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Die Eingeweide der Stadt

Über Bücher, Bilder und Ausstellungen Von Peter Truschner
01.03.2023. Der European Month of Photography hat sich von seiner ursprünglichen Idee, viele dezentrale Orte in den Fokus zu nehmen, an denen Menschen im Sinne der Fotografie wirken, und nicht nur Museen und namhafte Institutionen, entfernt. Heute dominieren wieder etablierte Namen diese ursprünglich partizipatorische Unternehmung - gleichzeitig ist der Event inzwischen so großflächig angelegt, dass es immer noch eine Menge zu entdecken gibt. Ein Rundgang durch einige aktuelle Positionen der Fotografie in Berliner Galerien.
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Menschen, die zu den gesellschaftlichen Implikationen von Digitalität forschen wie Soshana Zuboff und Geert Lovink, haben schon vor einiger Zeit den endgültigen Triumph der Plattform als Organisationsstruktur wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Handelns über kleine, unabhängige Netzwerke festgestellt - nicht zuletzt im Internet.

In Zusammenhang mit dem entfesselten, globalen Güter- und Finanztransfer prägte Nick Smicek dafür den Begriff "Plattform-Kapitalismus", dessen geradezu universelle Akzeptanz Lovink in Bezug auf alternative Konzepte zum resignativen Schluss kommen lässt: Small is ugly. (Lovink war übrigens einer der Mentoren von "C/O Berlin Digital", das jetzt aufgrund "mangelnder Kapazitäten" wieder eingestellt wird).
 
Einen Zillertaler oder Allgäuer Almbewohner würde - gleichgültig, ob er in seiner Hütte Netz-Empfang hat oder nicht (in Österreich eher ja, in Deutschland eher nein) - die Tragweite dieser Entwicklung nicht hinter seinem warmen Ofen hervorlocken. Schließlich gelten auch im Silicon Valley oder in Singapur dieselben Bauernregeln wie im Gasthof "Zum lustigen Hirsch" in Akams, etwa "Der Teufel scheißt auf den größten Haufen".

Gedanken dieser Art gingen mir merkwürdiger Weise vor der Niederschrift dieses Beitrags im Kopf herum, obwohl der "Europäische Monat der Fotografie" - in seiner Berliner Spielart EMOP Berlin genannt - nun wirklich nicht der größte Haufen ist, ja, nicht einmal ein besonders großer. Aber er ging den Weg alles Irdischen im subventionierten Kulturbetrieb und hat sich von seiner ursprünglichen Idee, viele dezentrale Orte in den Fokus zu nehmen, an denen Menschen im Sinne der Fotografie wirken, und nicht nur Museen und namhafte Institutionen, entfernt. Heute dominieren natürlich wieder etablierte Namen diese ursprünglich partizipatorische Unternehmung - gleichzeitig ist der Event inzwischen so aufgeblasen und großflächig angelegt, dass es immer noch einiges zu entdecken gibt.

2021 habe ich im Fotolot meiner Verwunderung darüber Ausdruck verliehen, warum trotz des Hypes um die Fotografie in der DDR SammlerInnen und KuratorInnen der bedeutendsten Fotografin (m/w/d) der DDR, Gundula Schulze Eldowy, nicht die Tür ihres Ateliers einrennen (besonders unrühmlich in diesem Zusammenhang die Passivität der "Berlinischen Galerie" und der "Neuen Nationalgalerie"). Kurz darauf gab es ein ausführliches Porträt von Schulze Eldowy im "SZ-Magazin", eine Ausstellung in der Galerie Pankow - und der erste Dominostein war gefallen.

Unter den vielen Ausstellungs- und Buchprojekten, die jetzt bei Schulze-Eldowy anstehen, freut mich das bei "Johanna Breede Photokunst" im Rahmen des EMOP besonders. Nicht nur, weil ich die Ausstellung mit Schulze-Eldowy gemeinsam eröffnen und in ihr Werk einführen werde, sondern weil nach einer Ewigkeit wieder einmal Auszüge aus der aufgrund ihrer kompromisslosen  Darstellung von Sexualität und Geburt, Verfall und Tod wahrscheinlich intensivsten Fotoserie aus Berlin nach 1945 - "Berlin in einer Hundenacht" -  zu sehen sein werden. "Ich drang in die Eingeweide der Stadt vor und fotografierte sie", sagt die Künstlerin darüber.

Copyright: Gundula Schulze Eldowy





FotofreundInnen können auch in anderer Hinsicht aufatmen: Der Lehmstedt Verlag arbeitet (endlich) an einer Neuauflage des längst vergriffenen, gleichnamigen Buches.

Wer Fotografie dieser Art mag, wird beim EMOP mit adäquatem Stoff abgefüllt: In der BBA Gallery gibt's Jesper Juuls Serie "Six Degrees of Copenhagen", deren Direktheit in der Darstellung alter und nackter Körper an Schulze Eldowy, Bruce Gilden und Anders Petersen denken lässt. Alle drei weisen wiederum Verbindungen zu einem in Berlin wohlbekannten Altmeister der BnW-Straßenfotografie auf, Miron Zownir, dessen Fotos von Gestrandeten und Außenseitern die Pankower Brotfabrik zeigt.

Geht man in der Zeit noch weiter zurück, stößt man bei Chaussee 36 auf die experimentelle Fotografie von Heinz Hajek Halke. Der Titel "Über das Fotografische hinaus" geht auf Franz Rohs Beschreibung von Hajek Halkes Lichtgrafiken zurück, die bei der Arbeit mit lichtempfindlichem Material ohne Kamera in der Dunkelkammer entstehen.

