Essay

Rückkehr des Ernstfalls

Ein evidenzbasierter Vorgriff auf die Zukunft Von Daniele Dell'Agli
05.12.2022. Der Klimawandel mit all seinen Folgen lässt uns wieder auf den harten Boden der Realität aufprallen. Das Leitmotiv kultureller Selbstverständigung lautet nun nicht mehr "Wie wirklich ist die Wirklichkeit?" sondern: wieviel Infragestellung von Wirklichkeit können sich die Gesellschaften des 21. Jahrhunderts noch leisten, ohne ihr Überleben zu gefährden? Dabei wird die Rückkehr des Ernstfalls sich nicht in einer Re-Essentialisierung sinnverwaister philosophischer Disziplinen erschöpfen. In der von allen Lebewesen geteilten  Atmosphäre gibt es nämlich nur Eine gemeinsame Welt.
I

Im Jahr 1979 veröffentlicht Helmut Tributsch, Professor der Physikalischen Chemie an der FU Berlin, das Buch "Rückkehr zur Sonne", ein engagiertes Plädoyer für einen Übergang zur Wasserstoffwirtschaft, der bereits alle Argumente enthält, die ein Jahrzehnt später Hermann Scheers Werben für ein solares Zeitalter mit ungleich größerer publizistischer Resonanz aber politisch ebenso folgenlos vortragen sollte. Der Titel mahnt eine Rückkehr zur ursprünglichen, alles Leben auf der Welt erst ermöglichenden Energiequelle an, die von Menschen seit der Steinzeit intuitiv, bereits in der griechisch-römischen Antike passiv (architektonisch) und seit dem 19. Jahrhundert für die Photovoltaik genutzt wird. Rückkehr zu beinhaltet dabei nicht nur eine Inversion des Zeitvektors im Gegensatz zu einer Rückkehr von. Es schlägt vielmehr gegen die geschichtsfatalistische Dynamik der eigenmächtigen Wiederkehr vergangener Kulturstufen oder Lebensformen eine aktive Kurskorrektur durch bewusste politische Entscheidungen vor. Mehr noch: der Entwurf einer  künftigen Energieversorgung durch Rückgriff auf die älteste - selbstredend unter Einsatz neuester Technologien - formuliert zugleich eine mentalitätspsychologische Erklärung für ihre  jahrzehntelange Schmähung durch die gesamte technische Zivilisation: im Projekt der Moderne war ein Zurück zu vormodernen Formen der Energiegewinnung schlicht nicht vorgesehen, alle entfesselte Innovationsdynamik hatte sich auf Gedeih und Verderb futuristisch auszurichten (womit Tributsch ein zentrales Motiv der Modernitätskritik Bruno Latours vorwegnahm), die anvisierte Ablösung der fossilen Extraktionswirtschaft durch die Atomkraft durfte auf keinen Fall infrage gestellt werden, ungeachtet ihrer astronomischen Kosten - bis heute allein in Deutschland über eine Billion Euro. Solartechnologie passte weder zum Selbstverständnis moderner, auf Zukunftsunrast getrimmter Subjektivität, noch war (und ist) sie für marktwirtschaftlich auf Gewinnoptimierung erpichte Akteure interessant, weil sie nach einer anfänglichen Experimentierphase allen Erdenbewohnern Energie zum Nulltarif zu liefern verspricht. So wurde ihre Einführung erst 20 Jahre lang verzögert und später, nach resoluten Anfängen unter RotGrün weitere anderthalb Jahrzehnte durch kanzleramtlichen Gaslobbyismus sabotiert.

Rückkehrtopoi suggerieren im kulturellen Kontext entweder etwas Unerledigtes, vom Gang der Geschichte zu früh Überholtes: da gab es etwas Wichtiges, das dann vertrieben, verdrängt wurde, an Bedeutung verlor oder in ein semantisches Exil emigrieren musste. Oder dieses ominöse Kulturgut war nie weg, medienökologische Turbulenzen, womöglich diskurspolitische Paradigmenwechsel haben sein Verschwinden nur vorgegaukelt, tempora mutantur wird es wieder sichtbar, wenn auch in veränderter Gestalt: Rückkehr der Religion, der Autorschaft, des Realismus. Aber Rückkehr des Ernstfalls?  

