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Luxus, Moral und Absolution

Über Bücher, Bilder und Ausstellungen Von Peter Truschner
11.07.2019. Die Idee des Werks und erst recht die eines Oeuvres, die über Jahrhunderte hinweg zentral war, verliert heute auffallend an Relevanz. Entstanden ist statt dessen - neben der Kunst für den Markt, der immer neue Rekorde feiert - eine Kuratorenkunst, in der sich die Künstler und Künstlerinnen einem strengen Regime unterwerfen müssen. Aber dann wird die Kunst wieder abgebaut und verschwindet. Der Kunsthistoriker Wolfgang Ullrich im Gespräch.
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In einem ausführlichen Sommergespräch unterhielt sich Fotolot mit dem Kunsthistoriker Wolfgang Ullrich über auch für die Fotografie relevante Tendenzen der Gegenwartskunst: die Legitimitätskrise der autonomen Kunst, die Kunst als Oberschichtsveranstaltung und moderner Ablasshandel sowie ihre Funktion als Feigenblatt der Mächtigen.

Peter Truschner (Fotolot): In ihren letzten Texten haben Sie die Aufspaltung der Kunstszene in Marktkunst, Kuratorenkunst und autonome Kunst beschrieben. Wodurch unterscheiden sie sich?

Wolfgang Ullrich: Generell interessiert mich zur Zeit die Krise, in die die Idee von der Autonomie der Kunst geraten ist. Es scheint so, dass Formen von Kunst, die in Reaktion auf Ansprüche von außerhalb und damit gerade nicht autonom entstehen, mehr Aufmerksamkeit bekommen als Werke, die einfach 'nur' Kunst sein wollen. Bei der Marktkunst definieren Galerien, Sammler*innen und Kunsthändler*innen den Raum, in dem etwas Erfolg haben kann. Während diese Marktsituation grundsätzlich nichts Neues und in den letzten Jahrzehnten höchstens fordernder geworden ist, ist der zweite Typ von Reaktionspflicht für Künstler*innen relativ neu: Sie haben sich auf die formalen und thematischen Vorstellungen von Kurator*innen einzustellen. Die Anzahl kuratierter Events wie Biennalen ist sprunghaft gestiegen. Künstler*innen müssen die Spielregeln und Codes - und nicht zuletzt die Kurator*innen selbst - kennen, um zu reüssieren.

Truschner: Zu den angesprochenen Codes gehört auch das Wissen um die zeitrelevanten Diskurse - das Feld, auf dem sich Kurator*innen zu exponieren versuchen. Aktuell wären das etwa Feminismus, Postkolonialismus oder Diversität. Da alle dasselbe Feld bespielen, wird man mit Ausstellungen, Katalogen und Beiträgen in den Medien zu diesen Themen förmlich überschwemmt.

Ullrich: Klar gibt es hier Moden, das ist wohl unvermeidbar, und sofern sich das Geschehen der Kunst an den Debatten und Themen der Massenmedien und Feuilletons orientiert, liefert es weniger ein Kontrastprogramm als eine Fortsetzung dessen, was ohnehin schon dominant ist. Das muss per se nicht schlecht sein, alles hängt davon ab, dass die Kunst genügend eigene Akzente setzen, neue Sichtweisen ausprägen kann. Und nicht im rein Symbolischen und Redundanten verbleibt. Letzteres wird jedoch dadurch begünstigt, dass viele Arbeiten für Biennalen und andere Kunst-Events temporär und installativ sind: Man baut etwas auf - und nach dem Event wird alles wieder zerlegt und verschwindet. Klar, dass das dann formal oft nicht so sorgfältig durchgearbeitet ist wie bei einer Arbeit, mit der ausdrücklich ein Werkanspruch, ein Anspruch auf Dauer verfolgt wird.

Truschner: Wie wirken sich diese Verhältnisse auf den Begriff aus, den man sich von der Kunst und vom Kunstwerk macht?

Ullrich: Die Idee des Werks und erst recht die eines Oeuvres, die über Jahrhunderte hinweg zentral war, verliert heute auffallend an Relevanz. Der Anspruch auf ein Oeuvre - also auf ein Gesamtwerk - setzt ja voraus, dass man das eigene Werk in seiner individuellen Chronologie wahrnimmt, verbunden mit einer Idee von Entwicklung, Fortschritt und temporären Brüchen. Da Kunst jedoch heute so oft als Reaktion auf etwas entsteht, das situativ ist und von außen kommt, ja von Kurator*innen, themenbezogenen Events oder von Ausschreibungen und Jurys beeinflusst ist, verschwindet unmerklich die Idee einer werkspezifischen Entwicklungslogik.

