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Blümelein mit Vögelein

Über Bücher, Bilder und Ausstellungen Von Peter Truschner
08.12.2023. Eine Messe  - ob IAA oder Gamescom - soll eigentlich den aktuellen State of the Art der jeweiligen Branche präsentieren. Davon war auf der Paris Photo wenig zu sehen, das Motto lautete eher: Wir gehen auf Nummer Sicher, setzen auf Vintage und vermeiden es, die Kundschaft unnötig aufzuregen.  Einige Entdeckungen gibt es dennoch, zum Beispiel Louise Dumont. Außerdem werden hier zwei der besten Pariser Bäckereien empfohlen, die Geist mit Nahrung verbinden.
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Wäre der Ruf der Kunst irgendwann nicht so stark gewesen, dass er alles andere ausschloss, hätte ich mir gut ein Berufsleben als Koch oder Sommelier vorstellen können.

Neben dem Studium habe ich eine Zeitlang an der Fleischtheke eines Lebensmittelgeschäfts gearbeitet. Der Chef war ein Metzger alten Schlags und hat mir alles beigebracht, was es über Fleisch zu wissen gibt, in welche Bestandteile man es zerlegt und was man daraus macht. Er rannte bei mir offene Türen ein. Schließlich habe ich meine ersten Jahre auf dem Bauernhof meiner Großeltern unweit der Grenze zu Italien verbracht, wo es einen reichhaltigen Obst- und Gemüsegarten gab. Ab und zu wurde ein Huhn geköpft und ein Schwein geschlachtet.

Wenn ich also nach Paris fahre, denke ich zuerst an das Wiedersehen mit dem Louvre oder dem Musée d'Orsay, dann aber gleich an die kulinarischen Genüsse, die mich dort erwarten, ohne dass ich deswegen eigens ein Restaurant aufsuchen muss, an Boulangerie, Fromagerie und Boucherie.

Mein Quartier beziehe ich gern in der Nähe des Place de la Republique. Mein erster Weg führt mich unausweichlich in eine Bäckerei. Glücklicherweise sind zwei der besten vor Ort: Die "Boulangerie Utopie" und die "Boulangerie du pain et des idées" - allein schon die Verbindung von Geist und Nahrung zeigt an, dass man sich in Frankreich befindet. Dort lasse ich mir ein kleines Paket zusammenstellen, ein Proviant, der nicht nur dem Magen, sondern auch der Seele gut tut, und den ich dringend brauche, schließlich muss ich mich tagelang durch die Tristesse der Fotomesse "Paris Photo 2023" quälen.

Morgendliche Lieferung für eine Boucherie





























Letztes Jahr war es schon wenig berauschend, aber der in meinem Beitrag für Fotolot verpackte Ärger hatte etwas Funkendes, nicht zuletzt, weil ich im Jahr davor mit Grippe im Bett lag und froh war, nach 2019 das erste Mal wieder auf der Messe zu sein. Dieser Beigeschmack von Begeisterung war angesichts dessen, was die Galerien dieses Jahr zeigten, rasch verflogen.

Dass hatte definitiv nichts damit zu tun, dass - wie mir eine Messe-Managerin anvertraute - es ein Desaster mit den VIP-Karten gab: achttausend wurden vergeben, vom Premium Pass bis hin zu einer für einen Tag gültigen Einladung. Man weiß nicht, wie es dazu kommen konnte, es war auf jeden Fall der Grund für lange Warteschlangen vor der VIP-Lounge und für Ärger beim Stand des überforderten VIP-Shuttle Service mit E-Limousinen. Die Managerin brauchte spürbar Nervenfutter, also bot ich ihr etwas von meinen Canelés an (ein kleines Gebäck mit einem weichen, zarten Puddingkern, Aromen von Rum und Vanille und einer karamellisierten Kruste), was sie dankend annahm und ihr sichtlich gut tat.

Die werten LeserInnen haben es sicher schon gemerkt: Ich nutze jede Gelegenheit, um mich vor dem faden Schmarren zu drücken, der den Großteil der Messe ausmachte. Aber es hilft ja nichts.

Das auf der Messe Gezeigte lässt sich in einem ersten Schritt in zwei Segmente teilen: in Vintage und Non-Vintage - wobei ich den Vintage-Begriff hier allgemeiner fasse und ihn nicht nur auf das Datum des Erstdrucks und aller nachfolgenden Prints beziehe, sondern auf die Zeit, in der ein Foto entstand. Ich unterteile also in Fotografie vor 1945 und solche nach 1945.