Als ernst bezeichnen wir eine Situation, der wir - hinsichtlich Zeitpunkt oder Ort, Verlauf oder Umstände - entweder ohnmächtig ausgeliefert sind oder von der  zumindest zweifelhaft ist, ob und wie das Geschehen, das unvermeidliche, zu beeinflussen oder gar zu steuern sei. Im Ernstfall haben wir es immer mit einer Übermacht zu tun, der wir nur teilweise oder gar nicht gewachsen sind. Ernstfälle begleiten alle Individuen ein Leben lang: medizinische (Unfall, Krankheit), soziale (Umzug, Arbeitsplatzverlust), finanzielle (Insolvenz), existenzielle (Trennung), juristische und so weiter. Soviele Schicksale soviele individuelle Ernstfallkonstellationen. Neu ist die in der Komfortzone des Spätkapitalismus in Vergessenheit geratene Dimension des kollektiven Ernstfalls, der nun plötzlich eine Gemeinschaft (Flutkatastrophe) oder die Gesellschaft als Ganze betrifft: erst die Pandemie, dann der Krieg, jetzt die der Kriegswirtschaft geschuldeten Energienotstände und immer häufiger und auf unabsehbare Zeit der Klimanotstand: der überwunden geglaubte zivilisatorische Ernstfall ist zurück und mit ihm die Übermacht einer Realität, die Simulationen nur noch duldet als Planspiele für pandemische, militärische, energietechnische oder meteorologische Problemlösungen.

Was bedeutet die Überschattung persönlicher Schicksale durch kollektive, nationale, ja Gattungskrisen? Man kann sich das geophysikalisch so veranschaulichen: die Erde dreht sich mit fast 1700 km/h ostwärts um ihre Achse - am Äquator. Davon merken wir nichts. Und auch nichts davon, dass die Geschwindigkeit mit dem Umfang der Breitengrade abnimmt, je mehr wir uns den Polen nähern, wo sie am nördlichsten und südlichsten Drehpunkt der Erdachse schließlich Null beträgt. Für Erdenbewohner macht das keinen Unterschied. Warum? Ganz einfach: weil die Gravitationskraft 6000 Mal stärker ist als die Fliehkräfte der Erdrotation. In diesem Maßstab wird der Klimawandel - nicht heute, nicht morgen, aber spätestens um die Jahrhundertmitte - alle anderen Konflikte auf dieser Erde nicht nur überschatten, sondern regelrecht erdrücken, wird seine Gravitation ihre vollkommene Einstellung erwirken.

Solch ein starkes Bild zu bemühen entbehrt nicht eines kontraintuitiven Optimismus angesichts der extremen Unwahrscheinlichkeit, dass jemals die Kantische Vision einer Weltregierung ("Zum Ewigen Frieden") oder eines der verschiedenen Konzepte von Global Governance auf Grundlage der Erd-Charta von der Staatengemeinschaft freiwillig realisiert werden. Denn diese Staatengemeinschaft gibt es, von der EU einmal abgesehen, noch gar nicht und es ist keineswegs ausgemacht, ob der eine große  Ernstfall tatsächlich die zahllosen regionalen, ethnischen, nationalen und kulturellen Konflikte wenn nicht befrieden, so doch auf längere Zeit wird suspendieren können, denn die zunehmende Ungleichverteilung der Reichtümer und damit der Zugänge zu Ressourcen droht früher oder später weltbürgerkriegsähnliche Zustände auszulösen.

Wiederum im Jahr 1979 fand die erste Weltklimakonferenz in Genf statt: seitdem ist bekannt, dass die mit den Klimaveränderungen, aber auch mit allen Formen der Umweltzerstörung und des Artensterbens einhergehenden ökologischen Probleme nicht nationalstaatlich gelöst werden können. Was das im Einzelnen bedeutet, wurde im Rahmen einer neuen völkerrechtlichen Konvention 1992 auf dem Weltklimagipfel von Rio de Janeiro unter dem Titel der Erd-Charta vorgeschlagen - und abgelehnt. Damals begann die bis heute anhaltende alljährliche Parade der Deklarationen und Verpflichtungen, von denen einzig das Pariser Abkommen verbindlich ratifiziert wurde -  mit unrealistischen Zielen und viel zu weit gesteckten Zeiträumen (1,5 Grad bis 2050, 2 Grad bis 2100). Dadurch wurde mehr Aufmerksamkeit und Zuversicht für das Thema verschlissen, als pragmatische Klimapolitik wird je wiedergewinnen können.

