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Eine solche Selbstbestimmung

Über Bücher, Bilder und Ausstellungen Von Peter Truschner
19.09.2019. Sally Mann wurde durch den Band "Immediate Family" berühmt.  Es hat lange gedauert, bis die  großformatige Wucht von Manns späteren Arbeiten von der Kritik umfänglich anerkannt wurde. Das Jeu de Paume in Paris widmet ihr eine großartige Retrospektive.
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Es ist knapp: Bis gerade mal zum 22. September gibt es in Paris noch einen der Höhepunkte der diesjährigen Ausstellungssaison zu besichtigen: Die Retrospektive "A Thousand Crossings" von Sally Mann im Jeu de Paume. Liebhaber*innen der Kunst und insbesondere der Fotografie sollten - insofern sie zum Ausgang des Sommers noch etwas Zeit und Geld übrig haben - diese Gelegenheit unbedingt wahrnehmen.

Vor allem jüngeren Fotograf*innen, deren Vorstellungskraft fürs Erste auf einem bescheidenen Areal irgendwo zwischen Ostkreuzschule für Fotografie und Tobias Zielony Quartier bezogen hat oder sich in der gerade ungeheuer angesagten Anfertigung dekorativer Fotocollagen ergeht, ist die Reise nach Paris dringend zu empfehlen. (Ein Reisetipp für diese Gruppe: Der Nachtbus Berlin - Hannover - Paris kostet nur 35 Euro.)

Wer sich förmlich in letzter Minute auf den Weg macht, wird mit einem Erlebnis jener Art belohnt, wie es aus unterschiedlichen Gründen selten geworden ist: ein Oeuvre, das an der Wand förmlich zu pulsieren scheint: subtil und machtvoll, eigenwillig und mit transzendentalem Aplomb. Eine Herausforderung für an die heutige, bunte Bilderflut gewöhnten Betrachter*innen, die aus einer anderen Zeit zu stammen und eher jener Welt anzugehören scheint, deren Beschaffenheit die Raumsonde Rosetta aus dem Inneren des Kometen Tschurjumow-Gerassimenko übermittelte.

Die Ausstellung ist von Sarah Greenough und Sarah Kennel großartig kuratiert und führt in fünf Kapiteln von einem zum anderen. Ausgangspunkte bilden die beiden Sektionen "The Family" und "The Land", die zugleich den Kern von Sally Manns Schaffen darstellen.

People in front of The Famiy at jeu de Paume ©Sally Mann, P. T.



Sally Mann wird 1951 in Lexington (Virginia) geboren. Ihr Vater ist Landarzt, das Sterben ist ihm geläufig, die Kunstwerke und Kuriositäten, die er in seinem Haus versammelt, drehen sich vor allem um Sex und Tod. Zu seinen Favoriten zählen unter anderem die "Portnoy"-Bücher von Philip Roth. Kein Kirchgang, kein Football, kein regelmäßiges Barbecue mit der Nachbarschaft, kein Fernsehen - Sally und ihre Geschwister wuchsen nach eigenen Aussagen "halb wild" auf. Sally spielte mit den Hunden nackt am Fluss und galoppierte ohne Sattel über die Felder. Früh schon wurde ihre Fantasie von Geschichten angeregt wie der, dass auf dem Gelände der elterlichen Farm ein entflohener Mörder erschossen worden war.

1975 schließt sie ihre Masterstudien in Kunst und Creative Writing ab und beginnt ihre bis heute über vierzigjährige Laufbahn als Fotografin. Von Beginn an arbeitet sie analog und schwarzweiß im  Großformat, am liebsten mit alten Glasplattenkameras, wie sie schon im 19. Jahrhundert verwendet wurden. Obwohl sie in den achtziger Jahren unter anderem ein Guggenheim-Stipendium bekommt, ist sie weitgehend unbekannt - nicht zuletzt, weil sie nicht nach New York oder Los Angeles geht, sondern "in den Appalachen" (Mann) bleibt.

1992 ändert sich das schlagartig: Von den fünfundsechzig Aufnahmen im Fotobuch "The Immediate Family" zeigen dreizehn Manns Kinder Emmett, Virginia und Jessie nackt beim Herumtollen und Posieren auf er Farm, von der frühen Kindheit bis unmittelbar vor der Pubertät. Wurden die Fotos zu Beginn vor allem von der amerikanischen Rechten als Kinderpornografie verurteilt, haben später mit dem Aufkommen der Political Correctness  auch dem Verständnis nach dezidiert linke Kreise die Arbeiten scharf kritisiert. Medien wie Facebook und Instagram mit ihrem "Nippelwahn" und dem vermittelten Horror davor, unvorteilhaft oder angreifbar abgebildet zu sein, taten ihr Übriges.

