Bücher der Saison

Briefe / Tagebücher / Erinnerungen

Eine Auswahl der interessantesten, umstrittensten und meist besprochenen Bücher der Saison.
11.11.2023. Stephane Mallarmé sucht nach dem absoluten Gedicht. Uwe Timm führt uns ins Handwerk des Kürschners ein. Die Komponistin und Frauenrechtlerin Ethel Smyth bereichert mit ihrer von Geist und Stil geprägten Autobiografie unsere musikgeschichtliche Kenntnis.
Briefe von Stephane Mallarmé - man kann sich gar nicht vorstellen, dass diese Sphinx der französischen Lyrik welche geschrieben hat, aber hier diskutiert er tatsächlich Fragen der Literatur und der Dichtkunst. Bei Mallarmé, schrieb einmal der unvergleichliche Hugo Friedrich, will "Dichtung der einzige Ort sein, an dem das Absolute und die Sprache einander begegnen können". Beethoven hätte siebzig Jahre früher etwas ähnliches zur Musik sagen können, und tatsächlich: Musik, absolute Musik, war Mallarmés Vorbild, erzählt in der FAZ ein inspirierter Niklas Bender, der den Hut für die "Sorgfalt und Detailliertheit" der Herausgeber zieht. Auch Felix Philipp Ingold lobt in Signaturen die sorgfältige Ausgabe. Die Briefe selbst, bekennt er, sind oft banal was ihre Themen angeht, doch "ihre durchwegs stilvolle Schriftform, die keinerlei sprachliche Schludrigkeiten duldet" und unterschiedslos jedem Empfänger zuteil wird - und wenn er nur eine Empfehlung für Fahrräder wollte - hat ihn mächtig beeindruckt. Vor allem aber geht es Mallarmé um das absolute Buch, dem er sich nur annähern konnte, erklärt Ingold und verweist auf das späte Gedicht "Ein Würfelwurf wird nie den Zufall tilgen" (1897), das "als definitives Fazit seiner Suche nach dem absoluten - dem von allem Irdischen, Menschlichen 'abgelösten' - lyrischen Text gelten [kann], der hier einen autonomen Realitätsstatus gewinnt". Wer Lust hat, in Text und Musik dieses Gedichts einzutauchen, kann das mit diesem Aufsatz von Stefanie Heinzl.

Nichts ist fesselnder als Tagebücher aus dramatischen historischen Zeiten - das hatte das deutsche und internationale Publikum zum Beispiel mit Victor Klemperers Erinnerungen gelernt, denn die Akteure wissen nicht, wie es weitergeht, sie berichten "live", erwägen die für sie noch denkbare Zukunft. Etty Hillesums "Ich will die Chronistin dieser Zeit  werden" (bestellen), Tagebücher aus der Nazizeit, die in den Niederlanden schon seit den achtziger Jahren vorliegen, wurden im Sachbuchbereich als eine der größten Entdeckungen des Jahres gefeiert: Natürlich vergleicht man sie mit Anne Frank, aber Hillesum war doch wesentlich älter, hatte studiert, beschäftigte sich mit Psychoanalyse. Das Buch wurde vielfach besprochen, alle Rezensenten sind gefesselt und geradezu feierlich gestimmt. Ein "Jahrhundertbuch", schreibt Marko Martin in Dlf Kultur. Nicht nur als "Seismograf der wachsenden Diskriminierung" liest der Marcus Reichwein in der Welt die Notate, auch als intellektuelle wie intime Persönlichkeitswerdung - gerade, dass es nicht in der Schilderung der Nazi-Verbrechen aufgeht, sondern einen unvollendeten Lebensentwurf protokolliert, dürfte die tief traurige Größe des Buchs ausmachen. Hillesum wurde in Auschwitz ermordet.

