Essay

Choreografie gestauter Zeit

Von Stefanie Diekmann
21.02.2020. Das Festival von Angoulême erstickt in Gallo- und sonstigem Chauvinismus. Ein Rückblick erlaubt dennoch ein paar Schlaglichter auf wichtige Manifestationen der "Neunten Kunst". Zu nennen sind Seths "Clyde Fans" und avantgardistische Erneuerinnen des Comics wie Emily Gleason.

Zu sagen wäre, dass sich die Vertreterinnen und Vertreter der Neunten Kunst ihr Comic-Festival nicht immer aussuchen können (so viele gibt es einfach nicht), ebenso wenig wie die dazugehörige Festivalleitung. Und dass zumindest außerhalb von Frankreich die Bedeutung des "Festival de la Bande Dessinée d'Angoulême" skeptischer und distanzierter wahrgenommen wird als im französischen Feuilleton. Hier soll, schon mit einigem Abstand, das Festival dennoch dazu dienen, neue Namen und Tendenzen der Neunten Kunst festzumachen.

Das vorläufig schwärzeste Jahr von Angoulême war 2016. Als auf der Liste der Nominierten für den Grand Prix (Lebenswerk) dreißig Männer aufgeführt waren, aber keine einzige Frau (mehr hier). Und als Franck Bondoux, Mitglied der Festivalleitung seit 2005, die Nominierungen im französischen Fernsehen mit jener Mischung aus Arroganz und Larmoyanz verteidigte, die so ausgeprägt vielleicht nur im französischen Kulturbetrieb zu finden ist. (Dass letztlich keine Frauen existieren, die für den jeweiligen Preis, Posten, Auftrag ausreichend qualifiziert wären, ist auch in der Welt des Comics eine lieb gewordene Argumentationsfigur, und der Grand Prix ist primär dafür eingerichtet, sie Jahr für Jahr zu bestätigen; zwei Ausnahmen zur Regel inklusive.)

Inzwischen hat das Festival einige Anpassungen vorgenommen, um sexistische, gallochauvinistische und paternalistische Perspektiven ein wenig zu korrigieren. Der Ärger, den Angoulême auch 2020 erlebt hat, entzündete sich deshalb nur punktuell an den alten Konflikten und vor allem an der fortschreitenden Prekarisierung derjenigen, denen der französische Comic seine Existenz und seine Reputation verdankt. Minimale Tantiemen, minimale Absicherung, ökonomische Machtlosigkeit und eine lange zurückgehaltene ministeriale Stellungnahme zur Unterstützung von Autorenrechten: In Angoulême wurde während des Festivals auf der Straße und später auf der Bühne protestiert, die Exploitation durch die Verlage thematisiert ("4000 Euro für zwei Jahre Arbeit") und ein Szenario von Arbeitsbedingungen beschrieben, in denen sich die offizielle Wertschätzung des Comics in keiner Hinsicht abbildet.

Die Vergabe des Prix du Meilleur Album an "Révolution 1: Liberté" (Actes Sud 2019) mag unter diesen Umständen etwas zynisch erscheinen. "Révolution" als Comic für das zweite Jahr der Gilets Jaunes und das dritte Jahr der Präsidentschaft Macron, für ein Frankreich der Proteste und Straßenkämpfe, in dem soziale Ungleichheiten mit jedem Jahr weniger zu übersehen sind: Von Libération (hier) bis Le Monde (hier) ist die Auszeichnung des ersten von drei geplanten Bänden über die Ereignisse der Jahre 1789 bis 1794 als ein politisch grundiertes Votum kommentiert worden, das darauf abziele, die Welt der Neunten Kunst an aktuelle Konflikte anzuschließen.

