Im Kino

Billiges Fleisch und 5.000 Schuss Munition

Die Filmkolumne. Von Thekla Dannenberg, Lukas Foerster
31.07.2020. Camila Freitas zeigt in ihrem Dokumentarfilm "Chão - Landless" die Situation der landlosen Bauern in Brasilien, deren fast aussichtsloser Kampf um Land einem Western ähnelt. Judd Arpatow hat mit Pete Davidson für seine Komödie "The King of Staten Island" die perfekte Lusche gefunden. Ein Film mit einem großen Herzen, das man aushalten muss.


In den Weiten von Mato Grosso nehmen sich Träume bescheiden und unerfüllbar zugleich aus. Wenn ihnen die Regierung nur endlich eine Parzelle Land zuweisen würde, sinnieren der arbeitslose PC und eine ältere Frau ohne Namen, die von allen nur Großmutter genannt wird, dann könnten sie Bohnen, Mais und Maniok anpflanzen, vielleicht auch Orangen und Zitronen. Auf keinen Fall Reis oder Gueroba-Palmen, die kann man nur einmal im Jahr ernten. Sie könnten auch Schweine oder Hühner halten. Wenn dann noch Platz wäre, dann würden sie Rosen ziehen.

Auf einer Tafel malen sich die beiden mit Kreide aus, wie sie ihre vierzig Morgen verteilen wollen, schraffieren die Weide, kritzeln den Acker und kleine Obstbäumchen, und natürlich das Blumenbeet. Mit den Träumereien vertreiben sie sich die Zeit, in der sie auf einem selbst gezimmerten Turm Wache schieben. Sie müssen Alarm schlagen, wenn die Räumkommandos anrücken, die sie vom besetzten Land verjagen sollen.

Manche Szenen in Camila Freitas' Film "Chão" hätten einen Western ergeben können: Siedler, die um ihr Land kämpfen, Viehzüchter, die bewaffnete Trupps anheuern, um die Farmer zu vertreiben, dazu die unendliche Weite der amerikanischen Landschaften. In Brasilien ist dieser uralte Kampf zwischen Siedlern und Großgrundbesitzern, der den Kontinent prägte, noch lange nicht ausgefochten. Der Kampf ums Land ist nicht in mythische Ferne gerückt, sondern heutig, nicht grandios, sondern mühselig, unheroisch, fast kümmerlich. Regisseurin Camila Freitas greift zu langen Einstellungen, wenn sie den Kampf der Landlosenbewegung dokumentiert, die immer wieder Gebiete großer Agrarkonzerne besetzt und dabei von den Regierungen unter Lula und Dilma Rousseff politisch unterstützt wurde. "Chão" setzt dem Western seine eigene Bildwelt entgegen, die den Kampf ums Land nicht weniger episch in Szene setzt. Die Ebenen sind weit, der Horizont ist fern.

Über vier Jahre hat Freitas das Kollektiv verfolgt, das sich 2014 auf dem Land des Konzerns Agrobrasil in den Bundesstaaten Mato Grosso und Goiás niederließ. Aufgeteilt in einzelne Gruppen mit Namen wie "Freies Heimatland", "Freiheitssonne" oder "Gemeinsam zum Sieg" diskutieren sie die Grade der Militanz, zu der sie bereit sind, besonders draufgängerisch zeigt sich natürlich die Gruppe Olga Benario. Sie bringen Güterzüge zum Stoppen oder besetzen eine seit zehn Jahren stillstehende Zuckerrohr-Fabrik, um wieder eine Getreideproduktion in Gang zu setzen. Der Gerichtssaal ist nicht unbedingt die Arena, in der die Landlosen Kämpfe gewinnen können. Wenn die Herren Juristen ihre Sache verhandeln, lässt sich nicht unterscheiden, wer für und wer gegen sie streitet. Auch auf den Gesichtern der Landlosen: blanke Ratlosigkeit.



