Im Kino

Übrig bleibt nur die Mitte

Die Filmkolumne. Von Olga Baruk, Michael Kienzl
23.07.2020. Uisenma Borchu erzählt in "Schwarze Milch" von den Geschwistern Ossi und Wessi. Wobei letztere mit ihrer Rückkehr aus Berlin in die Mongolei ihre eigene Fiktion pflanzt. David Dobkins Netflix-Film "Eurovision Song Contest: The Story of Fire Saga" zeichnet sich eher durch demonstrativen Respekt vor dem Festival aus als durch anarchisch überdrehten Drive.


Zu Beginn ist dieses Paar, sie und er, in einer großzügigen Altbauwohnung, in Deutschland, in einem Zustand der Entfremdung. Franz (Franz Rogowski) sagt, Wessi (Uisenma Borchu) sei für eine Heimkehr zu feige. Er sagt, ihre Schwester, von der sie stets rede, gebe es gar nicht - alles nur ausgedacht. Sie lässt sich das alles gefallen. Beklommen wirkt sie dabei, schwach, fragil, beeinflussbar. Die Miene von Franz ist dunkel: "Du gehörst zu mir", sie bejaht es, knöpft ihre Bluse dabei nachdenklich zu, schaut in den Spiegel und hinterfragt ihr bisheriges Leben grundlegend.

Warum die Rückkehr in die mongolische Heimat für die junge Frau einer Mutprobe gleichkommt, bleibt in "Schwarze Milch" offen. Hauptsache, sie tut es. Lichter und Hochhäuser der Hauptstadt Ulaanbaatar sind das letzte Stück Westen, an dem sie noch ganz fest zu klammern scheint. Noch. Schön ist, wie schnell und entschlossen sie und der Film fortan alles Unwesentliche hinter sich lassen. Denn wesentlich ist: Nach vielen Jahren der Trennung begegnen sich die Schwestern Ossi und Wessi wieder. Sprechende Namen, warum eigentlich nicht, einige Dinge im Leben seien eben ziemlich platt, sagt Uisenma Borchu in einem Interview. Bei ihrem zweiten Langfilm ist sie für die Hauptrolle fürs Drehbuch und für die Regie zuständig.

Ossi (Gunsmaa Tsogzol) lebt als Nomadin in der Wüste Gobi, hat zwei Jurten, einen unnützen Ehemann sowie zahlreiche Ziegen und Pferde, um die sie sich mehr oder weniger allein kümmert. Die Schwester gibt es wirklich, Franz dagegen ist weg vom Fenster. Ossi und Wessi wechseln zu Begrüßung kaum ein Wort miteinander, zur Angewöhnung essen sie: Hirse im Rahm, Ziegengaumen, mit einem Knochen garnierte Suppe, getrockneten Käse und Süßigkeiten. Die Kamera von Sven Zellner hält die täglichen Abläufe fest, wir sehen mehrfach wie das Wasser erwärmt, Schnaps und Airag eingeschenkt, wie gebadet wird. In der Enge einer Jurte hat jeder Gegenstand seine Funktion und seinen Platz, in der Weite der Steppe relativieren sich die Verhältnisse - hier ist alles exponiert und vom üblichen Kontext losgelöst. Seinen dokumentarische Ansatz führt der Film auch da fort, wo Schauen zu einer Zumutung wird, wie etwa in den wiederholten Szenen traditioneller Tierschlachtung.



Und immer wieder dieses beeindruckende Nichts. In der Wüstenleere hat jede Begegnung eine Konsequenz. Von solchen Begegnungen, die unweigerlich ins Herz treffen, handelt "Schwarze Milch", von Beziehungen verschiedener Art, von Sehnsucht der Herzen und Körper, von sich nähernden Schritten, von Motorgeräuschen bei Nacht, von Blicken, die vorwurfsvoll oder begehrend sind. Im Guten wie im Bösen. In diesem Setting völlig deplatziert klingelt einige Male das Telefon. Männer in ihrem patriarchalen Gehabe kommen hier bewusst eintönig daher, faszinierend sind die Frauen. "Schwarze Milch" will an das in den beiden Schwestern Verborgene heran, an die Wünsche und die Kraft, die unter ihren bunten Deels lauert. Die Farbe Schwarz wird in den Mythen der Mongolei mit Weiblichkeit in Verbindung gebracht. Das Dunkle ist positiv besetzt, aber gefährlich.