Der Bohemien Egon Bondy (1930-2007) galt laut Klappentext als "Vater des tschechischen Undergrounds". Seine Erinnerungen an "Die ersten zehn Jahre" (bestellen), genauer: die Zeit zwischen 1947 und 1957, fängt die wilde Literaturszene der tschechischen Nachkriegszeit ganz wunderbar ein, freut sich im Dlf Enno Stahl, der von Bondy u.a. lernt, wie eine "Amour fou am Rande des Existenzminimums" aussehen kann. Da ist wenig Selbstreflexion, dafür umso mehr Leidenschaft, meint in der FAZ Tilman Spreckelsen, der das Buch dennoch gern gelesen hat. Die NZZ interessiert sich vor allem für Bondys Liebesbeziehung zu Milena Jesenská, aber auch das prekäre Leben von Widerständlern in der ab 1948 mit stalinistischer Härte regierten Tschechoslowakischen Republik. Dabei geht es im Kern um die Resilienz der damaligen Künstler- und Intellektuellenszene in Form von Humor und Selbstironie, aber auch um Bondys Leben zwischen Verfolgung, Armut, Alkoholismus und künstlerischem und sozialem "Überlebenswillen", erzählt ein beeindruckter Stephan Wackwitz in der taz. Alle Kritiker loben zudem das informative Nachwort von Jan Faktor. 

Kaum ein deutschsprachiges Buch ist in dieser Saison so oft und gut besprochen worden wie Uwe Timms Erinnerungen "Alle meine Geister" (bestellen). Timm begann im von den alliierten Bomben noch stark gezeichneten Hamburg des Jahres 1955 eine Kürschnerlehre, die nicht nur die Basis für das Pelzhandwerk bildet, sondern auch für seine späteren literarische Arbeiten, die gleichermaßen Präzision und kunstvolle Arrangements erforderten, erzählt in der taz Helmut Böttiger, der - wie die Kritiker in FAZ, FR, SZ und Dlf - bei der Lektüre fasziniert in einen Mikrokosmos der Nachkriegsgesellschaft eintaucht, der gleichzeitig vom Bildungshunger eines von einer Leseschwäche geplagten jungen Mannes erzählt, dem sein Berufsschullehrer den Weg von Brehms Tierleben zu Humboldt und Camus weist. "'Alle meine Geister' versammelt nicht Anekdoten, auch wenn es sich erstmal so anlässt - es beschreibt das Entstehen eines Blicks auf die Welt", erkennt Judith Heitkamp im br. Thomas Kapielski ist nur elf Jahre jünger Uwe Timm. Und doch spielen seine Erinnerungen in "Lebendmasse" (bestellen) in einer völlig anderen Welt: In acht Texten setzt sich ein Berlinporträt der 1970er bis 1990er zusammen, so Jürgen Kaube in der FAZ, das von der Kneipe aus entworfen scheint. Der Autor lässt den Leser nicht nur an seinem alltagsethnografischen Gespür und seinem Wortwitz teilhaben, sondern bietet auch Einblicke in das WG-Leben mit Peter Gente und Heidi Paris und Begegnungen mit Kippenberger, Heiner Müller und anderen Größen des Berliner Künstlermilieus der 1970er bis 90er Jahre, freut sich Harry Nutt in der FR.

Empfohlen werden außerdem noch die Erinnerungen der Komponistin und Frauenrechtlerin Ethel Smyth, "Paukenschläge aus dem Paradies" (bestellen), die in der europäischen High Society des 19. Jahrhunderts kräftig Wellen schlug. Sie war die erste Komponistin, deren Bühnenwerke an den großen Opern in Berlin und in London aufgeführt wurden, erzählt in der FAZ Jan Brachmann, doch legte man ihr immer wieder Steine in den Weg. Auch dies dürfte ein Grund sein, dass sie - offen lesbisch - zu einer der ersten europäischen Feministinnen wurde. Für ihr Engagement kam sie sogar ins Gefängnis. Ihr Buch "ist ein Spaß an Geist und Stil, eine erfrischende Bereicherung unserer musikgeschichtlichen Kenntnis", verspricht Brachmann. Große Freude auch über die dreibändigen "Erinnerungen an Rilke" (bestellen). Curdin Ebneter und Erich Unglaub haben etwa 800 Dokumente von Zeitzeugen zusammengetragen: von Stefan Zweig, Thomas Mann, Jean Cocteau, Paula Modersohn-Becker, Boris Pasternak, Hugo von Hofmannsthal und vielen anderen. "Ein "berauschendes Gigantpanorama", das uns Rilke noch ein wenig näher bringt, samt Akne und Mundgeruch, schwärmt in der Zeit der Schriftsteller Ulrich Holbein. Eine spannungsreiche Fundgrube für Rilke-Fans verspricht FAZ-Kritikerin Rose-Maria Gropp.