Die Medien erweisen sich schon eher als Verbündete, und die versierten Organisatoren der Landlosen wissen sie ziemlich geschickt zu nutzen. Sie verstehen es, ihre modernen Kampagnen auf allen Kanälen loszutreten, aber Agitprop beherrschen sie auch: Die Landreform gibt's nur, wenn Arbeiter und Bauern zusammenstehen! Wenn auf dem Land nichts wächst, hat die Stadt nichts zu essen! Ohne Rebellion keine Reform! Gesundes Essen ohne Pestizide statt Zuckerrohr! Agro-Business tötet!

Freitas lässt diese Organizer nur am Rand erscheinen. Sie bleibt bei den einfachen Bauern, den Arbeiterinnen und Arbeitslosen, in ihren kläglichen Hütten und zerlumpten Zelten, bei endlosem Regen, in Armut und Tristesse. Denn der eigentliche Kampf wird auf dem Land ausgetragen. In wohlgeordneten Marschkolonnen ziehen die Siedler mit ihren Spitzhacken los, um die verhassten Zuckerrohrfelder umzupflügen und stattdessen Maniok zu säen. Es herrscht eine erstaunlich strikte Moral: Arbeit muss sein. Verdient eine eigene Parzelle, wer so nachlässig das Unkraut jätet?

Am Ende stehen die Zahlen: In kaum einem Land der Welt ist der Boden so ungleich verteilt wie in Brasilien. Ein Prozent der Grundbesitzer halten 45 Prozent des gesamten Ackerlandes. Doch obwohl die Kleinbauern siebzig Prozent der Nahrungsmitteln produzieren, können sie nur einen Bruchteil des Landes beanspruchen. Jair Bolsonaro hat die Bewegung der Landlosen zu einer terroristischen Vereinigung erklärt. Den Viehzüchtern gewährte er noch mehr Land für ihre Herden und ein gelockertes Waffenrecht. Es klingt wie ein Wildwest-Motto: "Billiges Fleisch und 5.000 Schuss Munition."

Der auf Arthouse und Autorenfilm kaprizierte Streamingdienst Mubi zeigt Camila Freitas' Dokumentarfilm in einem Spezial zum neuen brasilianischen Kino, das sich in den vergangenen Jahren zu einer Höhe aufgeschwungen hat, die hierzulande auf Festivals durchaus wahrnehmbar war, aber  nicht in einer breiteren Öffentlichkeit. Nicht einmal der charismatische Kleber Mendonça Filho, der Anfang des Jahres noch Jury-Vorsitzender der Berlinale war, schaffte es mit seinem radikalen Epos "Bacurau" in die Kinos, obwohl dieser Film, Widerstandssaga und wilder Genre-Mix zugleich, in Cannes den großen Preis der Jury gewann. Ganz zu schweigen von jüngeren Regisseuren wie Felipe Barbosa, Eryk Rocha oder André Novais Oliveiro. Die goldenen Jahre sind vorbei. Bolsonaro geht gegen Brasiliens Filmkultur genauso rabiat vor wie gegen die Landlosen-Bewegung, und die erfolgreiche Filmförderagentur Ancine wurde an die Kandare gelegt.

Camila Freitas "Chão" gehört zu den großen Filmen dieses neuen brasilianischen Kinos, doch er trägt nicht nur den Zeitenwandel in sich, sondern auch schon eine Ahnung der Niederlage. Über vier Jahre harrten die Besetzer aus, ohne dass ihre Siedlung legalisiert wurde. Nach der Absetzung von Dilma Rousseff konnten die Landlosen nicht mehr auf Sympathien in der brasilianischen Regierung hoffen. Nach vier Jahren musste auch Freitas ihre Pläne revidieren. Einen Film über Selbstermächtigung und Solidarität, wie ihr vorschwebte, gab die neue Realität nicht mehr her. Diese bittere Wendung macht "Chão" zu einem weniger selbstgewissen Film. Sieg oder Triumph gibt es hier nicht, nur die Mühen des Kampfes, seine quälende Dauer und einen ungewissen Ausgang.

Thekla Dannenberg

Chão - Landless - Brasilien 2019 - Regie: Camila Freitas - Laufzeit: 112 Minuten. "Chão - Landless" auf Mubi.