Nicht nur Hajek Halkes Fotos, auch seine Biografie ist faszinierend. Nachdem er im Ersten Weltkrieg als Achtzehnjähriger einberufen wurde, arbeitete er früh mit Schnitt- und Lichtmontagen. Als ihn Goebbels Ministerium in den dreißiger Jahren zur Fälschung von Dokumentarfilmen verpflichten wollte, floh er bis nach Brasilien, und nutzte die Kenntnisse, die er sich dort auf einer Schlangenfarm erwarb, nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland für den Aufbau einer Kreuzotternfarm zur Herstellung von Schlangengift zu pharmazeutischen Zwecken.

Experimentelle Fotografie der Gegenwart gibt es an einem dafür bislang nicht gerade bekannten Ort: dem Willy-Brandt-Haus, mit zahlreichen Arbeiten des 1978 in Bonn geborenen Elias Wessel, der 2008 nach New York ging und seitdem dort lebt - eine Tatsache, die es ihm erschwert, in der deutschen Fotoszene Fuß zu fassen (was ich, der ich nicht nur zwischen Städten, sondern auch Künsten pendele, gut nachempfinden kann).

Copyright: Elias Wessel


Das Herz der Ausstellung bildet für mich dabei die Serie "Die Summe meiner Daten" (2017/18), bei der Wessel die Displays von Smartphones samt menschlichen Wischspuren abfotografiert, Details daraus zu über zwei Meter großen Hochformaten aufbläst, dass sie zu großartigen, abstrakten Fotogemälden werden, in denen sozialer und künstlerischer Gebrauch von Medien verschmelzen (im Gegensatz zu dem von mir in Fotolot kürzlich beschriebenen Ansatz Tabitha Sorens, bei der die Bilder und Informationen im Hintergrund wesentlich zum Bild gehören).

Zu Wessel gesellen sich im Willy-Brandt-Haus noch zwei junge deutsche FotografInnen, die seit einiger Zeit von sich reden machen. Beide zeigen ihre "Paradearbeiten": Sebastian Klug seine Gebilde aus zugeschnittenen Bildstreifen, Antonia Gruber ihre von unzähligen Polaroids geformte Foto-Wand.

Dokumentarfotografie, dazu junge, die sich der Gegenwart widmet, gibt es mehr als genug. Ein echter Star dieser Szene ist die 1994 geborenen Johanna Maria Fritz, die regelmäßig für bedeutende Medien wie Spiegel  und Le Monde arbeitet und bereits mehrere Preise für ihre Arbeit bekommen hat. Mit ihren dreizehntausend Followern auf Instagram kann man Fritz ruhig als Role Model bezeichnen, das sich nicht scheut, in Krisengebiete zu reisen - ob Afghanistan oder die Ukraine - und fotografisch (dabei jedoch nicht reißerisch) den Finger auf Wunden zu legen.

In der ARTCO Galerie gibt es nun die Gelegenheit, sich einen Überblick über das Ouevre dieser produktiven, nomadischen Fotografin zu verschaffen. Und es mit anderen dokumentarischen Ansätzen zu vergleichen, etwa mit Patricia Morosans "Remember Europe" in der Galerie Franzkowiak.

In der Villa Heike gibt's Cai Dongdongs intellektuell wie visuell hochinteressante, nichtsdestoweniger kurzweilige Hinterfragung und Bearbeitung vorgefundener Motive, meist aus der Zeit der chinesischen Kulturrevolution. Unbedingt sehenswert.

Ob dokumentarisch oder experimentell: Polish Photography Rules! Nach der großartigen Überblicksausstellung in der Zitadelle Spandau gibt es nun  bei C/O Berlin die mit dem Talent Award ausgezeichnete, anarchische Arbeit (samt begehbarer Installation) zum polnischen Schulalltag von Karolina Wojtas.

Ein visueller Knaller eigener Art ist die neue Arbeit "Fressen" von Katarzyna Kozyra bei Persons Projects, die Fotos und Videos einer Performance beinhaltet, die 2021 im Warschauer "Teatr Powszechny" über die Bühne ging und eine Paraphrase auf die "Landshuter Hochzeit" von 1475 zum Thema hat, die Verheiratung eines bayrischen Herzogssohns mit einer polnischen Königstocher - Kozyra und ihr mitspielendes Publikum geben alles.

Aus der Performance von Katarzyna Kozyra,





Zum EMOP gibt es eine Parallelveranstaltung, die ein besonders "kreativer" Kopf "Monat der Fotografie Off Berlin" genannt hat.. Naja, auf jeden Fall gibt es auch da Interessantes.

Bei NÜÜD sieht man Bilder, die überwiegend mit einem von der Nasa und Google für die Marsmission entwickelten Kameraroboter erstellt wurden.

Im Atelier von Katrin Jaquet schließlich stößt man unter anderem auf Bilder von Anja Engelke, die 2020 den Vonovia-Award bekam, und Anastasia Mityukova, die gerade eine Einzelausstellung im Centre de la Photographie in Genf hat.

Das von Marion Lübke-Tiedow verantwortete, kuratorische Rahmenprogramm ist schnell zusammengefasst: Staatsministerin Claudia Roth beglückt den EMOP mit einer Keynote, Nan Goldin kriegt einen Preis, Florian Ebner unterhält sich mit Ute Mahler, wo Ebner ist, ist auch Kumpel Tobias Zielony nicht weit, und Beate Gütschow und Esther Ruelfs erörtern die Frage: Fotografie als Komplizin oder Mitverursacherin? (es geht um Klimawandel und Nachhaltigkeit, was sonst).

Peter Truschner
truschner.fotolot@perlentaucher.de