So wie in den sechziger und siebziger Jahren Antiquitätenhändler die Dörfer abklapperten, um alte Möbel und Gegenstände des täglichen Gebrauchs um einen Schnäppchenpreis abzustauben und teuer weiterzukaufen, so ziehen jetzt Scharen von Kunstbetriebsmenschen herum auf der Suche nach ungehobenen Schätzen in privaten Sammlungen oder Schuhschachteln auf Dachböden. In Deutschland spielt sich das vor allem auf dem Gebiet der ehemaligen DDR ab, um deren historisch bedeutsame, ästhetisch aber oft überschaubare Fotografie bis 1989 ein Hype entstanden ist.

In Paris sind derweil einige hinter den Fotos eines ehemaligen Topmodels her, die während der Shootings mit weltberühmten Fotografen entstanden. Sie ist nicht mehr jung und braucht das Geld - also versucht sie, die Interessenten gegeneinander auszuspielen und den Preis in die Höhe zu treiben. Es werden Wetten abgeschlossen, wer die heiße Ware am Ende bekommt.

Sally Mann bei Jackson Fine Art

 





















Es gibt Galerien, die sich traditionell der Vintage-Fotografie und der Fotohistorie vergangener Zeiten widmen. Auffällig war jedeoch die Anzahl der Galerien, die Vintage in ihr Programm aufgenommen oder aber den Anteil daran signifikant vergrößert haben. Was wahrscheinlich daran liegt, dass die Zeiten unsicherer werden und Vintage für etwas gehalten wird, das nicht an Wert verliert und sowohl für Galerien als auch deren Kunden eine durchwegs risikofreie Investition darstellt.

Fotohistorie boten unter anderem die Galerien: Pace (New York, mit einem besonders schönen Koudelka), Julian Sander (Köln), Greenberg (New York), Sophie Scheidecker (Paris), Edwin Houk (New York) Ibasho (Antwerpen), Hans P. Kraus (New York), Daniel Blau (München) oder Bruce Silverstein (New York).

Wobei Pace, Wouk oder Silverstein für die amerikanische Herangehensweise stehen, wo für alle etwas dabei ist. Bei Silverstein etwa gab es gerade eine Ausstellung der frühen Fotografien von Andre Kertesz, die darauf folgende hatte ein "Best of" von Fotos zum Gegenstand, die Todd Hido seit den neunziger Jahren auf seinen Reisen durch die USA gemacht hat.

Es ist selbstverständlich nicht so, dass es, wenn man die Tiefe des 20. Jahrhunderts auslotet, nicht Schönes und Sinnvolles zu sehen gäbe. Nach ihrer fantastischen Retrospektive 2019 im Jeu de Paume freue ich mich immer wieder, wenn ich wie bei Houk und Jackson Fine Art (Atlanta) auf Bilder von Altmeisterin Sally Mann treffe. Fifty One (Antwerpen) zeigte eine schöne Auswahl an Farbfotografien von Saul Leiter, größere Formate ab dreißigtausend Euro aufwärts. Rèverbére (Lyon) hatte eine ansprechende Auswahl von William Klein zu bieten, und Diane Arbus war in mehr als nur einer Galerie vertreten.

Saul Leiter bei Fifty One





























Dennoch bedeutet eine Messe  - ob IAA oder Gamescom - eigentlich, dass man den aktuellen State of the Art der jeweiligen Branche präsentiert. Davon war auf der Paris Photo wenig zu sehen, das Motto lautete eher: Wir gehen auf Nummer Sicher und vermeiden es, die Kundschaft unnötig aufzuregen.

Die weiteren Schwerpunkte neben dem Vintage-Bereich lauteten dementsprechend: "Häuschen / Blümchen / Bäumchen" und "Wonder Woman".

"Häuschen" steht für bestimmte Variationen von Architekturfotografie. Im Unterschied zu früher aber überwiegend nicht in Form komplexer, sich in abstrakten Strukturen auflösender Formationen, sondern einzelne, nicht selten romantisch und bedeutungsschwanger in einer Landschaft herumstehende Gebäude. Plattenbauten und Garagen in der Vorstadt, winterliche Chalets in der Schweiz, Brutalismus in Großstädten, Hütten in kargen norwegischen Fjorden, Steinhäuschen auf steinigen griechischen Inseln.

Häuschen unterschiedlicher Art gab's unter anderem bei Yancey Richardson (New York), Toluca (Paris), Augusta Edwards (London), L. Parker Stephenson (New York), Luisotti (Los Angeles) oder Large Glass (London).