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"What's a 'life event'?" Der das fragt, Scott (Pete Davidson), weiß durchaus, was damit gemeint ist: Hochzeiten, die erste eigene Wohnung, die erste Arbeitsstelle, der Eintritt in den Ruhestand, oder, wie in diesem Fall, die High-School-Abschlussfeier seiner Schwester. Er selbst will von all dem nichts wissen und sein Widerwille lässt sich leicht pathologisieren: In der Tat ist die Haupt- und Titelfigur des neuen Films von Judd Apatow ein dauerbekiffter chronischer Rumhänger, einer, der mit 24 Jahren noch bei seiner Mutter wohnt, sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser hält (er ist der Tellerwäscher, der es nie zum Millionär bringen wird) und wenig unternimmt, um seinen Traum, seinen Lebensunterhalt als Tattoo-Artist zu verdienen, in die Tat umzusetzen. Einer, der sich in einer verlängerten Adoleszenz eingeigelt hat und gegen Veränderung jeder Art sträubt - insbesondere gegen solche, die von einem life event angekündigt werden. Es gibt freilich auch andere Gründe dafür, sich gegen die Eventisierung des eigenen Lebens zu wehren: Aus dem Fluss des Alltags einzelne Ereignisse herauszugreifen und sie als life events zu kennzeichnen heißt, dem Leben eine dramaturgische Struktur überzustülpen. Als wären wir alle in der Dreiaktstruktur eines Mainstreamfilms gefangen.

Umgekehrt beschreibt das die große Stärke der Filme von Judd Apatow: Wenn die sich ihrer glatten Oberfläche zum Trotz der gängigen Komödiendramaturgie nie ganz beugen, dann auch deshalb, weil sie sich weigern, das Leben als eine Abfolge von life events zu begreifen, als einen Parkour, den es möglichst geschickt zu bewältigen gilt. Da sie trotzdem auf ein im bürgerlichen Sinn gelingendes Leben hin perspektiviert sind, wird Apatow oft als ein Konservativer missverstanden. Noch deutlicher als seine vorherigen Filme zeigt "The King of Staten Island", warum das zumindest etwas kurz gedacht ist: Viel weniger als für eine gelingende Sozialisation interessiert sich Apatow für all das, was sich ihr in den Weg stellt.

Diesmal sind die Widerstände und der aus ihnen resultierende Leidensdruck besonders groß. "The King of Staten Island" bleibt nahe an der Persona und auch der Biografie seines Hauptdarstellers: Bekannt wurde Davidson als ein Stand-up-Comedian, der sein zumindest streckenweise verkorkstes Leben ziemlich schonungslos auf der Bühne aufarbeitet. Eine zentrale Rolle spielt dabei sein Geburtsort, auf den auch der Titel von Apatows Film verweist: Staten Island, der uncoolste der fünf New Yorker Stadtbezirke, wird zum Chiffre fürs ewige Abgehängtsein. In Staten Island ist man immer schon on the outside looking in: in Sichtweite der Weltstadt und trotzdem gefangen in der Provinz.

Vielleicht ist Stand-up-Comedy überhaupt ein gutes Modell dafür, wie es gelingen kann, das Alltagsleben erzählbar zu machen, ohne auf life events zurückgreifen zu müssen. Für KomikerInnen ist die eigene Biografie erst einmal nur Rohmaterial. Alles kann zur Pointe taugen, das Kleine genauso gut wie (und oft sogar besser als) das Große. Es kommt lediglich darauf an, einen geeigneten Blickwinkel zu finden; einen, der etwas Originelles sichtbar macht. Genau so dreht Apatow, selbst Stand-up-Veteran, seine Filme. Leben, das ist in ihnen etwas, das sich nur in konkreten sozialen Situationen realisiert. In langen Gesprächsszenen vor allem, die wunderbar resistent sind gegenüber den Ansprüchen von Regeldramaturgie und Zeitökonomie. Diesmal gibt es zum Beispiel eine großartige Passage, in der Scotts Mutter (Marisa Tomei) ihren Sohn erst in eine mäandernde Unterhaltung über Inneneinrichtung verwickelt und dann hinterrücks aus ihrem Haus hinausbefördert.