Sehr anschluss- und etwas zu konsensfähig ist "Révolution" auch sonst: Historische Umbrüche aus der Perspektive der so genannten Kleinen Leute; kindliche Protagonisten, klare Augen und zerzauste Haare; die Linierung klar, die Figuren sehr plastisch und die Kolorierung in gedeckten Braun- und Pastelltönen gehalten. Gewalthandlungen sind gegenwärtig, aber kommensurabel, die Sympathieträger deutlich markiert, und wenn der weitere Verlauf als bekannt vorausgesetzt werden kann, ist er zugleich mit Detailwissen angereichert. Nichts wird dagegen sprechen, den zweiten Comic des jungen Autorenteams Locard & Grouazel (ihr erster: "Éloi") im Unterricht zu verwenden, um französischen Schülern die Geschichte der Grande Nation zu vermitteln. Und vieles spricht dafür, die Auszeichnung von "Révolution" aller politischen Diskursivierung zum Trotz als eine konservative zu bezeichnen, die das Sujet gegenüber der Gestaltung privilegiert und sich von den Kriterien, die im letzten Jahr die Vergabe des Prix du Meilleur Album an Emil Ferris ermöglicht haben (mehr hier), sehr weit entfernt hat.

Ebenfalls konsensfähig, aber ästhetisch interessanter sind die Preisträger der zweiten Reihe. "Clyde Fans" zuallererst (Drawn and Quarterly, 2019), der eines jener eigensinnigen, einsamen Projekte ist, die zu jeder Zeit jede Auszeichnung verdient hätten, allein weil ihre Existenz so unselbstverständlich erscheint und weil zugleich sie es sind, die klar machen, warum der Comic ein geliebtes Medium bleibt. Zwanzig Jahre, so will es die Legende, 25 vielleicht sogar, liegen zwischen dem Beginn des Projekts auf dem Zeichentisch des kanadischen Künstlers Seth und der Fertigstellung eines Bandes, der knapp 500 Seiten umfasst, keine Farben außer Schwarz, Weiß, Blau und Grau kennt, zwischen den Zeiten und Perspektiven wechselt, von ein paar Reisen und Fahrten erzählt und sich letztlich doch nur für einen Schauplatz interessiert: ein altes Geschäfts- und Wohngebäude, beinahe verwaist, mit Objekten vollgestellt, ein Haus der stillen Räume und zugleich eine Echokammer, in der die Dingwelt längst die Herrschaft übernommen hat.

Auszug aus "Clyde Fans", Copyright Seth/Drawn and Quarterly.



500 Seiten also, nicht für eine Erzählung, sondern für das, was nach den Erzählungen kommt, oder auch nach der Einsicht, dass es eigentlich nichts zu erzählen gibt. Stattdessen kartiert "Clyde Fans" die Wege, die von einem Zimmer zum nächsten oder von einem Stockwerk in ein anderes verlaufen. Die kleinen Fluchten, die aus dem Haus und wieder dorthin zurück führen. Die Handlungen, die darin bestehen, eine Schublade zu öffnen oder eine Tür zu schließen, und die Erinnerungen an eine Autofahrt, ein Streitgespräch, eine Affäre, die es vielleicht gegeben hat, vielleicht aber auch nicht, und die so oder so nie dieselbe Wichtigkeit gehabt haben wie das Haus, das die Bewohner nicht aus seinem Bann entlässt. "Clyde Fans" (der Comic trägt den Namen des fiktiven Familienunternehmens) ist eine Übung in der Choreografie gestauter Zeit, eine Studie über das Nachleben, auch: eine Horrorgeschichte über unentrinnbare Einsamkeit und Traurigkeit, die gleichwohl zum Schönsten gehört, was derzeit zwischen zwei Buchdeckeln zu finden ist.

"No Direction" (Editions Sarbacane, 2019) des französischen Veteranen Emmanuel Moynot hat den "Fauve Polar SNCF" erhalten Mit dem Album von Seth teilt dieser so andere Comic die Affinität zu Tusche und Tintenschwärze, die schweren Linien, die um Objekte und Gebäude gezogen sind, und eine beinahe identische Farbpalette (ergänzt um ein fettiges Rostrot). Alles andere ist alles andere: die Schraffuren, die irren Lichtreflexe, vor allem aber die Figuren, die auf jeder Seite bezeugen, dass "No Direction" von jenem Zeichner gestaltet worden ist, der 2005 die Adaption der Krimi-Serie "Nestor Burma" von Jacques Tardi übernommen hat. Zur Story passt dieser Stil ganz gut: harte Schatten, harte Bandagen, sehr viele kaputte Biografien und Körper, die diesmal nicht in Paris, sondern in Kalifornien aufeinander treffen, nachdem sie zuvor auf 170 Seiten durch den Mittleren Westen und Südwesten gestolpert sind.

