstakademie in Nürnberg in den achtziger Jahren bis zur Entwicklung zum Autor und seiner Krebsdiagnose, auf die der Erfolgsroman "Tschick" folgte. Zu einem ähnlichen Urteil kommt auch Marc Reichwein in der Welt: Rüther zeichne Herrndorf mit viel Einfühlungsvermögen, ohne Verklärung, sondern setze Herrndorfs Scheitern als Maler überzeugend in Bezug zu dessen Schriftstellerlaufbahn. Nicht zuletzt preist er diese Biografie als "Ethnografie" der Schreibszene im Berlin der Nuller Jahre.

Daniel Leese
Chinesisches Denken der Gegenwart
Schlüsseltexte zu Politik und Gesellschaft
C.H. Beck Verlag. 604 Seiten. 29,90 Euro

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Sehr lesenswert ist sicher dieser Band des Sinologen Daniel Leese und des Journalisten Shi Ming. Bisher hat ihn erst Steffen Wurzel im Dlf besprochen, der ihn, wenn auch mit kleinen Einschränkungen, empfiehlt: Die beiden Herausgeber haben 21 Texte aus verschiedenen Themenbereichen aus dem Chinesischen übersetzt -  mit dem Ziel zu zeigen, dass es in China durchaus auch noch kritische Intellektuelle gibt. Ambitioniert, meint Wurzel, existieren in China doch weder Presse- noch Meinungsfreiheit. Dennoch wurden die Autoren fündig, etwa wenn sie einen Text des Juristen Xu Zhangrun drucken, der 2020 einen kritischen Aufsatz zur chinesischen Corona-Politik veröffentlichte. Einige Monate nach Erscheinen seines Textes in China wurde er allerdings verhaftet, liest der Kritiker fast beiläufig im Nachwort. In dem Sammelband stehen kritische Texte neben jenen von regimetreuen Ideologen, die mitunter "faschistoid" und "unmenschlich" wirken, fährt Wurzel fort. Nicht, dass sich diese, im übrigen exzellent übersetzten Texte im Band befinden, hält er für eine Schwäche des Buches. Vielmehr stört ihn die selbstverständliche Mischung der Texte im Band, die den Eindruck erwecken, eine offene Debatte in China sei möglich. Eine lesefreundliche Struktur, zahlreiche Fußnoten und kenntnisreiche Vor- und Nachworte lassen ihn dennoch eine klare Leseempfehlung aussprechen.

Marcus Willaschek
Kant
Die Revolution des Denkens
C.H. Beck Verlag 2023, 430 Seiten, 28 Euro

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2024 ist Kant-Jahr: Vor 400 Jahren wurde dieser Philosoph der Aufklärung in Königsberg geboren. Marcus Willascheks Kant-Biografie ist eine perfekte Vorbereitung, lobt FR-Kritiker Michael Hesse. Er hat mit großem Interesse gelesen, wie Kant dank der Schriften Jean-Jacques Rousseaus in späteren Lebensjahrzehnten sein eigenes Denken entwickelte und damit die Philosophie revolutionierte. Die problematischen Seiten Kants wie sein Rassismus oder seine Frauenfeindlichkeit werden ebenso angesprochen wie amüsante Züge (wer wusste, dass Kant in seiner Jugend ein begeisterter Pokerspieler war?), versichert Hesse. Und dass Willaschek seine Biografie auch noch in klarer, eingängiger Sprache verfasst hat, ist für den Kritiker sozusagen die Kirsche auf der Torte.

Susan Neiman
Links ist nicht woke
Hanser Berlin. 176 Seiten. 22 Euro

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So unklar die Fronten heutiger Debatten zuweilen verlaufen, sie sind immer unversöhnlich. Susan Neimans "Links ist nicht woke" hat zumindest in der Themensetzung mitten ins Schwarze getroffen. Alle Zeitungen haben es besprochen, die Kritiken aber sind sehr zwiespältig, und es ist zuweilen schwierig auseinanzuhalten, ob es sich um sachliche Kritik handelt, oder ob sich so manche nur auf die Füße getreten fühlt. "Woke" lesen sich als links, wollen oft nur sehr ungern als woke bezeichnet werden, hassen es, auf Widersprüche ihrer Ideologie hingewiesen zu werden und reklamieren das Erbe der Aufklärung irgendwie auch für sich. Neiman versucht eine linke Position zu retten, die entgegen heutiger Mode nicht woke ist. Aus den Kritiken kann man sich nicht unbedingt einen Reim machen. Till Schmidt von der tendenziell woken taz, findet es vollkommen missglückt, Harry Nutt, der für die tendenziell klassisch linke FR schreibt, freut sich, dass Neiman mit Thomas Piketty ökonomische Argumente starkmacht. Besonders scharf war die Reaktion der Kulturwissenschaftlerin Novina Göhlsdorf in der FAS, die Neiman widersrpüchlich findet. Ist sie ja vielleicht auch: Für die Adorno-Kritikerin Neiman gibt es jedenfalls richtiges Leben im falschen. Den falschen Juden Fabian Wolff verteidigte sie mit dem Argument, dass er ja die richtigen Argument gegen Israel vertrat.

Angela Saini
Die Patriarchen
Auf der Suche nach dem Ursprung männlicher Herrschaft
Carl Hanser Verlag. 352 Seiten. 25 Euro

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Die Mühe, die die Lektüre dieses Buches der britischen Wissenschaftsjournalistin Angela Saini mitunter mit sich bringen kann, lohnt sich, versichern uns die Kritikerinnen. Denn es ist von "ungeheuer politischer Kraft", versichert Livia Sarai Lergenmüller in der SZ. Dabei ist die These nicht neu, die Saini darlegt, räumt die Kritikerin ein: Weder sei die patriarchale Ordnung naturgegeben, noch trat sie plötzlich in die Welt. Vielmehr wand sich das Patriarchat an verschiedenen Orten "wie Würmer" in die unterschiedlichen Gesellschaften, entnimmt die Rezensentin dem sorgfältig recherchierten und mit einer Fülle an Zitaten angereicherten Buch. Sie liest etwa von egalitär oder matrilinear organisierten indigenen Gesellschaften im nordindischen Khasi, im südwestlichen China oder in Nordamerika, denen von christlichen Kolonisatoren  ein anderes Weltbild aufgezwungen wurde. Darüber hinaus erfährt sie, dass es in der Geschichte mehr reine Frauenherrschaften als gleichberechtigte Gesellschaften gab. In der FAZ gesteht auch Katharina Teutsch, dass sie sich manchmal wie eine "Textarchäologin" fühlte, die Theorie vom Untergang des Matriarchats, wie sie Forscher lange darstellten, kann ihr Saini aber überzeugend als Mythos darlegen. Als Grundlagenwerk empfiehlt Karin Gottschalk das Werk in der taz.
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