Cold Harbor Battle ©Sally Mann

Dass Manns Kinder sich nie von den Bildern distanziert haben, sondern auch später noch für ihre Mutter posierten - herausragend dabei 2004 die riesigen Nahaufnahmen von Jessies Gesicht mit geschlossenen Augen in einem Dämmerzustand zwischen Werden und Vergehen -, spielt für diese Politiken künstlerischer und moralischer Bevormundung keine Rolle. Wo käme man da hin, wenn Individuen frei entscheiden könnten, was gut für sie war oder ist, oder von wem sie auf welche Weise dargestellt werden wollen oder nicht? Eine solche Selbstbestimmung kommt natürlich weder für orthodoxe Spielarten des national oder religiös bewegten Konservatismus noch der akademischen Genderbewegung in Frage.

Gut, dass Mann auf moral- und kunstpädagogische Interventionen dieser und anderer Art seit jeher gepfiffen und ausschließlich das gemacht hat, was sie für richtig hält und mit ihrem Gewissen vereinbaren kann.

Die Bilder der nackten Kinder sind intim, vital und melancholisch - aber wenn man nicht von gewissen Fantasien, verinnerlichten Ge- und Verboten sowie bis zum Erbrechen durchgekauten Zeitgeistdiskursen getriggert ist, wird offensichtlich, dass die "Jahrhundertkünstlerin" (Time Magazine) Mann erst geboren wurde, als sie den inneren Kreis der eigenen Familie verließ  und tief in Gegenwart und Vergangenheit des von gewalttätigen Auseinandersetzungen geprägten Territoriums des amerikanischen Südens eintauchte.

Im Western "Unforgiven" von John Huston gibt es die Figur eines ruhelos in zerschlissener Südstaatenuniform herum streifenden, alten Soldaten, für den der Krieg nie zu Ende ist. Es gelingt ihm, Unruhe zu stiften, indem er verbreitet, die begehrte (und von Audrey Hepburn gespielte) Tochter einer Farmersfamilie sei in Wahrheit eine Indianerin. Infolge des so entfachten Rassenhasses droht die Familie zu zerbrechen.

Alle großen Westernregisseure von Ford bis Eastwood haben sich an solchen Bürgerkriegsnarrativen abgearbeitet - Sally Mann tut es auf ihre Weise genauso. Ihre Vorbilder sind jedoch andere - die Fotografen des amerikanischen Bürgerkriegs mit ihren Plattenkameras genauso wie Charles Le Gray, dessen Aufnahmen des Waldes von Fontainebleau sie im Untertitel eines Fotos von 1998 huldigt, das ein von uraltem, wild wuchernden Baumbestand geprägtes Waldstück in Louisiana zeigt.

Die Freundschaft und Auseinandersetzung mit einem anderen berühmten Künstler aus Lexington hat ihr die Bedeutung des Schemenhaften und Ephemeren noch mal deutlich gemacht: Cy Twombly, dessen Bilder voller ominöser Zeichen, Zahlen und Schlieren sind, die durch Gräser, Maschinen und Körper strömen und wispernd auf die Vergangenheit verweisen, von der alles - ob bewusst oder unbewusst - wenn nicht durchdrungen, so doch angestoßen ist.

Die natürliche wird zur historischen Landschaft, die Anschauung vermischt sich mit Erinnerung, die Grenze zwischen Gegenwart und Vergangenheit verwischt. Aus den regelrecht romantischen Landschaften des Südens werden die Kriegsschauplätze des Bürgerkriegs, die Lichtungen sind vom Blut der Toten getränkt.