Der Titel ist Programm: Nichts geschieht hier notwendig, am wenigsten die Morde, die zu seriell sind, um noch gezählt zu werden. Niemand weiß wohin, niemand denkt über den nächsten Tag hinaus, und wenn einer einmal eine Adresse kennt, ist das in dieser Geschichte eine wirklich schlechte Nachricht. Mehr Fatalismus, auch: mehr Brutalität, hat der Fauve Polar selten gesehen, mehr Anlehnung an das US-amerikanische Kino ("True Romance", "Wild at Heart") und einige Autoren des Hardboiled auch nicht: Aus diesem generischen Material bastelt Moynot eine finstere Geschichte, die in "No Direction" routiniert erzählt wird.
 
Den Grand Prix hat das Festival an einen anderen Routinier vergeben: Emmanuel Guibert, dessen Alben seit über dreißig Jahren eher zu den familienfreundlichen zählen. Mit Joan Sfar, Mathieu Sapinetet und anderen hat Guibert ab 2000 die ziemlich lustige Serie "Sardines de l'espace" (Bayard; ab 2008 Dargaud) gestaltet, mit "Alans Krieg" (Gargaud, 2002-2008; ) und zwei weiteren Bänden einen wichtigen Beitrag zur biografischen Comic-Erzählung geleistet, mit dem scheußlichen blauen Esel "Ariol" (Bayard, 2002-2006) einen populären Protagonisten für junge Leser*innen kreiert und mit "Le Photographe" (Dupuis, 2003-2006) die Arbeit des Kriegsfotografen Didier Léfèvre in drei Bänden porträtiert, die als intermediales, kollaboratives, dokumentarisches Projekt vielfach ausgezeichnet worden sind  (auch dieser Band ist auf deutsch erhältlich).

Im frankobelgischen Milieu von Angoulême ist der Grand Prix für Guibert nicht schwer zu vermitteln. Und vielleicht sollte er auch weniger kommentiert werden als die abgründige Verlogenheit des Nachrufs auf Claire Bretécher (Lieferbares), die diesen Preis nie erhalten hat, was die Festivalleitung zu ein paar diskursiven Verrenkungen veranlasste, die auf der entsprechenden Website nachzulesen sind.

Wenn Angoulême auch mal anders kann, dann wiederum in den zweiten oder dritten Reihen. Der Prix Révélation ist seit etwa zehn Jahren international, experimentell, innovativ orientiert und 2019 und 2020 an zwei bemerkenswert sperrige Comics vergeben worden, die von der gepflegten Mise en page und der dezenten Gestaltung denkbar weit entfernt sind. Die Lektüre von Emily Gleasons "Ted, drôle de coco" (Atrabile, 2018) ist eine irritierende Erfahrung, die von "Lucarne" (L'Association, 2019) von Joe Kessler erst recht: zwei Alben in lauten Farben, angefüllt mit verdrehten Körpern, bizarren Figuren und ziemlich unaufgeräumten Seiten.

Ungefällig auch der Prix du public, der, anders als 2018, nicht für die Hommage an einen französischen Nationalhelden vergeben worden ist, sondern für "Saison des Roses" (FLBLB 2019), Porträt einer willensstarken Protagonistin, die gut Fußball spielt und meist ziemlich wütend aussieht, wozu ihr die Erzählung allen Grund gibt. Im großen Backlash des Festivals d'Angoulême 2020 ist "Saisons des Roses" ein großer Lichtblick: ein Album wie ein kleiner Fußtritt, und eine junge Autorin, die nicht wütend ist, aber spröde, selbstbewusst und nicht unbedingt interessiert daran, es igendjemandem recht zu machen.

Stefanie Diekmann