
Wussten Sie, dass im kleinen
Slowenien mit seinen zwei Millionen Einwohnern jedes Jahr rund
300 Gedichtbände publiziert werden? So wünscht man sich seine Nachbarn! Einer der ganz Großen der slowenischen Lyrik ist der 1941 in Zagreb geborene
Tomaž Šalamun. Schon mit seinem ersten, 1966 erschienenen Gedichtband "Poker" brach er mit der traditionellen Lyrik und arbeitete mit surrealistischen und futuristischen Mitteln, mit Assoziationen und später postmodernen Elementen. Der hier vorliegende Band
"Steine aus dem Himmel" (
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warnt Rezensent Alexandru Bulucz in der
NZZ. Für Salamun ist der Tabubruch Programm, ob der Leser etwas versteht oder nicht, ist völlig unerheblich. Seine Gedichte "wollen den Leser am besten vor den Kopf stoßen, ihn überrumpeln, ganz so wie Eingebungen den Wortkünstler beim Dichten überfallen: 'als würde sich ein Spalt öffnen oder ein Tonus, eine Spannung, die zerreißt, und es ist, als ob dann ein Strahl aufleuchtet oder ein Satz hervorbricht'", erklärt Bulucz und verspricht "ein poetisches Ereignis". Dem kann
FAZ-Kritikerin Marica Bodrozic, die Salamuns lyrisches Ich mühelos von einem Baum zu Meister Eckart gleiten sieht, nur zustimmen. Bei
Lyrikline kann man ihn einige Gedichte selbst lesen hören,
"Lack" zum Beispiel.



In ihrer Lyrikkolumne
"Tagtigall" hat Marie Luise Knott die Leser schon mit dem slowenischen Rimbaud
bekannt gemacht, den 1904 geborenen
Srečko Kosovel, den wir auf Deutsch mit dem Band
"Mein Gedicht ist mein Gesicht" (
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Kalkstein,
Flechten und Wacholderbeeren kennzeichnen die Region und finden sich auch in seinen Landschaftsgedichten. In den Felsklüften bricht sich das Licht, das die Erde mit dem Kosmos verbindet", schwärmte Knott. "'
Felsen und Wacholder und Sterne und dazwischen mein Weg', schrieb er 1921." Wer jetzt - hoffentlich - von slowenischer Lyrik angefixt ist, kann seinem Gelüst hemmungslos mit der Anthologie
"Mein Nachbar auf der Wolke" (
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neuer und neuester slowenischer Gedichte, die virtuos die verschiedenen Ausrichtungen und Prinzipien anhand von 80 Einzelstimmen verdeutlicht. Nico Bleutge hat sich für die
SZ auf eine anregende Entdeckungsreise begeben und findet immer wieder auch formal wagemutige Gedichte, die ihm, nicht zuletzt dank der Übersetzer, "gleich das ganze Weltall auffalten, wirbelnd, flimmernd, immer wieder nah und fremd in einem". Gedichte der Gegenwart, nur diesmal aus
Japan, versammelt auch der Band
"Eine raffinierte Grenze aus Licht" (
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Marion Poschmann und
Yoko Tawada herausgegeben haben. Der Japanologin Irmela Hijiya-Kirschnereit fielen zwar ein paar kleine Ungereimtheiten auf, wie sie in der
FAZ erklärt, aber insgesamt kann sie diesen "inspirierenden und höchst verdienstvollen" Band nur empfehlen, der Gedichte über körperliche und seelische Verletzlichkeit, Natur "im weitesten Sinne" oder Gewalt in den unterschiedlichsten Übersetzungstonfällen vereint. Lob auch von Marie Schmidt (
SZ), die lernt, wie streng getrennt Haiku- und Tanka-Dichtung von der
freieren Shi-
Dichtung ist, die für diesen Band ausgewählt wurde.



Wer seine Lyrik gern mit politischen Themen unterfüttert mag, könnte hier fündig werden: Die russische Dichterin
Darja Serenko ist Mitbegründerin der Bewegung Feministischer Antikriegswiderstand (FAS), die sich im Februar 2022 bildete, um gegen die russische
Invasion der Ukraine zu protestieren, lesen wir in den Verlagsinfos zur Autorin. Serenko saß deshalb auch im Gefängnis und lebt heute im Exil in Georgien. In ihrem Band
"Mädchen und Institutionen" (
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Dlf eine angeregte Olga Hochweis. 23 Jahre alt ist die britische Sängerin/Songwriterin
Arlo Parks. Mit
"The Magic Border" (
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Welt erliegt Swantje Karich der sanften Gefühlsbetontheit dieser Verse, die aber keineswegs unpolitisch sind, wie sie versichert: als junge, schwarze und queere Frau erzählt Parks auch von schmerzhaften persönlichen Erlebnissen, von ihrer Identitätssuche und von Gewalt- auch gegen sich selbst, so Karich. So depressiv wie Billie Eilish, aber noch "klüger", resümiert Leonardo Kahn in der SZ, gibt aber auch zu, dass ihm die Songs noch lieber sind. Die
NZZ schließlich empfiehlt noch einen Klassiker,
Phillis Wheatley "Nie mehr, Amerika!" (
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Christine Lavant ist die große Mystikerin der österreichischen Lyrik. Aufgewachsen in den allerärmsten Verhältnissen, schuf sie ein großartiges und unergründliches Werk, schreibt in der
FR Björn Hayer anlässlich einer von Jenny Erpenbeck getroffenen Auswahl für den Band
"Seit heute, aber für immer" (
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FR diesen Band besprochen hat. Aber Sie können Lavant einige ihrer Gedichte auf
Lyrikline lesen hören, zum Beispiel
dies hier. Sehr ans Herz legen möchten wir unseren Lesern außerdem noch die
"Gesammelte Gedichte" der polnischen Lyrikerin und Nobelpreisträgerin
Wislawa Szymborska (
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dlf kultur. Wie in diesem
Wetterbericht, den Szymborska auf
Lyrikline liest.


Und zu guter Letzt noch zwei weiße alte Männer, von deren Wildheit und Anmut man auch noch was lernen kann:
"Angefangen mit San Francisco" des Dichters und Verlegers
Lawrence Ferlinghetti, der einen meisterhaften Cocktail aus deutschem Expressionismus, amerikanischer Beatliteratur, Jazzrhythmen und Agitprop brauen konnte (
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Hans Magnus Enzensbergers "Leichte Gedichte", ironisch-elegante Variationen auf Phrasen des Alltags, die die
FAZ bezauberten (
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Weitere Lyrikempfehlungen finden Sie in Marie Luise Knotts Kolumne
Tagtigall und in unserer
Büchersuche für Lyrik.