Essay

Das Klima, die Kühe und wir Journalisten

Von Uta Ruge
24.01.2024. In Berlin findet gerade die Grüne Woche statt. Das ist ein guter Anlass, sich in Florian Schwinns Buch "Die Klimakuh" zu vertiefen, das mit dem Vorwurf aufräumt, Kühe seien besonders schädlich fürs Klima. Allein wegen der falschen Narrative, die seit mindestens zehn Jahren in den Medien ihr Unwesen treiben, und darüber, wie sie zustande gekommen sind, lohnt es sich schon, dieses Buch zu lesen. Aber Schwinn geht es auch darum, Naturschutz und Landwirtschaft zusammenzudenken.
In einem gerade erschienenen Buch mit dem schönen Titel "Die Klimakuh - Von der Umweltsünderin zur Weltenretterin" versucht der Autor Florian Schwinn ein paar der gängigen Erzählungen über die Kuh geradezurücken. Er zitiert einen befreundeten Bauern, der ihm sagte: "Neunzig Prozent der so genannten Narrative über die Landwirtschaft stimmen nicht, oder sie stimmen so nicht." Die Fakten als solche, so fuhr dieser Landwirt fort, mögen stimmen, aber die Schlüsse, die daraus gezogen werden, sind meistens falsch oder mindestens unsinnig.

Warum ist das so? Weshalb gelingt es so selten, die historischen und zeitgenössischen Prozesse in der Landwirtschaft zu beschreiben, sie gleichzeitig auf ihre fachlichen, pflanzlichen und tierischen Kreisläufe abzuklopfen - und womöglich noch die in ihr arbeitenden Menschen mitzudenken?

1875 erschien in Deutschland ein großformatiges Buch mit dem Titel "Das Ganze der Landwirtschaft", 1985 wurde ein Reprint aufgelegt. Schlug man es auf, hatte man auf der rechten Seite eine Zeichnung und links die Beschreibung dessen, was rechts dargestellt war. Die bildlichen und wörtlichen Darstellungen reichten von den verschiedenen Rassen der Nutztiere wie Rinder, Pferde und Schafe, über Nutzpflanzen, Getreide und Gräser, sowie Werkzeugen wie Grabegabeln, Sämaschinen, Pflügen und Dreschmaschinen bis hin zu Stallgebäuden, Brunnen und Mühlen. Es fehlte nichts, was in der damaligen, modernen Landwirtschaft gebraucht und benutzt wurde, selbst an Geräte und Vorrichtungen für den Obstbau und das Brauen von Bier und Branntwein war gedacht worden.

Nur die Menschen fehlten, die sich mit diesen Geräten und Gebäuden, den Tieren und Pflanzen auskannten und die mit ihnen arbeiteten. Und damit fehlte auch jeder Hinweis auf die Abhängigen innerhalb der Höfe und Dörfer, auf Besitz und Wahlrecht, auf Preise, Vermarktung, Steuern und Zölle, Im- und Export.

Auch in den heutigen Hallen, den mit manch wunderbarem landwirtschaftlichem Getier und Gerät und den daraus hergestellten Nahrungsmitteln und Leckerbissen gefüllten Messehallen der Grünen Woche in Berlin, fehlt der Blick auf die Bedingungen, unter denen sie produziert werden. Das Sichtbare lenkt oft vom Unsichtbaren ab.

