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Unmittelbare Umgebung

Über Bücher, Bilder und Ausstellungen Von Peter Truschner
24.01.2019. Frauen, die sich die Haaren machen, Männer, die ihre Autos waschen - nur scheinbare Schnappschüsse von großer Innerlichkeit.  Mary Frey hat für ihre Fotos aus dem Privatleben der heute vielfach untergegangenen amerikanischen Mittelschicht mit den Porträtierten zusammengearbeitet. Der Verleger Hannes Wanderer hat ihr Frühwerk wieder bekannt gemacht.
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Wenn man über die überraschende und euphorisch gefeierte Wiederentdeckung der Arbeiten von Mary Frey schreibt, kann man gar nicht anders, als über Hannes Wanderer zu schreiben.

Auf dem Heimweg vom Atelier habe ich oft einen kleinen Umweg genommen, um bei Wanderer in seinem Laden "25Books" vorbeizuschauen. Hannes' Leidenschaft und unermüdlicher Einsatz galt guten Fotobüchern, die er mir und vielen anderen in seinem Laden gezeigt und ausführlich kommentiert hat. Gleichzeitig war er selbst immer im Bann von neuen "Peperoni Books", an deren Veröffentlichung er gerade arbeitete.
Im Frühjahr 2018 fieberte er der Herausgabe von Mary Freys "Real Life Dramas" und der damit verbundenen Ausstellung im Forum für Fotografie in Köln entgegen. Im Jahr davor hatte er mit dem Peperoni Book "Reading Raymond Carver" Freys in Schwarzweiß gehaltenes Frühwerk gerade erst dem Vergessen entrissen und war dafür gefeiert worden, Alec Soth hatte die Publikation zum Buch des Jahres erklärt.

© Mary Frey, Peperoni Books


Schon da war Wanderers emotionale Nähe zu Freys lebendigen und berührenden Szenen aus dem Familien- und Freundesgebiet der einfachen Mittelschicht offenkundig; eine Art Herzensverwandtschaft, die sich bei der Arbeit an "Real Life Dramas" noch intensivierte. Aber nicht deshalb, weil die Fotos Wanderers eigenem Leben entsprachen, sondern weil sie das genaue Gegenteil davon verkörpern: Wanderer selbst führte nämlich so gut wie kein Privatleben mehr, er lebte bei finanzieller und gesundheitlicher Selbstausbeutung im Grunde nur noch für seine Arbeit.

Ein alter Mann zieht sich im Schlafzimmer das weiße Hemd aus und blickt auf seine Frau, die bereits im Bett liegt und ein Buch liest. Eine Junge streichelt im Wohnzimmer seine am Boden auf dem Rücken liegende Hündin und blickt ihr dabei zärtlich in die Augen. Zwei junge Frauen tanzen mit lachendem, weit aufgerissenem Mund Kopf an Kopf und in rotem (Sweatshirt) und blauem (Jeans) Partnerlook vor einer bunten Blümchentapete zur Musik, die aus einem großen, silberfarbenen Kassettenrekorder kommt. Die Fotos aus dem prallen Menschenleben haben in Hannes Wanderer über ihre unbestreitbare künstlerische Qualität hinaus etwas zum Klingen gebracht, das ihm mit der Zeit Stück für Stück abhanden gekommen war, und das er dennoch nicht ganz vergessen hatte. Während er über Freys Arbeit sprach und beim einen oder anderen Foto regelrecht feuchte Augen bekam, war man einerseits wieder einmal erstaunt, wie sehr er sich mit seinen KünstlerInnen und ihren Werken identifizierte; gleichzeitig machte man sich jedoch auch Sorgen um ihn.

© Mary Frey, Peperoni Books

In einem Telefonat unmittelbar vor Ausstellungseröffnung teilt Wanderer Frey mit, dass er sich unwohl fühlt und nicht nach Köln kommen kann; am Tag nach der Eröffnung stirbt er in seiner Wohnung an einem Herzinfarkt.

Gemeinsam mit dem Werk seines künstlerisches Weggefährten Michael Wolf bilden die Arbeiten von Mary Frey eine Klammer in Wanderers Leben als Verleger und Fotobuch-Maniac. "Real Life Dramas" setzt den Schlusspunkt unter eine verlegerische Lebensleistung, deren Output unfassbar erscheint, wenn man bedenkt, dass er sich im Grunde einer One Man Show verdankt.
In der Berliner Galerie argus fotokunst gibt es nun bis zum 2. März Fotos aus Freys Kölner Ausstellung zu sehen und als verhältnismäßig günstige Prints zu erwerben.

