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Keine Romantik. Nirgends

Über Bilder, Bände und Sites Von Peter Truschner
05.12.2017. Wer auf einem Bauernhof aufgewachsen ist, kennt den unsentimentalen Blick der Landwirte auf ihren Alltag und die Nüchternheit, mit der sie ihre Arbeit verrichten und sich selbst und ihre nähere Umgebung wahrnehmen. Über den Fotoband "Corbeau", Anne Golaz' Darstellung des Landlebens in der französischen Schweiz.
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Am Bauernhof. Ein Misthaufen. Kuhglocken. Ein neugeborenes Kalb, das auf der Weide im Schnee liegt und von seiner Mutter beschnuppert wird. Dazwischen Fotos dreier Generationen - jung, alt, Mann, Frau, Kind -, die den Familienbetrieb bewirtschaften.

Wie schon in ihrem Fotobuch "Metsästä - From the Woods" (Kehrer 2012), das den ungebrochenen Einfluss der Jagd sowie der damit verbundenen Mythen auf einen Teil der finnischen Bevölkerung thematisiert, widmet sich Golaz in ihrem neuen Buch "Corbeau" wieder dem von traditionellen Praktiken und dem Wechsel der Jahreszeiten geprägten Alltag in ländlicher Umgebung - und das anhand des Bauernhofs ihrer Familie in Agiez, auf dem sie aufgewachsen ist.

Die Veröffentlichung von "Corbeau" fällt dabei in eine Zeit, in der ein Verfechter des Lebens in und des nachhaltigen Umgangs mit der Natur wie Henry David Thoreau von einer breiten Öffentlichkeit wiederentdeckt wird und Magazine wie Landlust und Walden aus dem Boden sprießen wie Maiglöckchen im Frühling. Der Londoner Verlag Mack, bei dem "Corbeau" erschienen ist, hat kurz zuvor das Fotobuch "Walden" herausgebracht, jener See, an dem Thoreau zwei Jahre, zwei Monate und zwei Tage in einer selbst gebauten Hütte verbrachte.

Wer die genannten Magazine durchblättert, wird wenig überrascht sein, dass es von der Nüchternheit der Existenz als Landwirt dort wenig zu sehen und zu lesen gibt und man es meist mit Aussteigern der urbanen Mittelschicht zu tun hat, die übers Internet bestens vernetzt mit der Welt sind und nicht selten noch über eine Dependance in der Stadt verfügen. Ein eher kuscheliger Ausstieg also - nicht anders übrigens als der von Thoreau, der von seiner Hütte aus täglich seine Familie besuchte und selbst so viel Besuch erhielt wie nie vorher oder nachher in seinem Leben.

Mit einer Schwärmerei für das Landleben hat Golaz nichts am Hut, wie überhaupt ihre Herangehensweise allem Modischen entsagt. Die dabei entstandenen Fotos entsprechen einer Welt, in der man kein allzu großes Aufheben um die Geburt oder den Tod eines Lebewesens sowie um die eigenen Wehwehchen macht - schlicht, weil über der anfallenden Arbeit keine Zeit dazu bleibt. Wer auf einem Bauernhof aufgewachsen ist, kennt den unsentimentalen Blick der Landwirte auf ihren Alltag und die Nüchternheit, mit der sie ihre Arbeit verrichten und sich selbst und ihre nähere Umgebung wahrnehmen (hier ein Buch-Video). Vieles wird ausschließlich unter dem Aspekt der Nützlichkeit abgehandelt, wobei die Nützlichkeit und der Sachzwang wie überall auch Möglichkeiten darstellen, um seine eigenen Gefühle und Wünsche dahinter zu verbergen oder mit der Zeit sogar zu vergessen.


Anne Golaz: Corbeau. Screenshot des Buchdesigns von der Website des Verlags. Fotos: Anne Golaz.

