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Bestandteile des Narrativs

Über Bücher, Bilder und Ausstellungen Von Peter Truschner
06.02.2020. Nicht nur ihre Beine sind von der tibialen Hemimelie betroffen: die linke Hand hat nur zwei überlange Finger und kommt Mari Katayama, die im Sternzeichen des Krebses geboren ist, selbst wie das zangenartige Spaltbein eines Krebses vor. In ihrem Fotobuch "Gift" setzt sie sich als lebendige Skulptur in Szene. Mari Katayama ist Fotolots "Photo Artist of the Year 2019".
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Mari Katayama wird 1987 in einer Kleinstadt nördlich von Tokio geboren. Sie leidet unter Tibialer Hemimelie, einer Knochenschwäche, die zu Missbildungen führt und in unterschiedlichen Schweregraden bei einem von einer Million Säuglingen vorkommt. Bei Katayama liegt leider ein schwerer Fall vor, so dass sie sich - konfrontiert mit einem Leben im Rollstuhl - im Alter von neun Jahren für operative Eingriffe an ihren Beine entscheidet, die es ihr ermöglichen, mit Prothesen weiterhin aufrecht zu gehen.

Nach der Amputation beider Unterschenkel und eines Kniegelenks folgt ein schier endloses Jahr, in dem sie mit eiserner Disziplin lernt, mit den Prothesen zu gehen - eine Disziplin, von der sie sagt, dass sie ihr nicht nur in der schwierigen Bewältigung des Alltags sondern auch bei ihrer künstlerischen Arbeit eine große Hilfe war.

Katayama entstammt einer von Frauen geprägten Familie, die mit ihren Nähkünsten zum Unterhalt der Familie beitrugen. Mari wuchs mit dem sirrenden Geräusch der Nähmaschinen auf und wusste früher mit einer Nadel umzugehen als mit einem Bleistift.

Japan ist immer noch ein Land der strengen Etikette und traditionellen Codes. Katayama, von zu Hause in ihrer Eigenart bestärkt, wurde in der Schule von Lehrern und Mitschülern allein deshalb gemobbt, weil sie nun mal war, wie sie war. Anstatt sich  - wie das (nicht nur) in Japan üblich ist - in die zugewiesene Rolle zu fügen, beginnt sie, ihr "Ich" künstlerisch zu verarbeiten und immer mehr auch fiktiv zu erweitern (hier). Die Besonderheit ihres Körpers und die Erfahrungen, die sie damit macht, werden zu einem künstlerischen Narrativ.

Und wie das in künstlerischen Prozessen nun mal ist, schafft die Existenz eines einzelnen, abgeschlossenen Werkes, das unabhängig von der Künstlerin existiert, Distanz - das Narrativ, das vom eigenen Ich gespeist wird, löst sich zugleich immer wieder von ihm. Zwischen dem faktischen und dem fiktiven Ich herrscht eine Art Schwebezustand, der Raum schafft für alle möglichen Deutungen und Zuschreibungen, die von außen an diese hybride "Ich-Konstruktion" herangetragen werden.

© Mari Katayama, United Vagabonds




























Katayama verziert kunstvoll ihre Prothesen, färbt sich die Haare grün und rasiert sich die Augenbrauen. Außerdem gruppiert sie die Kleider und Objekte, die sie für sich von früh an angefertigt hat, um das hybride "Ich" herum, kontextualisert sie und lässt sie zu Bestandteilen des Narrativs werden. Spitze. Kristalle. Blumen. Muscheln. Figuren aus gefüttertem Stoff. Marmeladegläser, gefüllt mit unterschiedlichen Ingredienzien, die in Formaldehyd schwimmen. Am Ende ist ihr ganzes Studio voll davon, sodass es nicht nur ein konkreter, realer Raum ist, sondern auch ein Traumreich, eine sich mit der Zeit immer wieder verändernde Installation, in der Katayama eine lebendige Skulptur ihrer selbst ist.

Sie näht eine lebensgroße Puppe mit einer Perücke, die aus ihren eigenen Haaren gemacht ist. Weitere, aus Stoff gemachte Surrogate ihres Körpers entstehen, die meisten von ihnen ohne Kopf, was einerseits einen Hinweis darauf gibt, worauf Katayama von Außenstehenden reduziert wird, andererseits deutlich macht, dass es Katayamas realer Kopf ist, von dem die Impulse für alle Inszenierungen ausgehen.

