Bücher der Saison

Essays

Eine Auswahl der interessantesten, umstrittensten und meist besprochenen Bücher der Saison.
11.11.2023. Emmanuel Carreres schildert in seiner Gerichtsreportage "V13"  den Terroranschlag auf das Bataclan und den anschließenden Prozess. Mikhail Zygar und Sergej Gerassimow reflektieren über russischen Imperialismus und den Ukrainekrieg. Marica Bodrozic besingt die "Mystische Fauna".
Auf Emmanuel Carreres Gerichtsreportage "V13" (bestellen) über die Terroranschläge in Paris haben wir schon in unserem September-Bücherbrief hingewiesen, aber auch als Buch der Saison möchten wir es noch einmal herausheben: Carrere schildert in seiner großen Reportage die islamistischen Terroranschläge in Paris - auf die Konzerthalle Bataclan und im Stade de France, denen 131 Menschen zum Opfer fielen - und den 9-monatigen Prozess gegen den einzigen überlebenden Täter und eine Reihe Beihelfer. Es ist ein brutales Buch und ein nötiges Buch. Keine klassische Gerichtsreportage, Carrere schreibt über die Opfer, die Ermittler, die Täter, über "Taten großer Menschlichkeiten", doch auch über die Brutalität der Attacken. Und er schafft es dabei auf beeindruckende Weise, sowohl die Opfer in ihrer Individualität, als auch die Terroristen in den Zusammenhängen und Entstehungsgründen des Islamismus zu fassen, erklärt ein beeindruckter Adam Soboczynski in der Zeit. Es ist ein Buch, das sich nicht nur an die französische Gesellschaft, sondern an die "zivilisierte Welt überhaupt", erkennt Niklas Bender, der für die FAZ die französische Ausgabe besprochen hat. In der SZ schämt sich Gustav Seibt nicht seiner Tränen bei der Lektüre.

Mikhail Zygar, bis 2015 Chefredakteur des unabhängigen russischen Fernsehsenders Doschd, heute im Exil in Deutschland lebend, hat mit "Krieg und Sühne" (bestellen) eine russisch-ukrainische Konfliktgeschichte geschrieben. Ausgehend vom 17. Jahrhundert schildert er die jahrhundertelangen Versuche Russlands, die Ukraine einzunehmen, und zeigt, dass auch bei russischen Intellektuellen wie Dostojewski das imperiale Denken stark verbreitet war. Der Schwerpunkt des Buchs liegt jedoch auf der jüngsten Geschichte, so in der taz Jens Uthoff, der mit großem Interesse Zygars detaillierte und mit neuen Aspekten versehene Geschichte über den russischen Imperialismus verfolgt hat. In der FR empfiehlt Christian Thomas das Buch, dessen "Erzählprinzip sich überkreuzender Ereignisse" ihm die russisch-ukrainische Geschichte auf anregende Art näher bringt. (Thomas' "kleine Ukraine-Bibliothek" in der FR mit ihren Empfehlungen sei hier nachdrücklich empfohlen für alle, die mehr zum Thema suchen.) Ebenfalls gut besprochen ist Sergej Gerassimows Tagebuch "Feuerpanorama" (bestellen), mit Einträgen vom 18. Mai 2022 bis 18. April 2023 über den Kriegsalltag in der Ukraine, das aber auch Reflexionen über die Politik der Ukrainer, Nationalismus und Patriotismus enthält, so Jörg Plath im Dlf Kultur. Gerassimows Beobachtungen konnte man auch als Kolumne in der NZZ lesen. Hingewiesen sei auch noch auf Saul Friedländers Tagebuch "Blick in den Abgrund" (bestellen), das die Auseinandersetzung um die geplante Justizreform der israelischen Regierung von Benjamin Netanjahu beschreibt. Friedländer hat es von den USA aus geschrieben und vor dem 7. Oktober. Friedländers Vision eines palästinensischen Staates ohne eigene Armee könnte eine Vision für die Zeit nach dem aktuellen Krieg sein, glaubt Alexandra Föderl-Schmid, die das Buch gut drei Wochen nach dem Überfall der Hamas in der SZ besprach. Lob gabs auch in der FR und Dlf Kultur.