Aber zurück zur "Klimakuh" von Florian Schwinn. Ich habe dieses Buch mit Gewinn gelesen und mich davon überzeugen lassen, dass die Rückkehr der Weidekuh eine gute, sogar eine großartige Sache wäre.  Denn die auf die Weide getriebene Kuh, die Gras frisst, würde nicht nur ihrer eigenen Natur gerechter werden als die Stallkuh, sondern ihre Fladen, die sie ins Gras fallen ließe, wären höchst nahrhaft für das Boden- und Insektenleben, ihr Tritt und Biss ließe Gras- und Kräuter besser wurzeln, verbesserte die Humusschicht und machte die Böden widerständiger sowohl gegen Trockenheit als auch gegen Starkregen.  Das hat 2014 auch die Tierärztin Anita Idel in ihrem Buch "Die Kuh ist kein Klimakiller!" schon so dargestellt. Florian Schwinn hat mehrere Projekte besucht, in denen die Kühe auf die Weiden und sogar in die Wälder zurückkehren können. Er hat mit Praktikerinnen, Autoren und Wissenschaftlerinnen gesprochen, die dort arbeiten, etwa auf dem Stiftungsland Schäferhaus, einem ehemaligen Truppenübungsplatz bei Flensburg, das der Stiftung Naturschutz Schleswig-Holstein gehört oder auch den "Bunde Wischen", einer gemeinnützigen Agrargenossenschaft ebenfalls in Schleswig- Holstein. In beiden Projekten werden die Landschaften, viele Hundert Hektar, ausschließlich von den großen Wiederkäuern gestaltet, zu ihnen gesellen sich Konik-Pferde, die ebenfalls seit ein paar Jahrzehnten in den Dienst der Umweltgestaltung genommen wurden. Gemeinsam stellen sie den "Psychotyp" der (nordischen) Savanne her, eine flache, offene, aber durchaus licht bewaldete Landschaft, in der sich, so Schwinn, viele Menschen unserer Breiten gleich zuhause fühlten. Es könnte sogar sein, dass dieses Heimatgefühl genetisch ist, denn dies war wohl - anders als wir es in der Schule gelernt haben - die Urlandschaft Nord- und Mitteleuropas. Es war vermutlich nicht so, dass vor der Ankunft der Menschen alles mit dichtem Wald bewachsen gewesen ist, argumentieren inzwischen viele Wissenschaftler, und Florian Schwinn macht uns mit ihnen und ihren Argumenten bekannt. Er geht dabei sehr ins Detail, so wie die Wissenschaft ins Detail gehen muss, um die empirischen Funde und ihre Hypothesen zu einer möglichen Erklärung ausbauen zu können.

Manchmal war mir das mit den Details, ehrlich gesagt, zu viel des Guten, dieses ganze Wissen, das da ausgebreitet wird über verschiedene Gräser und Insekten, ihre Verhaltensweisen und Ernährungsvorlieben, das Zusammenspiel von Tieren, Pflanzen und ersten Menschen. Aber genau das ist es natürlich, dem man nachgehen muss und auf das man mit großer Gründlichkeit und prüfendem Blick schauen sollte - als Journalist sowieso und erst recht! Was nämlich dabei herauskommt, wenn wir das nicht mehr tun, zeigt uns der Autor in seinem Buch ebenfalls.

Allein wegen der falschen Narrative, die seit mindestens zehn Jahren in den Medien ihr Unwesen treiben, und darüber, wie sie zustande gekommen sind, lohnt es sich schon, dieses Buch zu lesen.

Da ist zum einen die Geschichte mit dem Methan und den Rindern, über die schon Anita Idel in ihrem oben erwähnten Buch aufgeklärt hat. In einer schlecht gemachten (sage ich jetzt vereinfachend), Studie der FAO (Food and Agriculture Organization der UN), war behauptet worden, dass die entscheidenden, klimaschädlichen Methanmengen weltweit aus dem Rülpsen und Pupsen der Wiederkäuer stamme. Tatsächlich aber zeigt die weltweite Rinder-Statistik seit 1990 steil nach unten, der Methananteil jedoch wächst immer weiter. Der Zusammenhang ist, anders als etwa Foodwatch und andere NGOs behaupten, in der steigenden Erdöl- und Erdgasförderung sowie der Zunahme insbesondere des Frackings zu suchen, ein kleines bisschen eventuell auch durch die Zunahme der Reisproduktion im Nassanbau, denn auch dadurch entweicht Methan in die Atmosphäre.  Lesen Sie selbst nach! Florian Schwinn stellt auf mehreren Seiten detailliert Studien und Vergleiche vor, die in ihren grotesken Resultaten vor allem den wirklichen verantwortlichen Produzenten fossiler Energieträger nützen bzw. von ihnen ablenken. Die Meldung des Weltklimarates von 2022 hat er noch nicht einmal berücksichtigt, in dem eingestanden wurde, man habe den Methanausstoß der Rinder überhaupt um das Dreifache zu hoch angesetzt.