Nicht nur ihre Beine sind von der tibialen Hemimelie betroffen: die linke Hand hat nur zwei überlange Finger und kommt Mari, die im Sternzeichen des Krebses geboren ist, selbst wie das zangenartige Spaltbein eines Krebses vor. Daher vielleicht auch ihre besondere Vorliebe für alles, was aus dem Meer kommt. Eines ihrer eindrucksvollsten Surrogate ist ein lebensgroßer Umhang, der an einen Krebs mit unzähligen Gliederfüßen erinnert.

In Naoshima entdeckt sie das - eine Ausnahme in Japan - nur von Frauen aufgeführte "Onna Bunraku"-Theater, dessen Puppen keine Beine haben. 2016 wird sie am Strand von Naoshima, gebettet in ihren Gliederfüßer-Umhang, inspiriert von Botticellis Venus posieren und sich dabei wie immer selbst fotografieren. Die Fotografie bildet nur ein Element im fließenden Prozess der (Selbst-)Inszenierung, lebendigen Verkörperung und dem materiellen Festhalten des Ganzen.

Spätestens, seit Katayama 2016 auf das erste Mal in Europa auf der Fotomesse Unseen in Amsterdam zu sehen war, werden Vergleiche angestellt zwischen ihr und Frida Kahlo, Cindy Sherman oder Matthew Barney.

© Mari Katayama, United Vagabonds




























Die größte Nähe herrscht vielleicht zu Frida Kahlo. Wie bei Kahlo bildet das Selbstportrait die Konstante des Werks. Bei Kahlo ist das Selbstportrait über die Jahre Indiz und Spiegelbild einschneidender Ereignisse und nicht selten schmerzhafter Veränderungen in Fridas Leben; bei Katayma handelt es sich um stilllebenhafte Variationen eines Ist-Zustands. Wie Katayama litt Kahlo nach ihrem Unfall und unzähligen Operationen unter einer Beeinträchtigung ihres Bewegungsapparats. Der selbst genähten Kleidung kommt in Katayamas Arbeit ebenso symbolische Bedeutung zu wie bei Kahlo dem Weiß eines Brautkleids oder der mythisch aufgeladenen Tehuana-Tracht. Nicht anders als die Gegenstände und Lebewesen, mit denen sich Kahlo umgibt, und die sie in immer neue Zusammenhänge setzt, die wiederum ihren Lebenszusammenhängen und Gemütszuständen entsprechen.

Obwohl Kahlo viele Elemente ihrer Bilder ihr eigen nennt, bis hin zu Papageien und Affen, sind ihre Arbeiten von der Veränderungen unterworfenen Relation zu Menschen und Tieren geprägt, während Katayama diese Dinge absorbiert, ihrem eigenen Narrativ einverleibt. (Inwieweit sich dieses Narrativ ändern wird, da Katayama nun Mutter einer auch im Sternzeichen des Krebses geborenen Tochter ist, bleibt spannend abzuwarten.)

Sherman und Barney wiederum verkörpern zwei von Beginn an intellektuelle Herangehensweisen, hinter denen sie ihre Selbstbefragung anhand des eigenen Werks verbergen und in Metaebenen überführen können. Barney spaltet sein Ich in diverse phantastische Hybride auf, die mit historischen und mythologischen Narrativen verknüpft sind. Sherman inszeniert ein hinter allen Verwandlungen und Masken hervortretendes, weibliches Über-Ich, ein Kollektiv-Schicksal, in dem alle individuellen Erfahrungen von Frauen mit der Objektifizierung, die ihnen widerfährt, aufgehoben sind.

2019 gab es eine Einzelausstellung mit Katayamas Arbeiten in London. Wenig später war sie auf der Biennale in Venedig zu sehen, danach am Stand der Pariser Sage Galerie auf der Paris Photo. Ihr Buch "Gift" war auf der Shortlist des Aperture Awards. Das Buch ist nicht nur eine erste Bestandsaufnahme einer jungen Künstlerin, die sich aus denkbar schwierigen Bedingungen unglaubliche Möglichkeiten erschlossen hat. Es ist auch schlicht ein Triumph des Lebens, das  - transportiert von einer letztlich unergründlichen, individuellen  Begabung - Schönheit und Besonderheit da zum Durchbruch verhilft, wo man sie auf den ersten Blick nicht unbedingt vermuten würde.

Peter Truschner



Mari Katayama: Gift. 136 Seiten, 29,7 x 21 cm, Hardcover. United Vagabonds, Tokio 2019, ISBN-13: 978-4908600043. Ca. 65 Euro.