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Direkter Blick

Über Bücher, Bilder und Ausstellungen Von Peter Truschner
10.11.2023. Walter Schels fotografierte Menschen wie Tiere oder Pflanzen am liebsten vor neutralem Hintergrund, in schwarzweiß, Mittelformat, frontal, direkter Blick, so wenig Mimik wie möglich. Er war der Existentialist der Porträtfotografie. Bis zum 26.11.2023 zeigt der Kunst- und Gewerbeverein Regensburg eine umfangreiche Ausstellung seine Arbeiten.
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1936, als das Präludium des Zweiten Weltkriegs in vollem Gang ist, kommt Walter Schels als jüngstes von fünf Kindern einer Arbeiterfamilie in Landshut zur Welt. Die Familie hat ein einfaches Haus, am Rande der Stadt, mit einem Garten und Tieren, das im Krieg jedoch einen veritablen Bombenschaden erleidet.

Es sind nicht nur aufgrund des Krieges schwierige Verhältnisse für den jungen Walter Schels. Tätigkeiten wie Lesen sind für die Eltern Zeitverschwendung, das einzige Buch im Haus ist die Bibel. Walter ist jedoch verträumt, eigensinnig und rebellisch, und so ist es ein großes Glück, dass er nicht Automechaniker oder Eisenwarenhändler werden muss, wie der Vater es sich vorstellt, sondern aufgrund seiner zeichnerischen Begabung von einer Lehrerin als Dekorateur an ein Modehaus vermittelt wird.

Ein älterer Bruder hat eine Kamera, die er Walter leiht, der damit seine ersten Fotos macht: Pflanzen und Steine. Er spart einen gesamten Jahreslohn als Lehrling und kauft sich davon eine Leica. Von Beginn an entwickelt und bearbeitet er seine Bilder selbst.

Früh will er weg aus Landshut, aus Deutschland, sein großes Ziel ist Amerika - aber zuerst geht es nach Barcelona, wo er sich erfolgreich auf eine Stelle als Dekorateur beworben hat. Auf der Zugfahrt nach Barcelona sieht er zum ersten Mal das Meer. Später geht es über Toronto doch noch in die USA - er ist entschlossen, Fotografie zu seinem Beruf zu machen und landet 1966 in New York.

Wochenlang läuft er mit seiner Leica um den Hals auf der Suche nach Assistentenjobs durch die Stadt, und stellt sich bei Modefotografen vor, die er als Dekorateur aus Magazinen wie Harper´s Bazaar oder Vogue kennt. In der darauf folgenden Zeit lernt er in verschiedenen Studios das Handwerk von der Pieke auf. In New York dauert es nicht lange, und er bekommt Aufträge von Magazinen wie Madame, Elle und dem Playboy.

Schels ist im Grunde ziemlich schüchtern, hat Hemmungen, sich Menschen zu nähern, nutzt jedoch die Kamera, um sich dahinter zu verbergen wie ein Schauspieler hinter seiner Rolle - um sich derart gewappnet auf das Wagnis einer Begegnung einzulassen, ob mit Unbekannten oder Prominenten wie Andy Warhol und dem Dalai Lama. "Die Kamera" sagt Schels, "war oft mein Therapeut".

1970 kehrt er nach Deutschland zurück und eröffnet in München sein eigenes Studio, wo er nahtlos an seine Erfolge anknüpfen kann, und große Mode- und Werbestrecken für L'Oreal oder Lufthansa fotografiert. Es gärt jedoch in ihm, vor allem der Modefotografie und ihren Regeln kann er überhaupt nichts abgewinnen, sodass er nicht lange nach seinem vierzigsten Geburtstag beschließt: "Ich will nicht mehr, ich will nur noch frei arbeiten."