Das zweite Beispiel einer grotesken und sich ständig perpetuierenden Erzählung ist die Behauptung eines gigantischen Wasserverbrauchs, der nötig sei zur Produktion eines einzigen Kilogramms Rindfleisch, nämlich 15.415 Liter! Auch hier ist die Quelle eine falsch interpretierte Studie, deren Ergebnis vom BUND und dem Fleischatlas der Böll-Stiftung immer weiter verbreitet wird. Schwinn rechnet vor, dass ein junger Mastbulle von vier Zentner Lebendgewicht in seinem anderthalbjährigen Leben täglich elftausend Liter täglich zu sich nehmen müsste, um dieser Statistik zu gehorchen. Wie kann ein solch gravierender Fehler geschehen und sich jahrelang in einem gebildeten Publikum immer weiter fortzeugen?  Nun, die amerikanisch-niederländische Studie (Mekonnen/Hoekstras) hat jedem statistischen Rinderindividuum der Welt "alles Wasser zugerechnet, das auf seine Weidefläche fällt oder auf die Fläche, auf der das Futter wächst, das man ihm in den Stall fährt" sowie jenes Wasser, das "verbraucht" wird während seiner Schlachtung, samt der Säuberung der Räume und Geräte. Nicht bedacht wird: Kaum etwas von diesem Wasser ist wirklich verloren, selbst das nicht, das die Rinder saufen, denn das meiste davon pissen sie wieder aus. Und das viele Regen- und Schmutzwasser steht nach dem Umweg über das Grundwasser bzw. nach der Säuberung in der Kläranlage dem Wasserkreislauf wieder zur Verfügung.

Aber das Hauptthema von Florian Schwinn sind nicht (alleine) diese absurden Narrative über die Rinder. Ihm geht es vielmehr darum, Naturschutz und Landwirtschaft zusammenzudenken. Es ist sehr spannend, ihm dabei zu folgen, denn er stellt auch dar, wie Arten-, Klima- und Naturschützer sich untereinander durchaus widersprechen können. Man lese allein seine vielen Seiten zur Problematik der Wiederkehr des Wolfes, der von einem seiner Experten sogar als nicht mehr schutzwürdige Art eingeschätzt wird - weil er, anders als Rinder und Schafe, keine Umweltdienstleistung erbringt. Schwinn selbst ist da weniger entschieden und mir hat gefehlt, dass jemand, der so radikal für die Weidehaltung von Rind und Schaf argumentiert, hier keine klarere Haltung einnimmt.

Dieser Mangel, scheint mir, hat seinen Grund in einer allgemeineren Charakteristik dieses und vieler ähnlicher Bücher. Der Autor lässt sich in seinem Plädoyer für die Weidekuh als Klimaschützerin nämlich nicht darauf ein, über die globale Ökonomie der europäischen Landwirtschaft oder die vorherrschende Vermarktungsstruktur ihrer Erzeugnisse nachzudenken - und erst recht nicht über die Soziologie des ländlichen Raumes. Mit anderen Worten, die Realität außerhalb von Stiftungsländereien und universitären Feldversuchen bleibt fast vollkommen außen vor. Aber erst die Analyse des Ganzen der Landwirtschaft, inklusive ihrer Menschen, würde die Hebel finden, die jene so notwendigen Veränderungen in Gang setzen könnte. Denn gemolken werden die Klimakühe in der Regel nicht, und die Fleischvermarktung ist in einigen Projekten zwar großartig, trägt jedoch weder die Investitionen noch die hohen Personalkosten zur Gänze.

Das ist, man verstehe mich recht, kein Argument, dieses Buch nicht zu lesen. Im Gegenteil! Vielleicht könnte eine verständige, gar in der Politik oder für sie arbeitende Leserschaft sich hier eine kräftige Motivation dafür abholen, eine klima-, natur- und ressourcenschonende Landwirtschaft zu erfinden, die alle Stadtbewohner ernähren könnte (auch mit Butter und Käse, bitte!). Und von der die Bauern leben könnten, ohne an ihrer Gesundheit Raubbau betreiben zu müssen. Das wäre dann sogar mal eine Grün-Bunte Woche wert.

Uta Ruge

(Uta Ruge ist Journalistin und Autorin. Zuletzt erschien ihr Buch "Die Kühe, mein Neffe und ich", das wir vorgeblättert haben.)