Nun krankt die Erd-Charta an derselben Überdehnung ihres Geltunganspruchs wie die ebenfalls seit Jahrzehnten in UN-Gremien brachliegende Allgemeine Erklärung der Menschenpflichten: beide Programmschriften listen alle nur erdenklichen utopischen Desiderate einer humanen Weltpolitik auf, doch das entscheidende Lemma des Schutzes unserer Lebensgrundlagen - Schutz des Klimas, der Biodiversität, von Wäldern und Gewässern - genießt nicht nur keine Priorität, sondern geht im Sammelsurium eines integralen Weltethos-Katalogs verloren, der damit ein weiteres Mal die obsolete Anthropozentrik der Menschenrechtserklärung von 1948 fortschreibt.

Ein ähnliches Bild bietet das deutsche Umweltbundesamt, auf dessen Website man sich einschlägig über Umweltvölkerrecht und Klimaschutzrechte informieren kann. Ersterem werden offen "Erfüllungsdefizite" attestiert, allerdings so getan, als ob man nur Kontrollorgane und -instrumente bräuchte, um es durchzusetzen, wo doch jede gesetzliche Handhabe fehlt, Nationen zu veranlassen, etwa auf die Zerstörung "ihrer" Urwälder zu verzichten; im zweiten Fall werden kleinteilig-bürokratische  Dekrete zu Emissionshandel, Energieffizienz, Biomasse u.a.m aufgelistet, die selbst optimal umgesetzt die Klimabilanz in den nächsten Jahrzehnten um kein Zehntelgrad erleichtern werden.

Würde die Menschheit den Ernst der bevorstehenden klimatischen Veränderungen begreifen, von denen wir heute nur punktuell aber mit steigender Frequenz erste Vorboten erleiden, dann würde die UN die für das Überleben der Gattung wichtigsten Regionen zu Klimaprotektoraten erklären und etwa Sibirien, Borneo und den Amazonas unter die Aufsicht des Weltklimarats stellen, wofür allerdings zuvor  staatliche Hoheitsansprüche ebenso wie die privatwirtschaftliche Nutzung solcher Gebiete abgeschafft werden müssten. Davon sind wir weit entfernt, mehr denn je seit dem russischen Überfall auf die Ukraine, der nicht nur jede klimapolitische Zusammenarbeit mit dem Aggressor aktuell vereitelt und enorme zusätzliche Emissionen verursacht, sondern weit schlimmer noch das nationalstaatliche Souveränitätsbedürfnis des 19. Jahrhunderts wiederbelebt und auf lange Sicht Zeit zementiert haben dürfte. Denn der Nationalstaat hat Sprache und Kultur nicht nur territorial begrenzt, sondern seinen Einwohnern ihre Ausübung im Sinne der Menchenrechte garantiert; unter solchen Voraussetzungen werden sie jedoch ohne klimatraumatische Erfahrungen heute noch ungeahnten Ausmaßes niemals jenes planetarische Bewusstsein entwickeln, das doch Voraussetzung für die Forderung nach globalen Instrumenten zur Rettung unserer Lebensgrundlagen ist.

Eines dieser Instrumente, ein überaus vielversprechendes, wird im übrigen von den offiziellen Vertretern der Völkergemeinschaft notorisch geächtet (und von den Medien, die positive Klimanarrative vermissen, ignoriert): Treuhandschaften (trusteeships) für bedrohte oder für das ökologische Gleichgewicht essentielle Regionen, die sowohl zivilgesellschaftlich organisiert als auch vom UN-Treuhandrat, einer seit der Unabhängigkeit der letzten Kolonien verwaisten UN-Institution übernommen werden könnten. Seit 1997 gibt es - praxistauglich etwa von Klaus Bosselmann elaborierte - Initiativen, dieses Organ in eine treuhänderische Verwaltung globaler Gemeingüter (commons) umzuwandeln; doch nicht einmal für staatsfreie Regionen der Antarktis können die UN-Miglieder sich eine treuhänderische Administration zur Verhinderung militärstrategischer oder extraktiver Nutzung vorstellen.

