Im Kino

Wo der Sommer singt

Die Filmkolumne. Von Karsten Munt
29.11.2023. Alles ist Performance in Bradley Coopers Leonard-Bernstein-Biopic. Biografisches Pflichbewusstsein hat der Regisseur, der auch die Hauptrolle übernimmt, zum Glück nicht. Dennoch wirkt "Maestro" oft reichlich angestrengt.


Das Zimmer tarnt sich als Konzertsaal. Die Gardinen geben sich als Bühnenvorhang aus, spenden das einzige Licht, das in das ansonsten dunkle und perfekt als Auditorium kadrierte Schlafzimmer fließt. Einzig das Telefon irritiert etwas. Der Mann, der es beantwortet, kann nur Leonard Bernstein sein (die Zigarette, die er sich direkt zwischen die Lippen klemmt, verrät ihn ebenso wie die falsche Bühne, die sich in seinem Privatleben manifestiert hat). Wenn er den Vorhang des Zimmers aufzieht, wissen wir, dass sich vor Bernstein bald ein weiterer Vorhang öffnen wird: Mit nur 25 Jahren dirigiert er in der Carnegie Hall. Bradley Cooper gibt sich als Regisseur wie als Darsteller keine Mühe, einen Spannungsbogen in Richtung des Startpunkts der erstaunlichen Karriere des Maestros zu schlagen. Kaum hat Bernstein von der Gelegenheit erfahren, seinem Liebhaber einen Klaps auf den Po gegeben und das Auditorium im Bademantel gestürmt, nimmt er schon mit leuchtenden Augen den donnernden Applaus des Publikums entgegen.

Ein Leuchten, das über die erste Hälfte des Films mit dem fast anthrazitfarbenen Glanz der Schwarz-Weiß-Bilder um die Wette strahlt, in denen Matthew Libatique die Vergangenheit des Maestros auf die Leinwand pinselt. Das dazugehörige Leben ist Rock 'n Roll. Bernstein klimpert mit Liebhabern und Kollegen auf dem Piano, den Bleistift hinterm Ohr, die Kippe im Mundwinkel. Party und musikalisches Genie zwängen sich immer und überall ins gleiche Bild. Selbst dort, wo der junge Bernstein Partituren vollkritzelt oder komponiert, ist immer eine Tür zum Nebenzimmer offen, in dem das Leben tobt.

Wirklich in Fahrt kommt der Film aber erst, wenn Carey Mulligan als Felicia Montealegre auf der Party ankommt - mit dem Bus fährt sie vor, steigt in der Vorstadt ab wie ein Hollywoodstar. Die Hausparty, zu der Leonards Schwester Shirley (Sarah Silverman) geladen hat, gehört bald ganz Felicia. Während 'Lenny' hinter dem Piano verborgen bleibt, klebt alle Aufmerksamkeit an ihr. Als er dahinter hervorlugt, scheint die Beziehung bereits gemachte Sache. In einer nicht enden wollenden Screwball-Routine tanzen die beiden verbal und buchstäblich umeinander herum. Mit dem Singsang des alten Hollywood leben Cooper und Mulligan die Vergangenheit aus wie Grant und Hepburn, stürzen sich Hand in Hand von einer Szene in die nächste. "Maestro" ist Performance.



Das permanente Durchbrennen gibt nicht allein den Takt, sondern auch die Struktur der Vergangenheit vor. "Maestro" hat kein biografisches Pflichtbewusstsein, geht dorthin, wo Hedonismus, Faszination oder eben die Liebe hintragen. Oder, mit den Worten des Films ausgedrückt: dorthin, wo "der Sommer singt". In gewisser Weise ist der Film damit die Art von Biopic, die ich mir wünsche. Aber es ist eben jeder Moment, ob vor Publikum, Kameras oder in intimer Zweisamkeit zuallererst Performance. Eine leidenschaftliche Performance, aber eben auch eine, die schnell satt macht. Denn dort, wo das Musikgenie Pause hat und der Film den Privatmenschen auf die Bühne holt, ist das Leben allzu elegant ausstaffiert. Selbst die Furzwitze, die sich das Paar in der scheinbaren Awkwardness der noch ungewohnten Zweisamkeit erzählen, sind geschmackvoll genug, um ja niemandem auf die Füße zu treten.