Marica Bodrozic, aus Dalmatien stammend, war 18 Jahre alt, als der Krieg im ehemaligen Jugoslawien ausbrach. "Ich bin bei unterschiedlichen Menschen groß geworden, ohne meine Eltern. Doch wo auch immer ich hinkam, hatte ich das Gefühl, die Tiere sind schon da und kennen mich schon. Ich komme dahin und da wartet schon ein Esel, ein Pferd, ein Schaf, Ziegen, ein Hund, Katzen. Ich hatte lange Zeit das Gefühl, selbst ein Tierkind zu sein - ich wollte verstanden oder angenommen werden als jemand, der genauso still da sein und atmen kann wie die Tiere selbst", erzählt sie im Interview mit Zeit online. Einem Tier ist auch ihr Buch "Mystische Fauna" (bestellen) gewidmet, einem Hund, den sie auf der Insel Gomera betreut und der Erinnerungen an die Tiere ihrer Kindheit weckt. Wie Bodrožić erinnernde Passagen mit "elegischen" Naturbeschreibungen, dann wieder mit "glasklaren" Überlegungen verwebt und dabei Zitate von Kafka, Walter Benjamin, Heiner Müller oder Ovid aufblitzen lässt, findet Rezensentin Sarah Elsing im dlf Kultur eigenwillig und kunstvoll. Und auch Joachim Dicks (NDR) ist beeindruckt von Bodrožićs Fähigkeit,, Persönliches und Philosophisches zu verbinden. Ebenfalls empfohlen werden Bodo Hells "Begabte Bäume" (bestellen), dessen Spezialwissen über Eibe, Esche, Eiche und Linde, aber auch über Zirbenzapfenlikör und steirische Schnitzwerkzeuge NZZ-Rezensent Paul Jandl stark beeindruckte.

Der Theatermacher und Aktivist Milo Rau denkt in einem Essay über "Die Rückeroberung der Zukunft" (bestellen) nach. Kritik, Moral und Identitätspolitik dienen seiner Meinung heute oft nur noch dem eigenen Distinktionsgwinn. Einen Entwurf für eine bessere Welt enthalten sie so gut wie nie, so seine Kritik. Rau plädiert für Revolte und setzt dabei auf die "performative Kraft der Kunst", erklärt auf Zeit online Björn Hayer und nennt als Beispiel Raus Zusammenarbeit mit dem brasilianischen Movimento dos Sem Terra für die "Antigone im Amazonas". Hayer kann sich mit diesem "Aktivismus als Lebensweise" gut anfreunden, zumal Rau ihn "einen sehr spannungsvollen, den Möglichkeitsreichtum einschließenden Blick" lehrt. In der FR ist Arno Widmann hellauf begeistert, aber auch etwas eingeschüchtert, wenn Rau versucht, "die Gegenwart des Aufstands auf Dauer zu stellen". Peter Laudenbach geht das revolutionäre Pathos des Buchs streckenweise arg auf den Zeiger, aber auch er muss zugeben, dass Rau eben nicht nur Thesen zu bieten hat, sondern sich mit seiner Arbeit immer "direkt ins Konfliktgebiet" begeben hat. Er ist eben ein "Herz-Jesu-Marxist", meint durchaus anerkennend Andreas Fanizadeh in der taz. Ebenfalls in der taz empfiehlt Thomas Hummitzsch "Neue Töchter Afrikas" (bestellen), einen von Jona Elisa Krützfeld und Christa Morgenrath herausgegebenen Band mit Texten zeitgenössischer afrikanischer Autorinnen, viele von ihnen Kinder von Eingewanderten nach Europa. Die Essays, Erzählungen und Gedichte "reflektieren auf unterschiedlichen Wegen das afrikanische Erbe ihrer Autorinnen. Sie erzählen von Selbstermächtigung und Widerstand, Flucht und Exil, Träumen und Traumata, wobei aktuelle Debatten über Rassismus, Feminismus, Gender- und Identitätspolitik immer mitschwingen", lobt Hummitzsch, der nur eins bedauert: dass die Autorinnen alle englischsprachig sind. Diese Anthologie ist "längst überfällig", findet  Julia Hahn-Klose im Kölner Stadt-Anzeiger.