Essay

Das Mädchen aus dem Bus

Von Ulf Erdmann Ziegler
23.12.2022. Wenn aber die Welt immer düsterer wird, ändert sich die Bedeutung der dunklen Tage. Dann ist es nachmittags um vier dunkel, weil Krieg ist, weil es nicht genügend Gas gibt, und weil ein religiöses Terrorregime junge Männer erhängt. Der Schnee könnte dann ein Trost sein, aber er erinnert nur daran, dass es ihn bald nicht mehr geben wird. Nachdenken über das Nichtdenken.
Draußen liegt Schnee, und plötzlich gibt es jeden Abend eine Einladung. Ich bügele meine Hemden immer nur eines für den Abend. Beim Bügeln denke ich am wenigsten. Eigentlich sollte ich den ganzen Tag bügeln. Man denkt irgendwie immer. Selbst wenn ich denke, dass all das Denken nicht lohnt, denke ich auch. Ich denke an den Krieg und versuche mir vorzustellen, ob er nah oder fern ist.

Die Zeitungen veröffentlichen Jahresrückblicke und doppelseitige Lese- und Hörempfehlungen aus den Redaktionen. Das alles lese ich nicht. Ich möchte nichts so wenig wie einen Rückspiegel, in dem ich das Jahr erkennen würde, und darunter in akkuraten Versalien: Objects in the mirror may be closer than they appear. Mir ist alles gleich nah, der Beginn des Krieges, die Amtszeit von Liz Truss, die Abwahl unseres Oberbürgermeisters. Die Nachrufe aber lese ich. Ein Philosoph interessierte sich besonders für die Anfänge des deutschen Idealismus. Wäre der Spezialist für die "philosophischen Verhältnisse an der Universität Jena in den Jahren von 1789 bis 1795" nicht am Wochenende mit 95 Jahren gestorben, hätte ich vom "spekulativen Idealismus" bis heute nichts gehört.

Je weniger ich versuche zu denken, desto mehr plustern sich die Träume auf. Vorletzte Nacht musste ich erkennen, dass die Suche nach dem Eingang zur Universität nur zu einer immer ausführlicheren Ansicht eines Gebäudes führte, das einem Shoppingcenter von der Außenseite immer ähnlicher wurde, ein gewaltiges, weißliches Ding. Nur einen Eingang gab es nicht. Letzte Nacht war es eine dänische Stadt, die ich mit einem Bus erreichte, in dem ein sechzehnjähriges, blondgelocktes Mädchen seinen Kopf auf meine Schulter gelegt hatte. Die Stadt lag am Wasser und es gab jede Menge Häuser und Wohnungen zu mieten. Ich überlegte, ob es lohnen würde, sich als Kurgast einzumieten und vielleicht darauf zu warten, dem Mädchen wieder zu begegnen. Vielleicht war ich eher in Island, sehr grün, maritim und winterlich zugleich, mit warmen Quellen.

Als es noch viel Schnee gab, bin ich nicht auf die Idee gekommen, dass er einmal rar werden könnte. Die Schweden hatten früher mächtige Winter. An den Straßenrändern türmte sich der beiseite geräumte Schnee, hart und kristallin, mit wüsten schwarzen Spuren, die Straßen waren fahlweiß vom Salz, und die Tankstellen leuchteten selbstgewiss und prächtig. Die Fahrer trugen gefütterte Jacken mit riesigen Kapuzen, die ihre Gesichter verbargen.

Lange habe ich mich damit getröstet, dass die dunklen Tage gezählt sind. Die schlechteren Tage sind die, an denen es immer ein bisschen früher dunkel wird. Die besseren beginnen am 21. Dezember. Die Marge, um die sie dann heller werden, spiegelt auch nur den Zeitraum davor, solange sie dunkler wurden. Der Unterschied ist also gering, aber die Richtung stimmt. Die Wertung war Routine geworden, so dass schließlich der Lauf von Sonne und Erde eher zu bestätigen schien, was man davon hielt, als dass man sich damit abgefunden hätte, was der Jahreskalender vorsah.

Wenn aber die Welt immer düsterer wird, ändert sich die Bedeutung der dunklen Tage. Dann ist es nachmittags um vier dunkel, weil Krieg ist, weil es nicht genügend Gas gibt, und weil ein religiöses Terrorregime junge Männer erhängt. Der Schnee könnte dann ein Trost sein, aber er erinnert nur daran, dass es ihn bald nicht mehr geben wird. Dass die Tage wieder länger werden, mit Weihnachten im Gepäck, mag einst bedeutet haben, dass etwas kommt, das zur Hoffnung Anlass gibt. Jetzt erscheint die Wintersonnenwende wie ein lügenhafter Bote.

Das Mädchen aus dem Bus, habe ich beschlossen, wird eine Ukrainerin gewesen sein. Sie hat nicht überlegt, was ihre zärtliche Geste bedeutet, weil es die Zärtlichkeit ist, die ihr fehlt. Ihr fehlen die Kameraden. Jungen, auf die sie einstmals ein Auge geworfen hatte, sind jetzt schon im Krieg. Der Vater fehlt, der Cousin und der Onkel. Das sind genügend Gründe, um den Kopf auf meine Schulter zu legen, wenn ich träume.

Die Einladung am 16. Dezember ist immer ein Geburtstag gewesen. Dass sie zwei Jahre ausgesetzt wurde, merkt man überhaupt nicht. Der Schriftsteller hält eine Rede auf seine Frau, die allen Reden gleicht, die er am selben Tag bereits gehalten hat. Am liebsten würde er sich selbst, seiner Frau und seinen Freunden sagen, dass wir alle nicht wirklich älter werden. Das trifft aber nur zu für die Nachrichtensprecherin des Fernsehens, die 47 Jahre alt ist. Seit zwanzig Jahren ist das so und wird sich auch nicht mehr ändern.

Vor drei Jahren hatte ich einen heftigen Streit mit ihr. Sie behauptete, der Oberbürgermeister müsse zurücktreten, weil er Vorteile angenommen habe. Ich bestand darauf, dass er mit einer riesigen Mehrheit im Amt bestätigt worden sei. Jetzt wurde er mit noch mehr Stimmen abgewählt, aber die Nachrichtensprecherin hat die Gelegenheit nicht genutzt, um über mich zu triumphieren. Das mag daran liegen, dass in ihrem Fernsehformat Streit nicht vorgesehen war. Vielleicht ist es aber auch unmöglich, auf ewig 47 zu bleiben, wenn man sich auf einer Party streitet.

Heute wäre der Tag, an dem ich einen Weihnachtsbaum gekauft hätte. Am liebsten mochte ich die Fahrt. Sein abgesägter Stamm berührte die Heckscheibe von innen, und die Spitze war über den Rückspiegel gebogen und reichte bis in die Windschutzscheibe. Ich hatte die letzten Jahre Edelfichten ausgesucht, weil diese extrem gut rochen. Der Baum stand dann im alten Bauernhaus in der Ecke rechts hinten. Dies ist aber der Leseplatz meiner Frau, den sie nun wieder in Anspruch nimmt. Es geht  auch ohne Baum, glaube ich. Ansonsten glaube ich nicht mehr viel. Möglicherweise bin ich ein Anhänger des spekulativen Idealismus, ohne es zu wissen.

Ulf Erdmann Ziegler