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Der ganz normale Wahnsinn

Über Bücher, Bilder und Ausstellungen Von Peter Truschner
17.12.2018. Geschichte, die immer wieder neu nicht vergeht. Die direkt nach dem Krieg aufgenommen Berlin-Fotos des russischen Fotografen Valery Faminsky zeigen die Stadt ungeschönt und nicht propagandistisch im Zustand der tiefsten Verwundung. Und der Fotograf Christian Herrmann sucht in Osteuropa nach Spuren der ermordeten jüdischen Bevölkerung, die in verstörender Gleichgültigkeit  weiter existieren.
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In diesem Herbst gedachte man europaweit in unzähligen Veranstaltungen des Ersten Weltkriegs, der vor hundert Jahren am 11. November 1918 mit dem Waffenstillstand von Compiègne endete, und der achteinhalb Millionen Tote und mehr als einundzwanzig Millionen Verwundete gefordert hatte.  Der Friedensvertrag von 1919, der Deutschland die alleinige Kriegsschuld zu- und das Rheinland absprach, wurde in Deutschland überwiegend als "Schande von Versailles " angesehen, und damit sowohl zu einem wichtigen Moment für die Geburtsstunde des Nationalsozialismus als auch für den Ausbruchs des Zweiten Weltkriegs zwanzig Jahre später. In Berlin sind nun zwei in historischer Hinsicht bedeutende Fotobücher erschienen, die unterschiedlichen Aspekten dieser zeitlich voneinander geschiedenen, jedoch mit einander verknüpften Ereignisse gewidmet sind.
"Berlin im Mai 1945" ist das erste Buch des vor wenigen Monaten von Ana Druga und Thomas Gust gegründeten Verlags "Buchkunst  Berlin".
Druga zeichnet als Designerin  verantwortlich für besondere Peperoni Books wie Michael Wolfs "Tokyo Compression", Thomas Gust betreibt mit "Bildband Berlin" die einzige Buchhandlung Berlins, die ausschließlich Fotobücher vertreibt.

© Valery Faminsky, Privatsammlung Arthur Bondar

Das Buch zeigt die Fotos des russischen Fotografen Valery Faminsky, der als fotografischer Mitarbeiter der medizinischen Abteilung der Roten Armee in den Tagen der deutschen Kapitulation in Berlin war. Fotos, die bis zu seinem Tod 1993 nie öffentlich gezeigt wurden, von deren Existenz kaum jemand wusste. Als die Familie Faminskys die Negative 2016 im Internet zum Verkauf anbietet, wird der ukrainische, in Moskau lebenden Fotograf Arthur Bondar darauf aufmerksam, erwirbt sie und bringt Auszüge wenig später im Selbstverlag heraus. Bondar ist auch Sammler, dessen Schwerpunkt in einer "Visuellen Archäologie" suwjetischer Kriegsfotografie liegt. Im Gegensatz zu den Fotos eines Georgy Homzor oder Alexander Borovsky sprengen die besten Arbeiten Faminskys den dokumentarischen Rahmen ihres Sujets und werden unabhängig von Zeit und Raum zu gültigen Manifestationen dessen, was der Mensch sich und seiner Umwelt anzutun und zu ertragen bereit ist.

Zerstörung, völlige Erschöpfung und Hunger - die Karten für die von der Roten Armee ausgeteilten Essensrationen hießen dementsprechend 'Friedhofskarten' - mischen sich mit Momenten der Hoffnung und Hilfsbereitschaft, in der die zuvor feindliche Front zwischen fremden Soldaten und Einheimischen verschwimmt, und das allen Menschen gemeinsame Erbe der Instinkte und Bedürfnisse durchschlägt. Man hat Faminsky schon mit Capa verglichen, was es nicht ganz trifft, da Capa ein testosterongetriebener Schlachtfeldfotograf war, während es Faminsky eher ums alltägliche Leben geht. Rund 68.000 Tonnen an explosivem Sprengstoff sind auf Berlin im Zweiten Weltkrieg niedergegangen.

Faminsky hält verwundete sowjetische Soldaten inmitten der Berliner Trümmerlandschaft fest, die genauso zerlumpt und am Ende ihrer Kräfte sind wie die deutsche Zivilbevölkerung: Menschen, die mit Verbänden am Kopf auf Bahren liegen und an anderen Menschen vorüberziehen, die mit leerem Blick an einem Brückengeländer lehnen, neben sich, in einem staubigen, zerbeulten Koffer, der traurige Rest, der ihnen von ihrer bürgerlichen Existenz geblieben ist.
Anderen blieb nicht mal dieser Rest, sondern nur der Tod.