Truschner: Da der Werkbegriff eng mit dem Autonomiebegriff zusammenhängt, könnte man sagen: die Schwäche des Werkbegriffs korrespondiert der aktuellen Schwäche des Autonomiebegriffs.

Ullrich: Ja, klar. Dabei kann man noch differenzieren. Die klassische autonome Kunst, die weder am Markt noch im kuratierten Bereich richtig zu Hause ist, hat tendenziell eher am freien Markt eine Chance als bei Kurator*innen.

Truschner: Auf dem Markt herrscht eine größere Freiheit?

Ullrich: In gewisser Weise. Einst als Befreiung von der Profitorientierung des Kunstmarkts konzipiert, herrscht heute im Bereich der kuratierten Kunst ein strengeres Regime. Und überraschend viele Künstler*innen lassen sich darauf ein, ohne allzu laut darüber zu klagen. Auch das ein Indiz für mich, dass es keinen so großen Glauben an die Stärke und Aussagekraft des eigenständigen künstlerischen Werkes mehr gibt.

Truschner: Man hat ja Künstler*innen partiell zugestanden, sich nicht durchgängig an herrschende Konventionen halten zu müssen. Die daraus hervorgehende, teilweise zum Klischee gewordene Idee der Kunstfreiheit konstruiert einen künstlerischen Schaffensprozess, der ohne Rücksichtnahme auf soziale oder politische Standards vonstatten zu gehen hat.

Michael Wesely auf Schloss Kummerow. Foto: Peter Truschner


Ullrich: Das scheint mir fürs Erste vorbei zu sein. Aber wie Sie andeuten: Das braucht man nicht nur als einen Niedergang und Verlust zu beschreiben, vielmehr waren Künstler in der Moderne ja oft auch in solchen Klischees von Freiheit, Expressivität, Schaffensrausch gefangen, die von ihnen in Umlauf waren und auf die sie reduziert wurden. Und Künstlerinnen waren gar nicht erst vorgesehen. Die zum Imperativ gewordene Autonomie war also auch keine, wie es ja generell die Geschichte dieser Idee kennzeichnet, dass sie sich immer selbst dementiert hat, wenn sie zu prononciert formuliert wurde.

Truschner: Inwieweit spielen bei dem Schwund von Autonomie und Werkbewusstsein auch die Social Media und der zwischen Verheißung und Zwang changierende Prozess allgemeiner Vernetzung eine Rolle?

Ullrich: Indem Medien zu Sozialen Medien geworden sind, ist es wichtig, immer schon in Sender-Empfänger-Strukturen eingebunden und nicht nur Sender oder Empfänger zu sein.  Vernetzt zu sein, ist alles. Man definiert sich darüber, wie viele Kontakte und vor allem welche Referenzen man innerhalb der Netzwerke ansammelt, innerhalb derer man sich bewegt. Auch hier spielt das Reagieren eine große Rolle: schnell und situativ.

Truschner: Diese Vernetzung war vor der digitalen Revolution so nicht vorhanden und hat sich, wenn man geschickt war, bestenfalls über die Jahre ergeben. Künstler*innen haben im Vergleich zu heute relativ abgeschieden an sich und an ihrem Werk gearbeitet. Was auch bedeutete, dass man weniger Rücksicht auf Umstände nehmen musste, die - falls überhaupt - von außen herangetragen wurden.

Richard Mosse auf Schloss Kummerow. Foto: Peter Truschner
Ullrich: "Role Models" für junge Künstler*nnen sind heute nicht mehr van Gogh oder Picasso, sondern jemand wie Olafur Eliasson, der immer nah dran ist an dem, was in den Medien und im Betrieb, auf dem Markt und bei Kurator*innen verhandelt wird, und dem es zudem gelingt, sein Werk dahingehend zu gestalten. Eliasson ist bestens vernetzt, offen und kann mit einer postkolonial bewegten Kuratorin ebenso smart umgehen wie mit einem milliardenschweren Oligarchen.

Truschner: So jemand hätte man früher schlicht einen Opportunisten genannt. Georg Seeßlen hat in seinem Buch "Geld frisst Kunst" in Bezug auf Künstler wie Eliasson geschrieben: "Nie haben Künstler*innen in einer Gesellschaft so viel Frei- und Spielräume gehabt wie in unserer, und noch nie haben sie als Berufsstand ein so jämmerliches Bild abgegeben." Man darf gespannt sein, wie das Urteil der Nachwelt über diese Künstlerspezies aussieht.