Beim Anschauen der Fotos hat man das Gefühl, dass Golaz aufgrund ihres biografischen Hintergrunds auf eine intime Weise mit dem Thema Umgang hat, was manchmal dazu führen kann, dass Künstler*innen gegenüber dem Betrachter über eine Art von Insiderwissen verfügen, das sich nicht kommunizieren lässt. Golaz ist sensibel genug, das zu wissen, weshalb sie deutlicher als in "Metsästä" oder der visuell beeindruckenden Serie über die Jagd, "Chasses", den Weg einer eher spröden Dokumentation wählt, die der Klarheit des bäuerlichen Alltags ebenso entspricht wie seiner unsentimentalen, straffen Ordnung, die keinen Feiertag kennt und täglich mit dem frühen Aufstehen und der Fütterung der Tiere beginnt.

Der Preis für diese Herangehensweise wird schnell ersichtlich: eine - etwa im Vergleich zu "Chasses" - klare Einbuße hinsichtlich der Suggestionskraft des einzelnen Bildes sowie prinzipiell eine freiwillige Zurücknahme dessen, was man das "Auratische" nennen könnte. Dramatische Weitwinkelaufnahmen wie in Lucas Foglias "Frontcountry" wird man da vergeblich suchen. Nur wenige Fotos stechen wirklich hervor wie die Nahaufnahme des geschlossenen Auges einer Kuh, dessen Zartheit und Verletzlichkeit - die filigranen, weißen Wimpern! - unmittelbar berühren und von der Verletzlichkeit allen kreatürlichen Lebens erzählen. Die Porträts der Familienmitglieder mit ihren unspektakulären Posen und Verrichtungen rauschen leider mit der Zeit etwas an einem vorüber.

Das liegt nicht zuletzt auch an der Fülle an Fotos (über 120 auf 196 Seiten) und Text bei einer gleichzeitig sehr überschaubaren Variabilität der Thematik. Diese Dichte lastet immer schwerer auf dem Buch, je länger man darin blättert. Manchmal kam es mir vor, als hätte ich es noch mit einer bereits vorsortierten Auswahl zu tun, aus der dann das künftige Buch erst zu destillieren wäre. Vielleicht ist das ja den zwölf Jahren geschuldet, die Golaz in dieses überaus private Projekt investiert hat - eine lange Zeit, die es einem schwer machen kann, zu selektieren und auf die eine oder andere Akzentuierung zu verzichten. (Vielleicht aber auch ein wenig daran, dass mir das Setting ungleich vertrauter ist als reinen Großstadtmenschen - habe ich doch meine Kindheit auf einem Bauernhof selbst in einem Roman verarbeitet.)

Dem Text, den Golaz gemeinsam mit dem Schriftsteller Antoine Jaccoud im etwas umständlichen Wechsel von der ersten zur dritten Erzählperson verfasst hat, obliegt es großteils, den Gedanken und Gefühlen Ausdruck zu verleihen: die Bäume, die gepflanzt werden, wenn ein Kind geboren wird; wie sich das kleine Mädchen Anne auf den Schultern des Vaters eine Narbe am Knie zuzog in einer Nacht, in der ein Blitz einen Baum der Länge nach spaltete; wie der Bruder eine Tages alles hinschmiss und ohne viele Worte fort ging.

Müsste man am Ende dieses Textes eine Benotung zwischen eins (schlecht) und fünf (sehr gut) geben, wie es bei Filmbesprechungen häufig der Fall ist, stünde man vor einem Dilemma und müsste sich im Grunde der Wertung enthalten. Alles, was für das Buch spricht - sein nüchterner Blick, seine Unsentimentalität, sein schieres Quantum - kann auch dagegen sprechen, je nach dem Standpunkt und der Erwartungshaltung des Betrachters.

Trotzdem: Bei allem Respekt für Golaz' Herangehensweise - wie dieses eigentümlich ausufernde und zugleich doch sehr zurückhaltende Buch es auf die Aperture-Shortlist für das "Photo Book of the Year 2017" bei der "Paris Photo" geschafft hat, ist mir dann doch ein Rätsel.

Peter Truschner

Corbeau, by Anne Golaz, . Texte von Anne Golaz und Antoine Jaccoud. MACK Books 2017, 196 Seiten, 23 x 29 cm, €40.00. ISBN  978-1-910164-74-7.