© Valery Faminsky, Privatsammlung Arthur Bondar


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Als Claude Lanzmann im Juli starb, konnte man auf Arte wieder einmal den ungeheuerlichsten Film der Filmgeschichte sehen, der dem ungeheuerlichsten Verbrechen in der an ungeheuerlichen Verbrechen reichen Geschichte der Menschheit gewidmet ist: "Shoah". Es ist ein Film, mit dem man nie zu Ende kommt, dessen unzählige Geschichten im Zuge des eigenen Älterwerdens immer wieder unter- und neu auftauchen, und in dem Beiläufigkeiten zu überlebensgroßen Schrecken werden wie die Sprüche in Goyas "Disparates". In einer Szene fragt Lanzmann eine Polin, ob die polnischen Frauen froh gewesen wären, als die hübschen jüdischen Frauen fortgeschafft wurden, die sie in der Gunst der Männer ausgestochen haben. Die Frau verneint, aber ihre Mimik sagt etwas anderes, was sie in einem Abwehrreflex vor sich zu rechtfertigen versucht, indem sie behauptet, dass die jüdischen Frauen sich nur ihrer Schönheit widmen konnten und nie arbeiten mussten, da das Kapital, ja, ganz Polen in der Hand der Juden war.

An diese und viele andere Szenen aus "Shoah", die der Banalität des Bösen im Sinne Hannah Arendts ein ungleich plastischeres und alltäglicheres Bild verleihen als die Rechtfertigungen Adolf Eichmanns, muss ich denken, als ich das im Lukas Verlag erschienene Buch des Kölner Fotografen Christian Herrmann "In schwindendem Licht" zur Hand nehme. Über Jahre hat Hermann Tausende Fotos gemacht, die die einstige Präsenz jüdischen Lebens in Osteuropa dokumentieren. Die Aufnahmen sind schlicht und unspektakulär und entfalten gerade dadurch eine dem Thema angemessene Wirkung: Synagogen, die als Sport- oder Lagerhallen, Bars und Destillierfabriken genutzt werden; zahlreiche, zum Teil unverputzte Mesusas (ein religiös motivierter Schlitz am Türrahmen für eine kleine verkapselte Schriftrolle); unbenannte, planierte Massengräber der Einsatzgruppe C der SS.

Das Buch trägt den Untertitel "Spuren jüdischen Lebens im Osten Europas" - es müsste wohl eher "Spuren der Auslöschung jüdischen Lebens" heißen. Denn darum geht es - um den ganz normalen Wahnsinn des Antisemitismus und um die verstörende Gleichgültigkeit des Großteils der Bevölkerung Polens, Rumäniens oder der Ukraine gegenüber der auf ihrem Gebiet durchgeführten Ermordung des jüdischen Teils ihrer Bevölkerung.

Horodenka, Galizien, Ukraine, 2015 | Ehemalige Große Synagoge, heute eine Sporthalle © Christian Herrmann
Herrmann selbst erklärt diesen Umstand mit der Tatsache, dass diese Länder immer nur Spielbälle der Großmächte waren, von diesen überrannt und unter sich aufgeteilt wurden, was zu einem großen "Bevölkerungsaustausch" geführt hatte. "Die Juden sind umgebracht worden, die Polen sind von den Sowjets 'repatriiert' worden, die Deutschen sind 1940 schon 'heim ins Reich' geholt worden, ein Teil der Ukrainer ist nach Sibirien deportiert worden. Da hat man alle Katastrophen beisammen und an vielen Orten eben entsprechend Schwierigkeiten mit dem historischen Gedächtnis."

Gleichzeitig ist diese fehlende Erinnerungskultur auch Beleg für den nicht aufgearbeiteten Antisemitismus in Osteuropa. In Jonathan Littells aus der Täterperspektive geschriebenen Roman "Die Wohlgesinnten" etwa ist es frappant, wie den vorrückenden deutschen Völkermördern immer sofort Einheimische eilfertig beim systematischen "Raubmord" (Götz Aly) an den Juden zur Hand gehen. Der polnisch-amerikanische Historiker Jan Tomasz Gross schildert, wie  Polen während des Zweiten Weltkrieges Juden töteten und erpressten - neben anderen, die Juden halfen und versteckten (mehr hier).

Karzcew, Masowien, Polen, 2017 | Jüdischer Friedhof, ©Christian Herrmann
In Deutschland hat man eine gewisse Routine darin entwickelt, die Erinnerung an die eigene Schuld am Leben zu erhalten, sei es, dass man Klassenfahrten zu KZs veranstaltet oder rituell Kränze vor einem Mahnmal niederlegt. Wie es aussieht, wenn Länder im Grunde keine Erinnerung an den ermordeten jüdischen Teil ihrer Bevölkerung pflegen, diesen beinah aus ihrem Gedächtnis getilgt haben, zeigt Christian Herrmanns beklemmendes Buch.

Peter Truschner
truschner.fotolot@perlentaucher.de



 

Valery Faminsky
, Berlin Mai 1945. 184 Seiten, 26x22 cm, gebunden. Verlag Buchkunst Berlin, Berlin 2018, 45 Euro. ISBN 978-3-9819805-8-5


 

Christian Herrmann
, In schwindendem Licht. Spuren jüdischen Lebens im Osten Europas. 180 Seiten, 23x22 cm, gebunden. Lukas Verlag, Berlin 2018, 30 Euro. ISBN: 978-3-86732-301-7 (Bestellen über buecher.de)