© Walter Schels

Er will zurück in die USA - als ihn bei einem Auftrag in einem Zoo ein Pandabär angreift, ihm Arme und Fersen zerbeißt sowie eine Wade und den halben rechten Zeigefinger abreißt. Als er aus dem Krankenhaus entlassen wird, ist seine Greencard für die USA abgelaufen und er selbst verzweifelt - eine Verzweiflung, aus die ihm der nächste, geradezu spektakuläre Auftrag heraushilft: Er soll für den Stern eine Geburt fotografieren - ein Novum, da werdende Väter und andere Männer im Kreissaal im Grunde nicht üblich und auch nicht wirklich erwünscht waren.

Schels sagt, erst die Gesichter der Neugeborenen waren für ihn der wirkliche Einstieg in die Porträtfotografie, nicht zuletzt aufgrund der Verwandlung, die sich an ihnen binnen kurzer Zeit vollzog: unmittelbar nach der Geburt waren es Gesichter der Vergangenheit, wissend, uralt. Wenige Minuten später wurden sie zu den frischen, süßen Babygesichtern, wie sie uns seit jeher vertraut sind.

Zehn Jahre später ist er wieder bereit umzuziehen, er denkt dabei an Paris oder Barcelona  - als er im Hamburger Abendblatt eine Anzeige entdeckt, die ein geradezu ideales Arbeitsumfeld vor seinem geistigen Auge entstehen lässt: "im Zentrum, U-Bahn, Parkplatz, groß, hell und ruhig" - dennoch verwundert es ihn wohl selbst am allermeisten, dass er heute immer noch darin lebt und arbeitet.

Walter Scheels Thema ist das organische Leben im ewigen Zyklus von Werden und Vergehen, Geburt und Tod. Dabei nicht nur das menschliche Leben, sondern auch das tierische und pflanzliche. Dem Antlitz eines Schafs oder eines Huhns begegnet Schels mit demselben Respekt, derselben Ernsthaftigkeit und derselben Konsequenz wie dem Antlitz von Angela Merkel. "Ich fotografiere Tiere wie Menschen", sagt er selbst. "Im Grunde genommen sind sie sehr verwandt. Und alle, ob Mensch oder Tier, wollen geliebt werden." Blinde Menschen und Menschen mit Downsyndrom porträtiert er nicht anders als bekannte Persönlichkeiten vor neutralem Hintergrund. Die fotografischen Paramter dabei lauten überwiegend: schwarzweiß, Mittelformat, frontal, direkter Blick, so wenig Mimik wie möglich. Aber natürlich experimentiert Schels auch mit anderen Verfahren, etwa bei seinen Blumenstilleben, die mit einer Planfilmkamera und lange abgelaufenem Filmmaterial aufgenommen wurden.

© Walter Schels

Schels löst die Porträtierten aus ihrem sozialen Kontext und konzentriert sich auf ihr Gesicht, ihren Körper - eine Arbeitsweise, die ihm zu Recht den Ruf eines Existentialisten der Porträtfotografie eingebracht hat, die jedoch von so einigen  Porträtierten nicht immer goutiert wurde, wie Schels zugibt: Zu nah und zu direkt sind die Aufnahmen, als zu wenig freundlich und zu wenig schön empfinden sich die Aufgenommenen.

Zwei Serien stechen konzeptionell dabei für mich heraus. Zuerst aus dem Jahr 2004 die Serie "Noch mal Leben vor dem Tod. Wenn Menschen sterben" zusammen mit seiner Arbeits- und Lebensgefährtin Beate Lakotta, die für die Texte verantwortlich zeichnet. Schels und Lakotta besuchten sterbende Menschen im Hospiz, führten teils lange Gespräche mit ihnen und fotografierten sie vor ihrem Tod und unmittelbar danach.

Im Vergleich zu Gundula Schulze Eldowys großartiger, visuell schonungsloser Serie "Berlin in einer Hundenacht" aus der untergehenden DDR der achtziger Jahre sind Schels Fotos meditativer, subtiler - aber angesichts der Art und Weise, wie moderne Gesellschaften gelernt haben, den Tod und das oft wenig schöne und nicht selten einsame Ende des Lebens vor sich selbst zu verbergen, von ähnlicher Sprengkraft.