Bei alledem schwelt der pathologische Dauerbrenner unter den Ernstfällen weiterhin unterhalb der Empörungsschwelle unserer Öffentlichkeit: seit 50 Jahren (1972: "Die Grenzen des Wachstums") wissen wir, dass wir nicht so weitermachen dürfen wie bisher - und wir tun es trotzdem. Das bedeutet unter anderem, dass bereits lange vor unserer erst kognitiven, später alltagspragmatischen Kapitulation vor den Folgen von Umweltzerstörung, Klimawandel und Überbevölkerung diese Kalamitäten gleichsam hinter unserem Rücken die internationalen Beziehungen auf eine noch nie gekannte Weise destabilisieren werden, weil die einzelnen Länder mit unterschiedlichen Prioritäen und Geschwindigkeiten auf die ökologischen Veränderungen reagieren. Destabilisierung heißt konkret kriegerische Konflikte, wie sie sich zwischen den Anrainern der schmelzenden Arktis abzeichnen.   

II

Legionen von Wissenschaftler und ein halbes Jahrhundert unermüdlicher Aufklärung hat es gebraucht, um die einfachste Tatsache des Lebens bis zu den Kabinettstischen der Macht einsickern zu lassen: dass physikalische Gesetze Vorrang vor jeder menschlichen Ordnung, auch vor der marktwirtschaftlichen haben. Dass sie auch Vorrang vor der internationalen Staatenordnung haben, könnte dem einen oder anderen Volksvertreter nach 27 Klimakonferenzen dämmern, doch die ungleich dramatischere Tonlage der Abgesandten jener Länder, die schon heute in der südlichen Hemisphäre massive Lebenseinschränkungen durch veränderte klimatische Bedingungen erleiden, beweist vor allem eins: auch für angemessene Reaktionen auf den Klimawandel braucht es den Leidensdruck der am eigenen Leib erfahrenen Katastrophe, datengestützte Beweisführungen der Wissenschaften reichen nicht aus. Auch das im Grunde eine banalpsychologisch verständliche Tatsache, deren kulturphilosophische Tragweite bislang jedoch kaum zur Kenntnis genommen wurde.

Das ganze 20. Jahrhundert hindurch wurden mit jedem wissenschaftlichen Fortschritt und jeder künstlerischen Innovation überlieferte Selbstverständlichkeiten zerstört, während philosophische Parallelaktionen mit Ideologie- und Erkenntniskritiken, Sprach- und Diskursanalysen, Dekonstruktionen jedweder Art den entsprechenden  theoretischen Kontext umformatierten - keine kulturelle, religiöse, politische oder weltanschauliche Tradition blieb davon verschont. Mit dem Siegeszug des Konstruktivismus in der Postmoderne radikalisierte sich dieser Habitus zum epistemologischen Generalverdacht gegen die fundamentalen biologischen Evidenzen unserer Existenz, die zu Spielmarken auf einem nominalistischen Schlachtfeld wurden.

Seitdem bilden Naturverleugnung und Naturverdrängung die Basis kulturalistischer Selbstverständigung an Universitäten, in Medien und Parlamenten. Unermüdlich wurde der trügerische Charakter von Sinneswahrnehmungen beschworen, mit geradezu jakobinischem Furor die Hybris der Naturbeherrschung bis zum Dogma einer sozialen Konstruktion des biologischen Geschlechts getrieben - wenn nicht gleich der gesamten Wirklichkeit jeder Eigensinn und jede Objektivität abgesprochen wurde, um sie zu einer reinen Rechenleistung des Gehirns zu degradieren.

Erst allmählich zeichnet sich ab, dass solche letztlich selbstreferenziellen Diskurse ihrerseits Symptome einer von kollektiven Ernstfällen weitgehend entlasteten Zivilisation sind. Deren Rückkehr wird als Einbruch des Realen in seiner ganzen alternativlosen Faktizität spürbar, die jede Relativierung von Wahrheitsfragen oder Sachverhalten immer mehr als verantwortungslose Spielerei bloßstellt. Denn der große Ernstfall betrifft uns alle, wenn auch, je nach Standort, Einkommen und sozialem Status, mit unterschiedlicher Intensität, unmittelbar so, dass wir seine Auswirkungen am eigenen Leib spüren. Damit entfallen die semantischen Wahrnehmungsfilter vermittelnder Konventionen und das modische Delirieren über Medieneffekte (ich erinnere nur an die Reaktionen auf den 11. September) erübrigt sich ebenso wie die Demagogie alternativer Fakten. Anstelle der je nachdem semiologischen Verflüchtigung oder virtuellen Derealisierung unserer perzeptiven Gewissheiten tritt eine Re-Essentialisierung sämtlicher kulturstrategisch relevanten Diskurse, ein epochaler Paradigmenwechsel, der zwangsläufig zu einer Revision fahrlässig eingeübter Desorientierungen samt der davon getragenen Symbol- und Repräsentationssysteme führen wird.