"Blümchen" steht ebenso wie "Bäumchen" für im Zuge des Klimawandels wachsende Thematisierung von Natur und Vegetation, aber vor allem für die schon im Vorjahr dominanten Spielarten von Blumensträußen und -gebinden wie zu den besten Zeiten der niederländischen Genremalerei - ein Trend, der noch vordringlicher geworden ist, sodass man inmitten der versammelten Banalität froh war, künstlerisch stringente Konzepte vorzufinden wie die Langzeitbelichtungen von Michael Wesely bei Esther Woerdehoff (Paris) oder die aus Karton und Pappmache gebastelten, kolorierten und im Großformat fotografierten Pflanzen-Hybride von Matei Bejenaru in der Galerie Anca Poterasu (Bukarest).

Aber im Grunde ist das Motiv künstlerisch nicht zu retten - zumindest nicht so, wie es auf der Messe verhandelt wurde.

Den Vogel - im wahrsten Sinn des Wortes - schießt dabei die Berliner Galerie Persons Projects mit einem Motiv ab, das ich den werten LeserInnen einfach nicht vorenthalten kann (in meinem geheimen Tagebüchlein nenne ich es  "Blümelein mit Vögelein"):

""Blümelein mit Vögelein" bei Persons Projects (Sanna Kannisto)


"Bäumchen" gab es wie "Häuschen" und "Blümchen" sowohl allein, als mächtiger, den Bildraum einnehmender Stamm oder Ast, aber auch als Wäldchen oder dichter Wald, ästhetisch meist harmlos, wenn nicht überhaupt naiv, dafür ungleich häufiger als im letzten Jahr.

2022  standen noch von #blacklivesmatter und vom #femalegaze inspirierte Motive im Vordergrund. Fotografie dieser Art gab's dieses Jahr zum Beispiel bei Natalia Obadia (Paris), Michael Hoppen (London) und Louise Alexander (Los Angeles). Ganz vorne mit dabei war die Berliner Galerie Kuckei und Kuckei: Bilder von Barbara Probst zeigten Modelle mit der Kamera in der Hand als Geste der Selbstermächtigung. Daneben gab es eine Fotografie, auf der ein jeweils gesichtsloser und nackter, weißer und schwarzer Oberkörper einander sehr geschmackssicher umfingen.

Im Zentrum dieses Jahrgangs stand in dieser Hinsicht etwas, das ich "Wonder Woman" nennen möchte, ein Sammelbegriff für verschiedene Ansätze. "Wonder Woman" bedeutet, dass  "Frau","Woman of Color" und "Female Gaze" per se schon Kunst sind. Das geht noch übers deutsche Feuilleton hinaus, wo tendenziell jede Frau, die ein Buch schreibt, einen Film macht oder einen Bioladen betreibt, inzwischen mit dem Attribut "stark" versehen wird, was aber zumindest eine gewisse Vorleistung voraussetzt. Die braucht es auf der Paris Photo nicht mehr, "Frau sein" reicht völlig aus. (Was mich sehr an meine Jugend erinnerte, als noch die Männer immer stark und rational und per se die Krone der Schöpfung waren. Man sieht, Geschlechter werden endlich gleichgestellt, aber manche Dinge ändern sich offensichtlich nie.)

Das Dargestellte ist dabei so überschaubar, dass Mary Ellen Mark (deren sehenswerte Retrospektive noch bis 18. Januar bei C/O Berlin läuft) sich auf ihren Streifzügen mit der Kamera meist nicht dafür interessiert hätte. Es gab wenige relevante, aktuelle Positionen, allen voran Laia Abril bei Filles du Calvaire (Paris), die mit ihrer kompromisslosen, jahrelangen Recherche zu Formen von Misogynie, (demnächst bei Foto Arsenal Wien) Respekt abnötigt. Dennoch hatten Klassikerinnen wie Diane Arbus, Sally Mann, Jo Ractliffe  und - besonders erfreulich - Annegret Soltau in der Frankfurter Galerie Anita Beckers wieder mal die Nase vorn.

Annegret Soltau bei Anita Beckers


Gefreut habe ich mich, dass neben Soltau auch Gabriele Stötzer in der Auswahl von Fotografinnen der Zeitschrift Elle aufschien (Galerie Loock, Berlin). Auf der Finissage ihrer Ausstellung in der Galerie Pankow hat sie vergangenes Jahr von ihren Erfahrungen als unangepasste Frau mit den Behörden der DDR erzählt - schlimm. Einen sehenswerten Einblick in ihr Leben (und das von Tina Bara und Cornelia Schleime) gibt der Film "Rebellinnen" von Pamela Meyer-Arndt, der noch bis 2. Januar in der ARD-Mediathek verfügbar ist.

