
Auf
Emmanuel Carreres Gerichtsreportage
"V13" (
bestellen) über die Terroranschläge in Paris haben wir schon in unserem September-Bücherbrief hingewiesen, aber auch als Buch der Saison möchten wir es noch einmal herausheben: Carrere schildert in seiner großen Reportage die
islamistischen Terroranschläge in Paris - auf die Konzerthalle Bataclan und im Stade de France, denen 131 Menschen zum Opfer fielen - und den 9-monatigen Prozess gegen den einzigen überlebenden Täter und eine Reihe Beihelfer. Es ist ein brutales Buch und ein nötiges Buch. Keine klassische Gerichtsreportage, Carrere schreibt über die Opfer, die Ermittler, die Täter, über "Taten großer Menschlichkeiten", doch auch über die Brutalität der Attacken. Und er schafft es dabei auf beeindruckende Weise, sowohl die Opfer in ihrer Individualität, als auch die Terroristen in den Zusammenhängen und Entstehungsgründen des Islamismus zu fassen, erklärt ein beeindruckter Adam Soboczynski in der
Zeit. Es ist ein Buch, das sich nicht nur an die französische Gesellschaft, sondern an die "zivilisierte Welt überhaupt", erkennt Niklas Bender, der für die
FAZ die französische Ausgabe besprochen hat. In der
SZ schämt sich Gustav Seibt nicht seiner Tränen bei der Lektüre.


Mikhail Zygar, bis 2015 Chefredakteur des unabhängigen russischen Fernsehsenders Doschd, heute im Exil in Deutschland lebend, hat mit
"Krieg und Sühne" (
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taz Jens Uthoff, der mit großem Interesse Zygars detaillierte und mit neuen Aspekten versehene Geschichte über den russischen Imperialismus verfolgt hat. In der
FR empfiehlt Christian Thomas das Buch, dessen "Erzählprinzip sich überkreuzender Ereignisse" ihm die russisch-ukrainische Geschichte auf anregende Art näher bringt. (Thomas'
"kleine Ukraine-Bibliothek" in der
FR mit ihren Empfehlungen sei hier nachdrücklich empfohlen für alle, die mehr zum Thema suchen.) Ebenfalls gut besprochen ist
Sergej Gerassimows Tagebuch
"Feuerpanorama" (
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Dlf Kultur. Gerassimows Beobachtungen konnte man auch als Kolumne in der
NZZ lesen. Hingewiesen sei auch noch auf
Saul Friedländers Tagebuch
"Blick in den Abgrund" (
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SZ besprach. Lob gabs auch in der
FR und
Dlf Kultur.

Marica Bodrozic, aus Dalmatien stammend, war 18 Jahre alt, als der Krieg im ehemaligen Jugoslawien ausbrach. "Ich bin bei unterschiedlichen Menschen groß geworden, ohne meine Eltern. Doch wo auch immer ich hinkam, hatte ich das Gefühl,
die Tiere sind schon da und kennen mich schon. Ich komme dahin und da wartet schon ein Esel, ein Pferd, ein Schaf, Ziegen, ein Hund, Katzen. Ich hatte lange Zeit das Gefühl, selbst ein Tierkind zu sein - ich wollte verstanden oder angenommen werden als jemand, der genauso still da sein und atmen kann wie die Tiere selbst", erzählt sie im
Interview mit
Zeit online. Einem Tier ist auch ihr Buch
"Mystische Fauna" (
bestellen) gewidmet, einem Hund, den sie auf der Insel Gomera betreut und der Erinnerungen an die Tiere ihrer Kindheit weckt. Wie Bodrožić erinnernde Passagen mit "elegischen" Naturbeschreibungen, dann wieder mit "glasklaren" Überlegungen verwebt und dabei Zitate von Kafka, Walter Benjamin, Heiner Müller oder Ovid aufblitzen lässt, findet Rezensentin Sarah Elsing im
dlf Kultur eigenwillig und kunstvoll. Und auch Joachim Dicks (
NDR) ist
beeindruckt von Bodrožićs Fähigkeit,, Persönliches und Philosophisches zu verbinden. Ebenfalls empfohlen werden
Bodo Hells "Begabte Bäume" (
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Zirbenzapfenlikör und steirische Schnitzwerkzeuge
NZZ-Rezensent Paul Jandl stark beeindruckte.


Der Theatermacher und Aktivist
Milo Rau denkt in einem Essay über
"Die Rückeroberung der Zukunft" (
bestellen) nach. Kritik, Moral und Identitätspolitik dienen seiner Meinung heute oft nur noch dem eigenen Distinktionsgwinn. Einen Entwurf für eine bessere Welt enthalten sie so gut wie nie, so seine Kritik. Rau plädiert für Revolte und setzt dabei auf die "performative Kraft der Kunst",
erklärt auf
Zeit online Björn Hayer und nennt als Beispiel Raus Zusammenarbeit mit dem brasilianischen Movimento dos Sem Terra für die "Antigone im Amazonas". Hayer kann sich mit diesem "Aktivismus als Lebensweise" gut anfreunden, zumal Rau ihn "einen sehr spannungsvollen, den Möglichkeitsreichtum einschließenden Blick" lehrt. In der
FR ist Arno Widmann hellauf begeistert, aber auch etwas eingeschüchtert, wenn Rau versucht, "die Gegenwart des Aufstands auf Dauer zu stellen". Peter Laudenbach geht das revolutionäre Pathos des Buchs streckenweise arg auf den Zeiger, aber auch er muss zugeben, dass Rau eben nicht nur Thesen zu bieten hat, sondern sich mit seiner Arbeit immer "direkt ins Konfliktgebiet" begeben hat. Er ist eben ein "Herz-Jesu-Marxist", meint durchaus anerkennend Andreas Fanizadeh in der
taz. Ebenfalls in der
taz empfiehlt Thomas Hummitzsch
"Neue Töchter Afrikas" (
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Jona Elisa Krützfeld und
Christa Morgenrath herausgegebenen Band mit Texten zeitgenössischer afrikanischer Autorinnen, viele von ihnen Kinder von Eingewanderten nach Europa. Die Essays, Erzählungen und Gedichte "reflektieren auf unterschiedlichen Wegen das afrikanische Erbe ihrer Autorinnen. Sie erzählen von Selbstermächtigung und Widerstand, Flucht und Exil, Träumen und Traumata, wobei aktuelle Debatten über Rassismus, Feminismus, Gender- und Identitätspolitik immer mitschwingen", lobt Hummitzsch, der nur eins bedauert: dass die Autorinnen alle englischsprachig sind. Diese Anthologie ist "längst überfällig",
findet Julia Hahn-Klose im
Kölner Stadt-Anzeiger.