Ullrich: Seeßlen argumentiert aber eindeutig vom Standpunkt der autonomen Kunst aus, was heutzutage eher eine Außenseiterposition darstellt und mir auch zu einseitig erscheint. Vielleicht muss man lernen, Künstler*innen ausdrücklich nach den Standards derer zu beurteilen, denen Sie sich jeweils annähern. Und ein Eliasson befindet sich dann zwischen einer NGO-Aktivistin und einem Oligarchen in einer guten Position. Andere begeben sich vorsätzlich auf das Terrain der Mode oder des Luxus, wieder andere adaptieren Methoden des investigativen Journalismus.

Truschner: Der Autonomiebegriff steht aber doch auch deshalb unter Verdacht, weil er Momente einschließt, die den gängigen Standards zuwiderlaufen: Ambivalenz. Sex. Grenzüberschreitung. Generell Möglichkeitsformen großer Intensität, die prinzipiell unwägbar sind und sich der Kontrolle entziehen. Die autonome Kunst hat somit das Potenzial, das ureigene Streben nach Anerkennung, Souveränität und Erfolg zu sabotieren.

Ulrich Wüst auf Schloss Kummerow. Foto: Peter Truschner


Ullrich: Ja, diese Ambivalenz, von der Sie sprechen, stellt alle vor große Herausforderungen. Viele wollen sie weder sich noch anderen zumuten. Letztes Jahr gab es etwa im Münchner Haus der Kunst in einer Ausstellung über Jörg Immendorff Warnhinweise vor allen Bildern, auf denen irgendwo ein Hakenkreuz zu sehen ist. Obwohl Immendorff der letzte sein dürfte, den man in eine Nähe zu Nazis rücken könnte, schienen die Verantwortlichen es als notwendig zu erachten, eigens darauf hinzuweisen, dass die Hakenkreuze nicht affirmativ gemeint sind. Also, auch nur der Anschein von Ambivalenz gilt oft schon als zu riskant.

Truschner: Wer will schon im nicht zuletzt von der Angst vor Wohlstandsverlust angetrieben Europa riskieren, sich durch so etwas unnötig um Anerkennung und Erfolg zu bringen?

Ullrich: Je mehr die Kunst von vornherein in sozialen Zusammenhängen entsteht, desto mehr gelten für sie selbstverständlich auch die oft unausgesprochenen Regeln von Höflichkeit und Rücksichtnahme. Das führt dann dazu, dass umgekehrt autonome Kunst sogar in den Verdacht geraten kann, gerade wegen ihrer Unabhängigkeit zu wenig sensibel zu sein für gesellschaftliche Verhältnisse, soziale Probleme oder für Minderheiten. Sie gilt dann als Produkt von Leuten, die privilegiert genug sind, um es sich leisten zu können, all das auszublenden.

Truschner: Die Selbstverständlichkeit, sich quasi Aktivistenstatus zu verleihen und Kunst wie eine Außenstelle von Human Rights Watch zu betreiben, erscheint mir gerade in unseren Breitengraden - anders als in Teheran oder Peking - skurril. Abkömmlinge der Mittel- und Oberschicht, in Sicherheit und Wohlstand groß geworden, die bisher kein Risiko in Bezug auf die Ausübung von Kunst erfahren mussten, sondern dabei im Gegensatz meist finanziell und ideell unterstützt wurden, würden sich am liebsten als Kunst-NGO im Stil von Forensic Architecture inszenieren - ohne natürlich deshalb die wohlständigen Verhältnisse entbehren zu müssen.

Ullrich: Sie sehen also heute gerade die politische Kunst ihrerseits vor allem als eine Blase Privilegierter an? Was die Frage anschließt, ob bildende Kunst nicht immer schon überproportional häufig von Leuten aus der ökonomischen Oberschicht gemacht wurde. Hier könnte rückwirken, dass bildende Kunst anders als etwa Literatur aufgrund der Tatsache, dass es meist um Unikate und um materielle Objekte geht, eine starke Disposition dazu hat, etwas für Reiche zu sein. Doch sind diese dann eben vielleicht nicht nur das erste Publikum, sondern aus ihren Kreisen stammen auch vermehrt die Künstler*innen, allein, weil die Auseinandersetzung mit Kunst hier bereits selbstverständlicher Teil der Sozialisierung ist.

