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Große stochastische Multiprojektilität

Über Bücher, Bilder und Ausstellungen Von Peter Truschner
27.11.2020. Welchen Sinn hat der Deutsche Fotobuchpreis, wenn er dem Publikum so gut wie unbekannt ist? Sollte man ihn nicht besser in "Fotobuchpreis der Stuttgarter Hochschule für Medien" umbenennen? Wie auch immer: einige FotografInnen wurden zurecht ausgezeichnet und dürfen sich freuen, andere eher zu Unrecht und dürfen sich ebenfalls freuen. Ein kleiner Streifzug.
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Wie jedes Jahr sind wieder Deutsche Fotobuchpreise in Gold, Silber und Bronze verliehen worden.



Wie so oft ist das Ergebnis durchwachsen, wie so oft interessiere (nicht nur) ich mich nicht wirklich dafür und beschränke mich darauf, mich für diejenigen zu freuen, von denen ich glaube, dass ihre Arbeit zurecht anerkannt wurde. Etwa der Fotobuchpreis in Silber für die vom Verlag Buchkunst Berlin herausgegebenen und bis dahin so gut wie unbekannten Fotografien von Dieter Keller (Video) aus dem Zweiten Weltkrieg "Das Auge des Krieges" oder ein Preis (unverständlicherweise nur) in Bronze für Julia Steinigewegs bei Kerber erschienene, fotografische Zukunftsforschung "I think I saw her blink" (beide Bücher hier und hier ausführlich besprochen im Fotolot mehr auch hier).

Der Kehrer Verlag hat diesmal erst gar keine Bücher eingereicht, obwohl das eine oder andere gute Chancen auf einen Preis gehabt hätte, darunter Tariq Zaidis Buch über Kongo-Dandys, S. Billie Mandles ziemlich abgefahrenes Projekt über Beichtstühle oder Sibylle Fendts sensibles Buch über ein abgelegenes Asylantenheim im Schwarzwald (Video).

© Sibylle Fendt, Kehrer Verlag




























Owohl es vom Verlag dazu keine offizielle Stellungnahme gibt, soll man in Heidelberg weder von der Erhöhung der Teilnahmegebühr wirklich begeistert gewesen noch mit der Pressearbeit und dem Marketing beim Fotobuchpreis an und für sich zufrieden sein.

Letzteres kann ich insofern nachvollziehen, als ich etwa von den Darmstädter Tagen für Fotografie oder vom EMOP Berlin selbstverständlich vorab mit Pressematerial versorgt werde - in Stuttgart ist man dazu offensichtlich nicht in der Lage, genauso wenig, wie eine englischsprachige Website zu generieren. Aber von einer deutschen "Hochschule für Medien" sollte man angesichts dessen, wie sehr Deutschland generell der digitalen Entwicklung hinterher hinkt, vielleicht nicht zu viel erwarten.

Bei Kehrer jedenfalls sieht man - so heißt es - in der Veranstaltung in dieser Form keinen Nutzen mehr für den Verlag und seine AutorInnen.

Es ist sinnlos, den Wettbewerb zu zerpflücken, das könnte man im Grunde mit jedem Wettbewerb dieser Art machen, abhängig vom eigenen Geschmack, der in meinem Fall eindeutig auf die Gegenwartskunst zielt, weniger aufs Kunstgewerbe und aufs Kunsthandwerk, die beide weit über die Hälfte der ausgezeichneten Arbeiten prägen. Gut, von mir aus, was soll's.

Ein paar Anmerkungen seien mir dennoch erlaubt.

In der Kategorie "Konzeptionell künstlerischer Fotobildband" entfiel der Preis auf den an der Universität Essen und der Kunsthochschule für Medien Köln ausgebildeten, langjährigen Leiter der Forschungsabteilung im Bereich Fotografie und Medien der ETH Zürich, Achim Mohné, von dem der an der Universität Bonn ausgebildete Germanist und Philosoph Dr. Peter V. Brinkemper meint: "Mohnés Strategie der stochastischen Multiprojektilität spielt souverän mit Streuung und Bündelung, mit dem Verlagern von Vorder- und Hintergrund und dem Verwischen von Identität und Differenz."

Ungefähr in dieser Tonlage sind die Texte, die im von Ute Kopp sorgfältig gestalteten, von Hatje Cantz herausgegebenen Buch "DI-GI-TA-LIS: A Plant Scan Project" versammelt sind und überwiegend von der großen Bedeutung von Mohnés Arbeit (für Ernährung, Kunst, Ethik, Nachhaltgkeit, Klimawandel, Interdiszplinarität, Medizin, Psychologie, im Grunde: für das Überleben der Menschheit) künden.