© Mary Frey, Peperoni Books


Frey passt als Künstlerin auch deshalb zu Wanderer, weil er nicht zuletzt ein Talent dafür besaß, dem Werk von KünstlerInnen ein Podium zu bieten, die Quereinsteiger waren oder aber einer konsequenten Karriereplanung gleichgültig gegenüber standen wie Frey.

Statt ihren Master-Studiengang mit einem Fotoprojekt abzuschließen, trampt sie Anfang zwanzig lieber mit einer Freundin durch Europa. 1973 hat sie ihre erste Einzelausstellung in Boston. Nach einer Serie von Jobs in Fotolaboren, die sie alle hasste, obwohl sie dabei eine Menge über Technik und Materialität der Fotografie lernte, heiratet sie 1976 und zieht nach Illinois, wo sie in Yale ihren MA in Fotografie nachholt.

Sie tüftelt jedoch nicht mit ihren KommilitonInnen und ProfessorInnen am Campus an Projekten, sondern fährt nach den Kursen nach Hause. Und während die anderen im Geiste von Diane Arbus und Garry Winogrand auf der Suche nach Orten und Menschen durch die Straßen ziehen, wendet sie sich ihrer unmittelbaren Umgebung zu. Sie erkennt, dass ihr in der Intimsphäre von Menschen - in Küchen, Bade- und Schlafzimmern - die stärksten Fotos gelingen.

Anfangs arbeitet sie mit Blitzbirnen und langen Belichtungszeiten, was es so gut wie unmöglich macht, die alltäglichen Situationen, die sie interessieren - Frauen, die sich die Haaren machen, Männer, die ihre Autos waschen -, unmittelbar einzufangen. Sie entwickelt Ideen für Tableux Vivants und hält auf Listen fest, welche Szenen und Konstellationen sie mit den auf den Fotos festgehaltenen Menschen in der Ästhetik von Schnappschüssen realisieren möchte.

Nach der Geburt ihres ersten Kindes dehnt sie ihr Projekt auf unbekannte Menschen aus der näheren Umgebung aus. Und da es eine andere, in manchen Dingen ungleich großzügigere und vertrauensvollere Zeit war, waren die Leute neugierig auf die junge Frau mit der Kamera, und öffneten ihr bereitwillig die Tür. Aus den Schwarzweiß-Fotos häuslicher Szenen, die zwischen 1979 und 1983 entstehen, wird die Serie "Domestic Rituals", die später das Material für das Fotobuch "Reading Raymond Carver" liefert.
In den achtziger Jahren wendet sich Frey der Farbfotografie zu und suchte zu diesem Zweck noch mal dieselben Leute auf wie zuvor. Das Ergebnis ist in "Real Life Dramas" zu besichtigen.

© Mary Frey, Peperoni Books


Ihr Werk erregt die Aufmerksamkeit des damaligen Kritikerpapstes John Szarkowski und wird in einer Gruppenausstellung am MoMA gezeigt. Sie bekommt Stipendien - doch anstatt die Erwartungen zu erfüllen und in dieser Richtung weiterzuarbeiten, vertieft sie sich in ihr Privatleben, ihre eigene Lehrtätigkeit und darin, die Möglichkeiten der Fotografie auszuloten. Ambrotypien und Lithophanien entstehen und münden in Serien wie "Imagining Fauna" (2008-11), die Tierpräparate in kunsthistorischen Sammlungen zum Thema hat.

Ihr Frühwerk geriet dabei so sehr in Vergessenheit, dass es ihr selbst in der Zusammenarbeit mit Hannes Wanderer wie neu vorkam. Was nicht überrascht, denn die Arbeiten sind in der Beschwörung häuslicher Rituale, zwischenmenschlicher Kommunikation, kindlicher Unbekümmertheit, pubertärer Hormonstaus, der Achtsamkeit oder Achtlosigkeit in Bezug auf den eigenen Körper sowohl brennend aktuell als auch zeitlos.

Galerie argus fotokunst, Mary Frey. Marienstraße 26, 10117 Berlin Mitte. Mi bis Sa 14 -18 Uhr. Bis 2. März 2019.

Peter Truschner

truschner.fotolot@perlentaucher.de


 
Mary Frey, Real Life Dramas. 128 Seiten, 28,5 x 25 cm, gebunden. Peperoni Books, Berlin 2018, 42 Euro. ISBN: 978-3-941249-27-1