Auf der Messe gab's oft Frontalaufnahmen von Frauen - Frauen, die irgendwo gehen, sitzen, liegen, stehen, dabei meist bekleidet sind. Beliebt waren diesmal größere Tableaus, die aus vielen kleineren Fotos bestanden, die Frauen wiederum beim Gehen, Sitzen, Liegen und Stehen zeigen und dabei nicht selten direkt in die Kamera schauen. Wahrscheinlich hat man gedacht, dass die Tableau-Struktur attraktiver ist als ein Einzelbild dieser Art, das zudem den unleugbaren Nachteil hat, keins von Cindy Shermans "Untitled Film Stills" zu sein.

Den größten Hit lieferte dabei ausgerechnet ein Mann: Tom Wilkins, der in den achtziger Jahren Polaroids von Frauen auf dem Fernsehschirm gemacht hat, "My TV-Girls", mal bekleidet, mal in Unterwäsche, jedoch keinesfalls auf eine Weise, die etwas mit Larry Clark oder Nobuyoshi Araki zu tun haben könnte. Im Grunde kaum mehr als ein visuell ansprechender Gag, hatte die Galerie Christian Berst (Paris) Freitagnachmittag bereits fünfzehn der etwa vierzig x mal vierzig Zentimeter großen Tableaus zum Preis von je siebentausend Euro verkauft - man fasst es nicht.

 TV-Girls bei Christian Berst


Den Messestand als konsistenten Ausstellungsraum bespielten nur wenige Galerien, allen voran die Galerie Tegenboschvanvreden aus Amsterdam, die eine Einzelausstellung der unverwechselbaren Arbeiten von Paul Kooiker wagte. Und obwohl der von der Galerie Bigaignon (Paris) vorwiegend vertretene Minimalismus nicht wirklich meins ist, war der durchwegs in diesem Stil gehaltene, Linien und Proportionen am Stand berücksichtigende Auftritt der Galerie einfach top.

Komplett konturlos - und damit ein Symbol für die ganze Messe - blieb dagegen der Auftritt von Gagosian: Letztes Jahr noch eine spannende Gegenüberstellung von Sally Mann und Deana Lawson, gab's es heuer ein nichts sagendes Potpourri, dessen negativer Höhepunkt ein grauenhaftes, riesiges Stilleben aus Früchten bildete.

Paul Kooikee bei Tegenboschvanvreden


Was macht man, wenn man alle Canelés gegessen und auf den nächsten abendlichen Champagner-Empfang keine Lust hat?

Man trifft wie immer Antoine d'Agata, der dieses Jahr keinen Fuß in das Palais Ephemere gesetzt hat, in einem Café um die Ecke der Agentur Magnum und versucht, etwas für eine hochbegabte junge französische Künstlerin zu tun, die seit Jahren konsequent mit Nacktheit vor der Kamera arbeitet, jedoch als Möbelrestauratorin ihr Geld verdient und sich wie so viele kein Atelier in der Pariser Kernzone leisten kann. Meist werden private Wohnungen und kurzfristig leer stehende Räumlichkeiten genutzt, um Projekte in Szene zu setzen. Ausgestellt werden die Sachen wiederum in Galerien, deren Betreiber ebenso wenig davon leben können wie die Künstler.

D'Agata, der über einer zweimonatigen Bettruhe nach einer Hüftoperation fast wahnsinnig geworden wäre (wie er mir sagt), ist einigermaßen beeindruckt von dem, was sich über die Jahre auf Louise Dumonts Instagram-Account angesammelt hat. Nicht alles ist von derselben Qualität und Insistenz, aber das ist oft so, wenn man fernab des Betriebs arbeitet und nur die eigene Lust und Laune der Taktgeber ist - eine Konstellation, dem dann das eigene Bankkonto Grenzen setzt. Das Beste davon jedoch topt so gut wie alles, was es im zeitgenössischen Segment davon auf der Messe zu sehen gab.

©  Louise Dumont


Nachdem d'Agata vorschlägt, sich mit ihr bei Magnum zu treffen, lande ich am Ende mit einer Runde junger Künstler im "Le Consulat du Voltaire" - eine großartige Mischung aus Galerie, Ateliers, Bar und Club. Thibault, der Mastbetriebe besetzt hat, hat mit Tierblut aus Schlachthäusern schwer verdauliche Objekte geschaffen.

Als ich danach mit einem Bier in der Hand von der Empore auf die fröhlichen Gesichter auf der Tanzfläche blicke, hat aller Verdruss auf der Messe wieder dem freudigen Gefühl Platz gemacht, in Paris zu sein.

Peter Truschner
truschner.fotolot@perlentaucher.de