Mit der Geburt der Tochter kommt die Screwball-Komödie zum Ende. Bernstein und Montealegre werden zur Familie. Der Maestro selbst hält nicht nur mit dem Grau seiner perfekt frisierten Haartolle an der Vergangenheit fest, sondern auch mit erneut allzu geschmackvoll ins Off verlegten Liebeleien und Exzessen. "Maestro" gefällt sich besser als Film, der Bernstein, performativ und symbolisch nachstellt. Mal versucht Felicias weißes Kleid verzweifelt durch den gewaltigen Schatten hindurchzufunkeln, den der übermenschlich große Mann von der Bühne aus wirft, mal wird er selbst inmitten einer Tanzeinlage zu seinem Musical "On The Town" von gut aussehenden Matrosen von ihr weggezerrt und zum bitteren Ende hin hustet die leidende Ehefrau Blut ins Papiertuch, während der Besuch eine Geschichte über den strahlend weißen Anzug des Ehegatten zu erzählen versucht.

Sicher, der alte Maestro gönnt sich auch mal eine Nase Koks, stellt nicht nur symbolisch einem Mann nach, der nur wenig älter ist als seine erstgeborene Tochter und erzählt dem Neugeborenen seiner Ex-LiebhaberInnen, dass er mit beiden seiner Eltern geschlafen habe. Aber auch hier: So richtig gelebt fühlt sich das nicht an. Am Piano leuchten die Augen, später fließen Tränen und in der Kathedrale von Ely, der großen Klimax der Dirigierkunst, kanalisiert Cooper die Jahre der Method-Rollenvorbereitung in eine überexpressive Zappelei, die das Innere des Maestros nach außen stülpt. Alles ist Performance. Vom rauchigen Aroma in der Stimme, dem die Zeit allmählich etwas Nasales unterhebt, bis zur immer im Mundwinkel hängenden Zigarette: Cooper hat Bernstein drauf, hat keine Angst davor, immer noch lauter zu drehen, bis alles derart exaltiert wirkt, dass es eigentlich Spaß machen müsste, aber dann doch immer so angestrengt ist, sich so krampfhaft auf Technik stützt, dass es mir schwer fällt, etwas anderes zu sehen als die Anstrengung, die Bradley Cooper empfindet, wenn er die Last die Genialität schultert oder vom Narzissmus des alten Bernstein durch den Film gejagt wird. Carey Mulligan erdrängelt sich dazwischen eine Präsenz, die weit über die Rolle hinauszielt, die der Film ihr gönnerhaft anbietet. Und keine Frage: Wenn das eine You-Tube-Video auftaucht, das Coopers Performance mit dem legendären Auftritt Bernsteins vergleicht, wird es kaum eine Bewegung geben, die nicht nahezu identisch ist, keine Ausdruck der Ekstase, den Cooper nicht vom Gesicht des echten Maestros abgelesen und exakt auf das eigene übertragen hätte. Es ist eine große Liebesbekundung: an die Musik, an die Ehefrau und das Leben überhaupt. Cooper legt absolut alles hinein, was er hat, rammt Mahlers 2. Sinfonie mit seinem Zauberstab direkt in das Herz der Menschheit. Die Musik hätte es nicht nötig gehabt. Der Maestro schon eher.

Karsten Munt

Maestro - USA 2023 - Regie: Bradley Cooper - Darsteller: Bradley Cooper, Carey Mulligan, Matt Bomer, Vincenzo Amato, Greg Hildreth, Michael Urie - Laufzeit: 129 Minuten.