Neben der Annäherung der beiden Schwestern zueinander werden freilich auch die Reibungen zwischen ihnen erzählt. "Unschickliche Sachen" finden statt, womöglich aber nur in der Fantasie. In die Weite der Wüste, die etwas Traumartiges hat, stürzt sich Wessi kopfüber hinein: Eine reife erwachsene Frau und doch wie ein Kind, vom unbedingten Wunsch erfasst, die Grenzen auszutesten. Uisenma Burchu: "Man muss sich als Mensch selbst riechen können, seinen Schweiß, seinen Urin. Aber die Gesellschaft überdeckt vieles". Als Außenstehende meint die von Borchu verkörperte Wessi alles besser zu wissen und rüttelt an den Verhältnissen. Das nicht ohne Grund, obgleich sie aus Perspektive einer Frau spricht, die jederzeit weg kann. Die Regisseurin, die in der Mongolei geboren wurde und als Kind mit ihrer Familie in die DDR immigrierte, ist durchaus auf das Exotische aus, findet dabei aber ihren eigenen Zugang. Oder besser: Sie pflanzt dort ihre eigene Fiktion ein, die in dem steinigen Boden ihre Wurzeln schlägt. Ost und West, Ossi und Wessi, was bei diesem Clash herauskommt, meint man von vornherein zu wissen. Trotzdem lohnt sich der Weg, alleine schon, weil diesem Film eine eigene Ungeduld innewohnt. Alle Anfänge und alle Enden sind von der Montage eliminiert, übrig bleibt nur die Mitte.

Olga Baruk

Schwarze Milch - Deutschland, Mongolei 2020 - Regie: Uisenma Borchu - Darsteller: Gunsmaa Tsogzol, Uisenma Borchu, Franz Rogowski, Terbish Demberel, Borchu Bawaa - Laufzeit: 91 Minuten.

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Mit ihrem Bandprojekt Fire Saga wollen Lars (Will Ferrell) und Sigrit (Rachel McAdams), wohnhaft in der isländischen Kleinstadt Húsavík, einmal so berühmt werden wie ABBA. Wenn sie auf einem zugerümpelten Dachboden ihren Song "Volcano Man" proben und sich in einem aufgemotzten Musikvideo wiederfinden, scheint dieser Traum für kurze Zeit zum Greifen nah. Zwischen endlosen Fjorden und CGI-Explosionen hämmern die beiden in Wikinger-Rüstung und weißem Elfengewand in ihre Keyboards und huldigen dabei einem explosiven Liebhaber, der die Herzen der Frauen zum Schmelzen bringt. Die Wirklichkeit holt die beiden bei einem ihrer regelmäßigen Auftritte in der Dorfkneipe ein. Immer wenn sie dort einen ihrer selbstgeschriebenen Songs präsentieren wollen, fordert ein grölender Mob stattdessen den dumpfen Folklore-Schlager "Jaja Ding Dong".

Regisseur David Dobkins lässt seine Protagonisten in "Eurovision Song Contest: The Story of Fire Saga" hartnäckig um Ruhm und Anerkennung kämpfen, wofür sie bald auch belohnt werden: Lars' und Sigrits recht utopischer Wunsch, Island beim Song Contest zu vertreten, geht in Erfüllung, nachdem alle anderen Bewerber bei einem Unfall ums Leben kommen. Der Weg bis zum entscheidenden Auftritt beim Halbfinale in Edinburgh bleibt jedoch steinig. Die Konkurrenz ist hart, zahlreiche Landsleute wie Lars' grummeliger Vater (Pierce Brosnan) sind voller Scham und die Beziehung zwischen Lars und Sigrit wird auf eine harte Probe gestellt. Doch auch wenn solche dramatischen Konflikte im Film viel Raum einnehmen, werden sie überwiegend pflichtschuldig abgehakt. Interessant wird es meist dann, wenn Co-Drehbuchautor Will Ferrell sich selbst genug Material zum Austoben gibt.