Cold Harbor Battle ©Sally Mann



Die mit Collodium bestrichenen Glasplatten und die antiken Linsen erschaffen eine ideale Atmosphäre, die nicht nur den Pulverrauch, den Morgennebel vor dem Angriff, das beinah schwarze, eingetrocknete Blut spürbar machen, sondern auch die Tatsache, dass diese und andere Tote sich als Gespenster in der amerikanischen Geschichte herumtreiben, Zombies, die immer wieder auf die Kluft zwischen Norden und Süden, schwarz und weiß, reich und arm verweisen, wie sie in Teilen der USA ungebrochen ist.
Mann nutzt die anfällige Technik für Zufälle und Manipulationen: um das den ganzen Tag und die ganze Nacht anhaltende Dauerfeuer in einem Dickicht darzustellen, überzieht sie das Collodium mit Staubfäden, die auf dem bedruckten Papier als zarte, weiße Schlieren sichtbar werden, sodass man die hin- und hersausenden Kugeln zu sehen glaubt ("Cold Harbor Battle", 2003).

Aus den Schlachtfeldern des Bürgerkriegs werden die Tatorte der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung im Kampf für die Gleichberechtigung der afroamerikanischen Bevölkerung und das Ende der Rassentrennung. Eine beinah intime, eindrückliche Serie ist dem Auffinden des genauen Orts gewidmet, an dem 1955 der schwarze Jugendliche Emmett Till ermordet wurde, weil er sich im Gespräch mit einer weißen Frau vermeintlich zu einer sexuellen Anspielung hatte hinreißen lassen. Man sieht Fotos von der Brücke, dem Fluss, von großen Grasbüscheln am Uferrand, hinter denen ein gleißendes Licht das Papier bleicht. Die Bilder sind voller Beiläufigkeit, zugleich aber voller Pathos, Schmerz, Schuld, Trauer, ein uramerikanischer Gestus, der an die besten Songs von Billie Holiday, aber auch  von Bruce Springsteen erinnert.

Manns eigene Familiengeschichte ist eng mit der Diskriminierung der afroamerikanischen Bevölkerung im Süden verbunden. Eines der berührendsten Fotos zeigt nebeneinander die Beine ihrer alten, schwarzen Kinderfrau Virginia ("Gee-Gee"), die im Auto essen musste, wenn Manns Eltern unterwegs waren, sowie, zu Gee-Gees Füßen Manns kleine Tochter Virginia; auch Manns Sohn hat nicht zufällig denselben Vornamen wie der ermordete Emmett Till.

Mit Emmett schließt sich der Kreis im letzten Raum wieder bei der Familie. "What remains". In kurzer Abfolge stirbt Manns Sohn, ihr Mann Larry erkrankt chronisch an Muskelschwund. Sie selbst stürzt vom Pferd, ist von unglaublichen Schmerzen geplagt und mit der Diagnose konfrontiert, sich nie mehr schmerzfrei bewegen zu können (was glücklicher Weise nicht wahr wurde, glaubt man den Bildern auf den Videos, die sie bei der Arbeit zeigen).

Die von dunklen Umrisslinien und tiefen Schatten gezeichneten Fotos vom Körper ihres Mannes sowie ihr Blick in den Selbstportraits nach dem Reitunfall zeugen vom Wissen um die eigene Sterblichkeit und die Vergänglichkeit von allem. Was aber nichts ist, was Sally Mann irgendwie überrascht oder von irgendetwas abhält: "Death is the sculptor of the ravishing landscape, the terrible mother, the damp creator of life, by whom we are one day devoured."

Es hat lange gedauert, bis Manns großformatige Wucht von der Kritik umfänglich anerkannt wurde, die lange vorwiegend zufälligen Straßenszenen sowie Fotografien von Parkplätzen und Tankstellen huldigte. Nun ist ihr der Platz im Olymp der größten amerikanischen Künstler*innen nicht mehr zu nehmen.

Hier hält die Kurotorin Sarah Greenough eine einstündige Einführung in die Ausstellung und Manns Werk:



Bedauerlich bleibt, dass die Ausstellung wieder einmal zielsicher an deutschen Museen und Fotoinstitutionen vorüberging. Bei Thames und Hudson ist indes ein gleichnamiger, großartiger, die Ausstellung dokumentierender und um wichtige Texte erweiternder Bildband erschienen, ein Wegbegleiter, ein mögliches Lebensbuch, ein Pflichtband in den Bibliotheken von Fotoliebhaber*innen sowieso.

Peter Truschner

truschner.fotolot@perlentaucher.de

Sally Mann: A Thousand Crossings. 320 Seiten, 28 x 30 cm. Hardcover, Abrams and Chronicle. London 2018, 55 Euro.  ISBN: 9781419729034. (Bestellen bei buecher.de)