Im Kino

Sehen ist in dieser Welt Macht

Die Filmkolumne. Von Michael Kienzl
06.06.2024. Nicht die Monster, sondern die Menschen sind die Blickobjekte in Ishana Shyamalans Regiedebüt "They See You". Streckenweise überzeugt der Film mit visuellem Einfallsreichtum und einem Gespür fürs Unheimliche, in erzählerischer Hinsicht jedoch will er leider zu viel auf einmal.

Ishana Shyamalans Regiedebüt erzählt von einem mysteriösen Wald, aus dem es keinen Ausweg gibt. An einer Tankstelle in der Nähe kleben mehrere Schichten verblasster Vermisstenanzeigen vergangener Opfer. Ein Mann, der panisch von diesem verwunschenen Ort fliehen will, wird schreiend von einem unsichtbaren Wesen in die Finsternis gerissen. Nach diesem Prolog widmet sich "They See You" US-Expat Mina (Dakota Fanning), die nach Irland gekommen ist, um sich nicht mit dem Tod ihrer Mutter auseinandersetzen zu müssen. Für den Zooladen, für den sie jobbt, soll sie einen sprechenden Vogel überbringen und gerät während der Reise in besagten Wald. 

Shyamalan beweist gleich zu Beginn ein gutes Händchen für visuelles Erzählen, was sich fruchtbar mit Eli Arensons stylisher Kameraarbeit verbindet, in der die düstere, moosige und nebelverhangene Atmosphäre des Waldes ausgereizt wird. Das "Just don't die", das Mina dem Vogel vor ihrer letzten Partynacht zugeflüstert hat, plappert das Tier perfekt getimet nach ihrer Autopanne als Warnung nach. Für einen kurzen Moment blicken wir mit den Augen des Tiers durch die Gitterstäbe des Käfigs - und sehen gleich darauf, wie Mina zwischen bedrohlichen Baumstämmen in einem nicht unähnlichen Gefängnis steckt. 

In einem Bunker trifft sie schließlich auf drei Leidensgenossen: Den etwas einfältigen Proll Daniel (Oliver Finnegan), die sehnsüchtig auf die Rückkehr ihres bereits im Prolog zu Schaden gekommenen Freundes wartende Ciara (Georgina Campbell) sowie die ältere, weise, aber auch undurchsichtige Madeline (Olwen Fouéré), die die Regeln fürs Überleben im Wald erklärt. Nachts kriechen Kreaturen aus ihren Löchern, die alles verschlingen, was ihnen in den Weg kommt. Im Bunker spielt sich derweil ein bizarres Ritual ab: Mit Einbruch der Dunkelheit verwandelt sich ein großes Glasfenster in einen Spiegel, vor dem sich die Gefangenen präsentieren müssen, ohne selbst zu sehen, wer sie beobachtet. Ein perverses Spektakel, mit dem scheinbar die Schaulust der Monster befriedigt wird. Zumindest legt dies die DVD einer an "Big Brother" angelehnten TV-Kuppelshow aus den frühen Nullerjahren nahe, die sich die lethargische Mina ansieht.


Sehen ist in dieser Welt Macht. Als Mina bei einer verbotenen Exkursion eine Kamera findet, versucht sie, den Spieß umzudrehen und einen Blick auf die Monster zu erhaschen. An einer bedeutungsvollen Metapher für das Blickregime im Kino hat Shyamalan dabei glücklicherweise kein Interesse. Vielmehr entfaltet sich die Situation gemächlich in ihrer unvorhersehbaren Sonderbarkeit. Besonders die vereinzelte Verschrobenheit von "They See You" erinnert an die übersinnlichen, existenziell und melodramatisch aufgeladenen Genrefilme von Shyamalans berühmtem Vater M. Night. Auch Ishana interessiert weniger das nackte Grauen als der schleichende Grusel, keine brutalen Effekte oder schweißtreibenden Spannungsmomente, sondern die Empfindsamkeit der Figuren, die mit pirouettenschwingenden Geigen auf dem Soundtrack von Anfang an angedeutet wird.

Außerdem erinnert "They See You" immer wieder an die im Unterbewusstsein ihrer emotional vernarbten Figuren wühlende Mysteryserie "Lost". Wie Motten das Licht, zieht der Zauberwald verlorene Seelen an, raunt es zu Beginn aus dem Off. Und ähnlich wie die aus einer archaischen Vorzeit stammenden Kreaturen als verdrängtes Vergangenes auf die Erde zurückkehren, offenbart jede Figur ein persönliches Trauma. Wenn es sentimental wird, bleibt der Film freilich nur schablonenhaft und läuft darauf hinaus, dass jeder sein Päckchen zu tragen hat. Eine Binsenweisheit, vor der nicht einmal die Monster verschont bleiben. 

Abgesehen von Shyamalans erkennbarem Gespür für Bilder, Stimmungen und eigenwillige Regieeinfälle steckt viel Verschenktes in "They See You", oder anders gesagt: es steckt überhaupt viel zu viel in diesem thematisch überfrachteten Film, in dem sich nicht selten die interessantesten Ideen als falsche Fährten erweisen. Wie die Kreaturen ändert auch die Geschichte immer wieder ihre Gestalt und versucht durch mäßig elegante Twists nachträglich jene unplausiblen Momente zu legitimieren, an denen man sich zuvor festgebissen hat. Selbst im letzten Drittel macht das von der Regisseurin nach A.M. Shines Roman "The Watchers" verfasste Drehbuch noch eine Reihe neuer Fässer auf. "They See You" will gleichzeitig in zu viele verschiedene Richtungen: will Psychogramm einer Traumatisierten sein, die zwischenmenschliche Dynamik in einer Extremsituation beleuchten, sich mythologischem Fantasy-Quatsch hingeben und den Auswüchsen fehlgeleiteter Wissenschaft widmen. Mit dem gegen Ende zunehmend frustrierenden Resultat, dass Figuren und Erzählstränge notorisch unterentwickelt bleiben. Zwar steckt mindestens ein guter Film in "They See You", aber eben auch noch ein paar andere mehr.

Michael Kienzl

They See You - USA 2024 - OT: The Watchers - Regie: Ishana Shyamalan - Darsteller: Dakota Fanning, Georgina Campbell, Olwen Fouéré, Oliver Finnegan, Alistair Brammer - Laufzeit: 102 Minuten.