Wieder verkörpert Ferrell eine jener gutmütig trotteligen Figuren, die ihr Scheitern mit besonderer Wehleidigkeit zelebrieren. Dabei wird der charakteristisch bedröppelte Gesichtsausdruck durch die blonde Langhaarperrücke noch zusätzlich betont. Es ist Lars' Unbeholfenheit in zwischenmenschlichen Situationen und seine Überforderung mit den eigenen Gefühlen, die im besten Fall große Comedy-Kunst hervorbringt; etwa seine zwischen gespielter Betroffenheit und unverhohlener Freude wechselnden Verrenkungen nach dem Tod seiner Konkurrenten. Rachel McAdams hat da als feenhaft anmutige Schönheit, bei der niemand versteht, was sie eigentlich an Lars findet, die deutlich undankbarere Rolle erwischt.

Am prächtigsten blüht "The Story of Fire Saga" auf, wenn er sich ganz seinen maß- und geschmacklosen Bühnenwelten hingibt. Einmal sieht man, wie sich Lars eine riesige Socke in den Schritt seines hautengen weißen Anzugs stopft, weil er um die Kraft der richtigen Inszenierung weiß. Der Film legt viel wert auf seine Details. Während die mit reichlich Pathos aufgeplusterten Eurodance-Nummern von Fire Saga neben ihrer parodistischen Absicht musikalisch überraschend gut sind, geraten die Auftritte des Duos zu fantasievoll absurden Szenarien, die fast jedes Mal in einem Trümmerhaufen enden.

Ebenso sehenswert ist Dan Stevens als überspannter russischer Song-Contest-Veteran Alexander Lemtov. Mit blonder Föhnwelle, Brokatmantel und Peitsche jagt er eine Horde halbnackter Tänzer auf der Bühne herum und schmettert dazu eine Disco-Arie über einen liebeshungrigen Löwen ("And when I roar, you'll know I'm done"). Dabei ist Lemtov nicht so sehr als Lars' Gegenspieler interessant, sondern vielmehr als Ereignis für sich; als Karikatur von Dekadenz und Extravaganz.

Besonders diese Figur macht allerdings auch die Schwächen der Produktion deutlich. Ähnlich groß wie das Gefälle zwischen Fire Sagas Video zu "Volcano Man" und ihrem Musikeralltag ist das zwischen Albernheiten à la Lemtov und dem Repräsentationsanspruch des Films. Fast schon wie eine Warnung ist das Logo des Eurovision Song Contest auf dem Filmposter platziert und macht deutlich, dass es hier nicht ganz unwesentlich darum geht, den Fans der Veranstaltung zu Diensten zu sein. Comedien Graham Norton etwa führt im Film ebenso durchs Finale wie er es seit über zehn Jahren für die BBC macht und während einer Party kommt es zu einem Gruppensingen, das einzig dazu dient, ehemalige Song-Contest-Teilnehmer wie Conchita Wurst, Netta oder Bilal Hassani auftreten zu lassen.

Nun kann man einem Film nicht unbedingt vorwerfen, dass er sein Sujet ernst nimmt. Letztlich aber bremsen Authentizitätswille und demonstrativer Respekt immer wieder den anarchischen Drive von "The Story of Fire Saga" - ganz anders etwa als in der ebenfalls mit Ferrell besetzten Eiskunstläufer-Komödie "Blades of Glory", die deutlich mehr durchdreht und dabei trotzdem nicht das porträtierte Milieu verheizt. Vielleicht spiegelt sich darin auch der Wandel des Song Contest, der über die Jahre einiges von seinem Camp-Appeal eingebüßt hat. Wenn die Auftritte von Fire Saga und Lemtov von einem Zusammenschnitt eher biederer Performances flankiert werden, strahlen sie immerhin besonders schön als letzte Bastion des schlechten Geschmacks. 

Michael Kienzl

Eurovision Song Contest: The Story of Fire Saga - USA 2020 - Regie: David Dobkin - Darsteller: Will Ferrell, Rachel McAdams, Dan Stevens, Mikael Persbrandt, Pierce Brosnan - Laufzeit: 123 Minuten. "Eurovision Song Contest: The Story of Fire Saga" auf Netflix