In gewisser Weise steht in jedem einzelnen Gespräch alles auf dem Spiel. Nicht nur das Verhältnis der Gesprächspartner zueinander sondern auch das Selbstkonzepte jeder einzelnen Figur werden ständig neu austariert. Kommunikation ist in dieser Welt das einzige dynamische Element, was auch heißt: Veränderung ist nur zu haben als Veränderung von Kommunikation. Die Entwicklung, die Scott durchläuft, reduziert sich letztlich darauf, dass er eine Form des homosozialen Beisammenseins durch eine andere ersetzt: Zu Beginn hängt er mit seinen Kumpels ab, die wie er selbst nicht viel auf die Reihe bekommen. Die Stimmung ist friedlich, aber latent paranoid, am liebsten treffen sich die Jungs in einem schummrigen Kellerraum, die paar Mädels, die sich gelegentlich hierhin verirren, suchen meist schnell das Weite. Später, nach einem Streit mit der Mutter, sucht Scott Zuflucht bei Feuerwehrleuten, die eine Zeit lang zu seiner Ersatzfamilie werden. Hier geht es nicht weniger albern zu als im Jungskeller, aber die Situation ist lebendiger, offener, der Welt nicht ab-, sondern zugewandt.

Wo andere Hollywoodkomödien von Plot point zu Plot point hetzen und sich immer stärker dem die Industrie dominierenden Action-Adventure-Supergenre annähern, bremst Apatow sein Kino mit jedem Film weiter herunter. Dass das diesmal besonders gut funktioniert, liegt zuallererst an den Schauspielern. An Pete Davidson selbst vor allem, einem schlaksigen Typ mit breitem Mund und tiefen Augenhöhlen, wie aus einem Cartoon entsprungen. Dauerbenebelt, aber dabei energiegeladen und selbst in seinen asozialsten Momenten nie ganz unliebenswürdig, trägt er den Film mühelos, unterstützt von einem phänomenalen Ensemble-Cast. Marisa Tomei ist ohnehin ein Gütesiegel für jeden Film, in dem sie auftritt, Pamela Adlon spielt eine frustrierte Hausfrau und war nie vulgärer, Steve Buscemi sitzt als der lokale Geschichtenerzähler in der Feuerwache.

Ein Film mit einem großen Herzen, der bisweilen an seine inneren Grenzen stößt, sehr deutlich zum Beispiel in einer Szene, die in einem Krankenhaus spielt: Scott schleppt einen Mann mit Schusswunde an, den er in wenig luzidem Zustand auf der Straße aufgegabelt hatte. Eine Weile beobachtet der Film, wie er versucht, Hilfe zu organisieren für den offenbar nicht versicherten und deshalb selbst in der Notaufnahme quasi unsichtbaren Verletzten. Da aber Scotts Mutter in derselben Klinik als Krankenschwester arbeitet, und ihr neuer Freund, auch er Feuerwehrmann, zufällig ebenfalls zur Stelle ist, geht doch noch alles gut aus.

Das ist natürlich eine etwas allzu glückliche, um nicht zu sagen verlogene Auflösung; es hat jedoch auch etwas Rührendes, weil es auf ein tiefsitzendes Harmoniebedürfnis verweist, das in allen Filmen des Regisseurs untergründig zugange ist. Letztlich will das Apatow-Kino all seine Figuren und auch uns weich betten. Ein Akt der Gnade - und dann liegt es ganz bei uns, ob wir ihn annehmen oder stattdessen lieber den Realismusknüppel fordern.

Lukas Foerster

The King of Staten Island - USA 2020 - Regie: Judd Apatow - Darsteller: Pete Davidson, Marisa Tomei, Bill Burr, Bel Powley, Maude Apatow, Pamela Adlon, Steve Buscemi - Laufzeit: 136 Minuten.