Unter den Textspendern ist auch einer der geistreichsten und amüsantesten Multifunktionäre, die der Betrieb kennt: Siegfried Zielinski, Professor für Audiovision an der Universität Salzburg; Professor für Kommunikations- und Medienwissenschaft an der Kunsthochschule für Medien Köln, deren Rektor er später war; Professor für Medientheorie mit dem Fokus "Archäologie und Variantologie der Künste und der Medien" an der Universität der Künste in Berlin; Rektor der Staatlichen Hochschule für Gestaltung Karlsruhe; ordentliches Mitglied der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften und der Künste, der Akademie der Künste Berlin, der European Film Academy (EFA), der Magic Lantern Society of Great Britain und Ehrensenator des Instituts für Medienarchäologie Hainburg (Österreich) - und auch derjenige, dem ich einst meine erste Gastdozentur an der UdK verdanke.

Warum ich das alles aufzähle?

Weil es nicht nur von großer stochastischer Multiprojektilität ist, Zusammenhänge souverän bündelt und streut, Hinter- und Vordergrund verschiebt, Identität und Differenz verwischt, sondern schlicht erhellend ist, falls sich jemand das Video zur Entstehung des Projekts ansieht, das ein Paradebeispiel für jene durch Anhäufung Respekt einflößender Referenzen untermauerte und kuratorisch bedeutungsvoll inszenierte "Konzeptkunst ohne Kunst" ist, wie sie leider in unseren Breitengraden in den letzten zwanzig Jahren üblich geworden ist. (In Zusammenhang mit großen Auftritten und großen Summen firmiert das Ganze unter "Methode Eliasson").

©Achim Mohné, Hatje Cantz




























Im Video "The_Vegan_Scanning_Printing_Cooking_Project" sitzen Leute relativ entspannt vorm Bildschirm, legen Pflanzen auf die Oberfläche eines Scanners, überwachen mit einer Software den Scanvorgang oder nehmen die ausgedruckten Fotos in Empfang. Im Hintergrund gibt es lockere Plauderei, Gelächter, man prostet sich mit Weingläsern zu, schaut sich die Ausdrucke an der Wand an, während auf einem gedeckten Tisch Speisen aus jenen Pflanzen, Obst und Gemüse serviert werden, die zuvor eingescannt und danach zubereitet wurden. Man fühlt sich wie beim Nachmittagskaffee mit Kuchen, zu dem Onkel Anselm und Tante Dietlinde anlässlich der Verlobung ihres Lieblingsneffen Noah mit der bezaubernden Lea Camille eingeladen haben.

Man kann sich gut vorstellen, dass die Jury von den visuell überaus charmanten Ergebnissen dieser Wohlfühl-Veranstaltung hingerissen war, die den Finger nichtsdestoweniger aktivistisch in die Wunden hochbrisanter, gegenwärtiger Entwicklungen in der Menschheitsgeschichte legt - ja was denn sonst, bitte?!

Angetan war man offensichtlich auch von den Arbeiten von J. Konrad Schmidt, der den Preis in Gold in der Kategorie "Self Publishing" für sein Buch "Hotel Noir" bekommen hat - ein Berufsfotograf, der für handwerklich perfekt fotografierte Beauty-, Glamour- und Business-Pics im üblichen "Pirelli"-Kalender-Stil à la "edle Typen, edle Titten, edle Karren" bekannt ist.

Womit wir bei einem nicht unwesentlichen Problem dieser Veranstaltung angekommen sind: der immer wieder mal unausgewogen, teils fahrlässig zusammengestellten Jury. In diesem Jahr: Dr. Norbert Moos, Prof. Michael Danner, Sarah Dulay, Hans Michael Koetzle, Dr. Petra Kiedaisch, Karima Klasen.

Alles in allem muss die Frage erlaubt sein, ob diese Veranstaltung die hochtrabende Bezeichnung "Deutscher Fotobuchpreis" überhaupt verdient; ob es "Schwäbischer Fotobuchpreis" oder "Fotobuchpreis der Stuttgarter Hochschule für Medien" von den Dimensionen her nicht wesentlich besser trifft.

Um zu verhindern, dass weitere Verlage langfristig dem Beispiel von Kehrer folgen, muss sich auf jeden Fall etwas ändern.

Peter Truschner

truschner.fotolot@perlentaucher.de