Walter Schels litt, seit er im Krieg von Bomben zerfetzte Körper und Tote gesehen hat, an schlimmen Albträumen und einer Angst vor Leichen. Das muss man sich vor Augen halten, wenn man Lakottas Schilderungen liest, wie sie und Schels den bereits kalten, starren Leichnam in seinem Totenbett noch mal bewegen mussten, um fotografisch eine formal stimmige Korrelation zwischen "vorher" und "nachher" herzustellen. Die internalisierten Tabus, die sie dabei zu überwinden hatten, können sich alle Anwesenden hier wohl lebhaft vorstellen.

© Walter Schels

In der zweiten Serie, "TRANSl", zeigen Schels und Lakotta seit 2013 die Entwicklung vom Zeitpunkt der ersten Hormonbehandlung bis zur abgeschlossenen Geschlechtsumwandlung junger Menschen, Mädchen und Jungen, die zum Beginn des Projekts noch minderjährig waren und von ihren Eltern begleitet wurden. Die meisten waren schon lange vor Beginn der Behandlung äußerlich nicht jenem Geschlecht zuzuordnen, das in ihrem Pass verzeichnet war. Zum Projekt gehören wie im Hospiz Gespräche mit den Porträtierten, in denen als Motiv immer wieder die frühe Gewissheit auftaucht, im falschen Körper zu stecken. Fast alle berichten von einer Zeit, in der sie annahmen, der einzige Mensch auf der Welt zu sein, dem dieses Schicksal widerfährt. "Selbstakzeptanz ist oft ein harter Kampf. Ich wünsche mir", sagt Walter Schels, "dass jeder sagen kann: Ich bin, wie ich bin, und hoffe, dass meine Bilder dabei helfen."

Die Serie ist von großer Aktualität, wenn man die aktuellen Debatten um Transsexualität und Transgender verfolgt, die auf Social Media und im Feuilleton toben.
Vordergründig geht es um neue Gesetze, die Minderjährigen erlauben, ohne elterliche Einwilligung eine Neudefinition ihres Geschlechts vorzunehmen, die sich auch in öffentlichen Dokumenten wie dem Pass niederschlägt. Einige Feministinnen wie Alice Schwarzer und die "Harry Potter"-Autorin Joanne K. Rowling sprechen sich entschieden dagegen aus, auch dagegen, Transfrauen als Frauen anzusehen - und stoßen damit wiederum auf heftige Gegenwehr. Ohne näher auf diese Debatte eingehen zu wollen, kann man sagen: der Kampf um das kostbare Gut der Deutungshoheit wird mit harten Bandagen geführt. Diese und ähnliche Diskussionen verweisen nicht zuletzt auf das Auseinanderdriften der solidarischen Nachkriegsgesellschaften in Europa, ihren Zerfall in Partikularinteressen und identitätspolitisch motivierte Gruppierungen - eine Dynamik, die in den letzten Jahren an Vehemenz zugenommen hat. Walter Schels Herangehensweise ist dem diametral entgegengesetzt.

Sie sieht vom sozialen Umfeld und vom historischen Kontext ebenso ab wie vom individuellen Bedürfnis nach Distinktion. Sie thematisiert das allen Menschen, letztlich allen intelligenten Lebewesen Gemeinsame: das Bedürfnis nach Sicherheit, das Streben nach Anerkennung, die Angst vor Schmerz und die oftmals späte, aber unausweichliche Erkenntnis der eigenen Sterblichkeit. Sich dieser existenziellen Gemeinsamkeit bewusst zu werden - gleich, ob Mann oder Frau, Schwarz oder Weiß, Christ, Jude oder Moslem -, ist, wozu Walter Schels Fotografien auffordern.

Im Kunst- und Gewerbeverein Regensburg gibt es im Rahmen des "Festivals Fotografischer Bilder" noch bis zum 26.11. eine Retrospektive zum Werk von Walter Schels - wer immer in die Gegend kommt: unbedingt anschauen.

Peter Truschner
truschner.fotolot@perlentaucher.de