Truschner: Selbst aus materiell bescheidenen Verhältnissen stammend, habe ich mich schon an der Uni gewundert, wie selbstverständlich gerade die Kinder von Besserverdienern für sich in Anspruch nehmen, für die Armen und Entrechteten dieser Welt zu sprechen, deren Lebensumstände sie meist nur aus den Medien kennen. Vielleicht handelt es dabei um eine Reaktion darauf, in welchen Verhältnissen man selbst lebt im Gegensatz dazu, unter welchen Umständen viele Menschen auf der Welt zu leben haben. Die schambesetzte Erkenntnis, dass man ein/e Profiteur/in ist. Die Kunst bietet dann eine Art von Katharsis oder säkularem Ablasshandel, eine Möglichkeit, Buße zu tun. Wenn jemand wie Ai Weiwei in Düsseldorf staatstragend in Szene gesetzt wird, bekommt die Kunst wieder zeremoniellen Charakter wie bei den Griechen und Römern, wird zu einem gesellschaftlichen Ritual. Indem man zu Weiwei pilgert, der sendungsbewusst glaubt, eine Art Wiedergutmachung zu leisten, indem er die von Flüchtlingen in griechischen Lagern zurückgelassenen Kleidungsstücke sammelt und ausstellt, erhält man eine Art von Absolution wie früher, als man die griechischen Mysterien als Kollektiv durchlitten hatte oder zur Beichte gegangen war. Gestützt wird die Kunst als Ablasshandlung durch den Narzissmus im Hochkapitalismus, bei dem im Zeichen der Selbstoptimierung nicht zuletzt in den Sozialen Medien möglichst nur Gutes, Unverfängliches und moralisch Einwandfreies über eine Person im Umlauf sein soll.

Ullrich: Man könnte sagen, dass das Kunstsystem in seiner Logik ziemlich katholisch ist. Die Reichen können dort alles kaufen, nicht nur Luxus, sondern genauso Moral und Absolution. Das erklärt natürlich auch, warum die bildende Kunst immer wieder besonders starke Ressentiments auf sich zieht - und heute sogar noch mehr als zur Blütezeit der Autonomie. Denn erst jetzt gelangen die Möglichkeiten, sich mit Kunst rundum zu versorgen und auch politische und moralische Bedürfnisse damit zu befriedigen, voll zur Entfaltung.

Truschner: Auch wenn die Politik seit den neunziger unverhohlen den Reichen und den Konzernen zuarbeitet, die Kluft zwischen Arm und Reich größer wird, greift es mir zu kurz, alles an 'den Reichen' festzumachen. Im von öffentlicher Hand mit Steuergeld finanzierten Kulturbetrieb gibt es ähnliche Verzerrungen zu bestaunen. Während man in NRW mit der Weiwei-Ausstellung die eigene, moralische Integrität abfeiert, verkaufen NRW-Unternehmen gleichzeitig Waffen nach Saudi Arabien oder fusionieren mit Unternehmen wie Monsanto. Von der Kooperation arabischer Potentaten mit der Tate oder dem Louvre ganz zu schweigen.

Das erinnert mich stark an die traditionelle Feigenblatt-Funktion der Kunst: Während der Fürst in den Prunkräumen seines Schlosses stolz seinen neuen Bellini oder Tizian vorführt, werden im Verließ gerade politische Gegner malträtiert.

Ullrich: Gut, dann machen Sie's zwar offenbar nicht an "den Reichen", dafür jedoch an "den Mächtigen" fest - letztlich kein so großer Unterschied. Zu beiden Gruppen hat die bildende Kunst ein grundsätzlich besseres Verhältnis, als man vor allem in der Moderne und erst recht heutzutage oft zugeben will. Und je mehr es aktuell wieder statt um Autonomie um Repräsentation, um Disktinktionsgewinne und um Feigenblatt-Funktionen geht, desto sichtbarer wird das auch.

Peter Truschner
truschner.fotolot@perlentaucher.de

Das Gespräch mit Wolfgang Ullrich fand Anfang Juni statt, noch bevor Ullrich von Neo Rauch in der "Zeit" als "Anbräuner" verunglimpft wurde.

Zu den Fotos: Ende Juni wurde Fotolot von Aileen Kunert eingeladen, die extensive Fotokunstsammlung ihres Vaters Torsten auf Schloss Kummerow zu besichtigen. Die Sammlung enthält Werke von Marina Abramović, Nobuyoshi Araki, Andreas Gursky, Helmut Newton, Richard Mosse, Wolfgang Tillmanns, Bettina Rheims, Thomas Demand, Michael Wesely, Sybille Bergemann und anderen. Bis zum 25. August gibt es aktuell zudem noch die Sonderausstellung "Flachland" von Ulrich Wüst zu sehen.
Das Foto von Wolfgang Ullrich im Teaser entnahmen wir seinem Blog Ideenfreiheit.
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