Das Leitmotiv kultureller Selbstverständigung lautet nun nicht mehr "Wie wirklich ist die Wirklichkeit?" (Paul Watzlawick, 1978) sondern: wieviel Infragestellung von Wirklichkeit können sich die Gesellschaften des 21. Jahrhunderts noch leisten, ohne ihr Überleben zu gefährden? Dabei wird die Rückkehr des Ernstfalls sich nicht in einer Re-Essentialisierung sinnverwaister philosophischer Disziplinen erschöpfen. In der von allen Lebewesen geteilten und gestalteten "kritischen Zone" - auch Atmosphäre genannt - gibt es nämlich nur Eine gemeinsame Welt. Mit dem unverbindlichen Perspektivismus, der uns lange genug eine Unzahl von Welten vorgegaukelt hat, ist es damit vorbei. Bruno Latour bringt es auf den Punkt: "Wir begreifen durchaus, dass die Temperatur innerhalb der klimatisierten Blase, in der wir hausen, von unserem eigenen Handeln abhängt. Darin besteht der wirkliche Lockdown, in diesem Schicksal, das wir kollektiv gewählt haben - ohne uns Gedanken darüber zu machen."

Latour bleibt allerdings kontrafaktisch ein Philanthrop, wenn er unterstellt, die Menschen im Pandemie-Lockdown hätten geahnt, dass dies nur ein Vorgeschmack auf den eigentlichen, allumfassenden atmosphärischen Lockdown sei, den sie als eine "paradoxe Form negativer Universalität" nicht mehr werden ausblenden können. Es gehört sein unverbrüchlicher Optimismus dazu, im Wuchern identitätspolitischer Hysterien Angstblüten einer Agonie der fossilenergetischen Verschwendungsepoche zu erkennen: "Als lastete auf allen politischen Projekten die Auslöschung wie eine diffuse Drohung." Den Grad der Befangenheit, des geistigen Lockdowns in luxurierenden Differenzkulten und Alteritätsblasen hat er ebenso unterschätzt wie die zähen Nachhutgefechte postmoderner Realitätsverweigerung bei Klimawandelleugnern, Querdenkern und Verschwörungstheoretikern aller Couleur.

Desungeachtet wird der Klimanotstand die öffentlichen Auseinandersetzungen  gründlich umformatieren und den Fokus auf die Frage verlagern, wieviel lebenspraktische Universalien das Selbstverständnis einer Gesellschaft braucht, um die größten Umbrüche ihrer Geschichte zu bewältigen oder, einfacher gesagt, was denn eigentlich die Menschen über alle kulturellen (sprachlichen, ethnischen, sozialen, religiösen, etc.) Unterschiede hinweg verbindet. Diese Jahrhundertdebatte wird die ohnehin geringe Akzeptanz für autoritäre Eliten-Projekte wie die sprachliche Umerziehung einer Sprachnation auf Null reduzieren, im Gegenzug dafür dem mal fluide, mal volatil sich missverstehenden Anspruchsnarzissmus der gegenwärtigen Subjektivität wieder zu jener Gravitation verhelfen, die unverzichtbar ist für die Entwicklung einer milieuübeschreitenden Solidarität. Insbesondere den woken Linken dürfte das analoge Survivortraining des zivilisatorischen Emergenzmodus auf Dauer ihre Spaltenergien soweit aufzehren, dass sie die verbliebene aktivistische Verve (man wird ja noch träumen dürfen) dem Mandat ihrer ideologischen Herkunft gemäß endlich auf das 1 Prozent der Gesellschaft konzentrieren werden, das glaubt, jährlich 118 t CO2 ungestraft emittieren zu können.

Wenn die anfangs exponierte Vision einer Bändigung sozialer und politischer Fliehkräfte durch das übermächtige Realitätsprinzip des Klimawandels stimmt, so werden wir uns bald von der erst kürzlich diagnostizierten "Gesellschaft der Singularitäten" verabschieden, von der im beginnenden Anthropozän nicht viel mehr bleiben wird als die expandierende Prepperszene und eine Klimawandeldepression, deren Begriff schon passend nach einer mineralischen Legierung klingt: Solastalgie. Brian Eno hat diesem Gefühl mit seinem soeben erschienen Album "Foreverandevernomore" bereits ein musikalisches Denkmal gesetzt.



In ethischer Hinsicht läutet die Rückkehr des Ernstfalls das Ende des infantilen Missbrauchs der Freiheitsrechte ein, die zu einer Lizenz fürs rücksichtslose Ausleben  individueller Egoismen verkommen sind. Der essential turn (wer das apokalyptische Register vorzieht, kann auch von emergency turn sprechen) wird vielmehr die ästhetischen Minimalismen von Kunst und Musik beerben und sich für den Rest des Jahrhunderts als dominierende Denkfigur der Reduktionen auf das Wesentliche im Geiste einer unvermeidlichen Abkehr von Differenzwut und Wachstumswahn anbieten. Bei Reinhold Messner kann man übrigens aktuell nachlesen, wie inspirierend ein existenzieller Minimalismus, der freiwillig auf alles Unnötige verzichtet, sein kann.

Dass eine Abkehr von der Selbststeigerungsdynamik der Moderne (Peter Sloterdijk, 2009) schwer vorstellbar sei, ist mittlerweile eingedenk der jüngsten Krisen (und der  kommenden) keineswegs mehr sicher, ebenso wenig wie deren Kopplung an das wirtschaftliche Wachstum. Immerhin steigt in den jüngeren Generationen die Zahl derer, denen ein kreativer Umgang mit ökonomisch unproduktiver, nicht an marktkonformer Erwerbsarbeit oder ressourcenzehrenden Konsumerlebnissen  gebundener Zeit durchaus als "Selbststeigerung" gilt - das ließe sich psychoanthropologisch durchaus als Kollateralgewinn eines Verzichts auf Wachstum verbuchen. Zugleich wäre die sich darin andeutende Mentalitätswende vermutlich die einzige Chance für die Bewohner der Nordwesthemisphäre des Planeten, den unsanften Übergang vom Zwang zur Selbststeigerung zu einem asketischen Selbsterhaltungsmodus im Zeichen von Degrowth zu vermeiden.

Betrachtet man den pandemischen Lockdown als Testfall für den planetaren, liegt die Versuchung nahe, sich analog dazu vom Ernstfall einer - bislang indirekten - kriegerischen Konfrontation eine erhöhte Sensibilität für den bis heute anhaltenden "Krieg gegen die Natur" zu erhoffen. Diese Pathosformel wurde erstmals weltweit vernehmbar in der Eröffnungsansprache des UN-Generalsekretärs António Guterres zur COP27. Es geht um einen Krieg, der seit Beginn der Hochkulturen wütet, die längste Zeit dank biblischer Lizenz ("macht euch die Welt untertan") mit missionarisch gutem Gewissen geführt wurde und der seit der Industrialisierung vor 150 Jahren in seine Vernichtungsphase getreten ist. Wozu die Menschheit sich heute durchringen muss, ist daher mehr als ein Waffenstillstand oder ein Friedenskompromiss mit der Umwelt, die sie selber ist. Es ist nichts weniger als das komplette Ab- und Umrüsten ihrer technologischen Arsenale und kapitalistischen Verwertungskreisläufe.
 
Epilog

Angesichts der immensen Tragweite der bevorstehenden gesellschaftlichen Transformationen wäre am Ende dieser prognostischen Skizze die wiederholt angeklungene Frage zur Zukunft unserer Kulturkämpfe wie folgt zuzuspitzen: wieviel Ernstfall vertragen die hegemonialen Zeitgeistdiskurse? Die Antwort: Nichts. Kein bisschen. Sie sind schon Vergangenheit, sie wissen es nur noch nicht.

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Literatur:

Helmut Tributsch, Rückkehr zur Sonne, Berlin 1979.
Hermann Scheer, Solare Weltwirtschaft, München 1999 (gebraucht bei Abe Books)
Klaus Bosselmann, Earth Governance. Trusteeship of the Global Commons, 2015 (gebraucht bei Abe Books)
Bruno Latour, Wo bin ich? Berlin 2020 (Zitate S. 59,  68 und 79)
Reinhold & Diane Messner, Sinnbilder - Verzicht als Inspiration für ein gelingendes Leben. Frankfurt 2022
Peter Sloterdijk, Wie groß ist groß? Wiederabgedruckt in: Was geschah im 20. Jahrhundert?, Berlin 2016.