Im Kino
Das Ding aus einer anderen Welt
Die Filmkolumne. Von Ekkehard Knörer
16.05.2008. Eigentlich sind Filmfestivals in hässlichen Städten vorzuziehen: Da kann man sich ganz auf das Geschehen auf der Leinwand konzentrieren. Aber manchmal hat man Pech und wird zu einem hoch spannenden Festival wie "Indielisboa" in der wunderschönen Stadt Lissabon eingeladen. Schon marschiert man mit Sylvie Testud über die Schlachtfelder des Ersten Weltkriegs.![](https://www.perlentaucher.de/cdata/K3/T73/A4650/indielisboa.gif)
Es muss also, wer das mit fünf Jahren noch sehr junge, aber verdammt ehrgeizige und darum zu allem Überfluss wirklich hoch spannende Festival Indielisboa besucht, Kompromisse schließen. Zwischen dem Cineasten und dem Touristen in sich. Da ist es von Vorteil, dass man sich durch die Stadt zu bewegen gezwungen ist, um vom einen, etwas außerhalb der Innenstadt gelegenen Zentrum des Festivals ins andere Zentrum zu gelangen, zum sehr prächtigen Art-Deco-Kino Sao Jorge (mit einer sehenswerten Art-Deco-Männertoilette), das an der Avenida de Libertade liegt, einem gleichfalls prächtigen Boulevard unweit der Baixa. Man nimmt den vom Festival zur Verfügung gestellten Shuttle Bus oder die Metro oder man geht zu Fuß, vorbei an den plumpen Monstern der Postmoderne. Um dann wieder wehmütigen Herzens im Kino zu sitzen, während draußen immerzu allerschönster Frühling in Lissabon ist.
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So entsteht eine ungeheuer dichte Textur - Guerin selbst meint im Podiumsgespräch während des Festivals nicht ganz zu Unrecht: Wir wollten damals zu viel. Und es ist wahr: Man kommt kaum hinterher mit der eigenen Wahrnehmung der fremden Wahrnehmung des längst Vergangenen. "Innisfree" sucht nicht die Konzentration, sondern die Abschweifung. Er überlässt sich auch einmal minutenlang den Kneipengesprächen der Männer, die mit John Ford nichts zu tun haben. Es gibt Szenen, in denen Guerin einer jungen Frau und einem Jungen folgt auf ihrem Weg durch das Dorf und darüber hinaus. Der Film macht - unerschrocken eine Schicht auf die andere lagernd - Abwesendes anwesend, schenkt aber auch dem Anwesenden, der Gegenwart seine ganze Aufmerksamkeit. Beides hat hier Gewicht, das Vergangene und das Heutige, aber auch die Erinnerung und eine Zukunft, die sich vom Vergangenen notwendig löst.
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Das Verblüffende und ganz und gar Ungewöhnliche an Guerins Dokumentationen ist, dass sie mit der üblichen Doku-Ästhetik der möglichst unbemerkten Fly-on-the-Wall-Zurückhaltung so wenig zu schaffen haben wie selbstreflexivem Ins-Bild-Rücken des Beobachters. Mit voller Absicht stellt Guerin, der oft mehrere Kameras einsetzt, dagegen auf spielfilmartige Einstellungs- und Perspektivwechsel in einzelnen Szenen, er schneidet schnell und montiert Töne und Bilder kontrastiv gegeneinander. Es ist deshalb konstitutiv unklar, was hier reine Dokumentation ist, was Inszenierung oder jedenfalls durch die Kameraanwesenheit provoziertes "unnatürliches" Verhalten.
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Pianola spielt Bach: Pere Portabellas "Die Stille vor Bach"
Produzent von "Tren de Sombras" war der 1929 geborene Katalane Pere Portabella, eine leider noch immer ziemlich unberühmte spanische Experimentalfilm-Legende. Sein vielleicht irrstes Werk ist der Vampirfilm "Cuadecuc" (1970), der nicht nur von einem Vampir erzählt, sondern selbst ziemlich vampirisch ist, da er sich vollständig bei einem anderen Film bedient. Was man sieht in "Cuadecuc", sind Bilder, die Portabella während der Dreharbeiten zu Jess Francos trashigem Vampirfilm "Dracula" (mit Christopher Lee in der Hauptrolle) aufgenommen hat - und dann zu einem ganz anderen Film montierte. In Lissabon war nun Portabellas jüngstes Werk "Die Stille vor Bach" (2007) zu sehen, eine sehr eigentümliche Annäherung an den Komponisten. Dessen Musik und dessen Leben stehen im Zentrum des Films, der mit einem konventionellen Biopic aber herzlich wenig zu tun hat.
Stattdessen sieht man: eine Kamera, die über den Boden eines leeren Museums schleicht und auf ein Pianola stößt, das sich dann in Bewegung setzt, während es Bachs "Kunst der Fuge" selbsttätig spielt; einen U-Bahn-Waggon voller Cellistinnen und Cellisten, die Bach spielen, während sich die Kamera im schmalen Gang, den die Instrumente ihr lassen, erst rückwärts, dann wieder vorwärts windet; Spielszenen, in denen man etwas über Bachs Biografie erfährt; Musikszenen mit einem Bach-Darsteller an der Orgel; aber auch gemäldeartige Tableaus, etwa von einer Marktszene, die nur insofern mit Bach zu tun hat, als hier die Legende nachgespielt wird, derzufolge Bach von Felix Mendelssohn wiederentdeckt wurde - weil ein Bediensteter Notenpapier mit Bachwerken zufällig zum Einwickeln seiner Markteinkäufe verwendete. Mal sind diese Szenen bizarr, mal sind sie bezwingend, mal scheinen sie schulfernsehnah, mal einfach nur prätentiös - eine höchst eigenständige und eigenwillige Annäherung an den Komponisten und sein Werk ist "Die Stille vor Bach" aber allemal. (Trailer)
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Julie-Marie Parmentier als Charly, Kolia Litscher als Nicholas in Isild Le Bescos "Charly" (© Tamasa Distribution)
Zwei weitere Höhepunkte des Festivals, das daneben auch noch eine höchsten Ansprüchen genügende Reihe mit jüngeren rumänischen Filmen und eine kleine Johnnie-To-Retrospektive zu bieten hatte, kamen aus Frankreich. Die Schauspielerin Isild Le Besco (zuletzt zu sehen in "Pas Douce") hatte schon mit dem einstündigen "Demi tarif" (2003, da war sie einundzwanzig) ein faszinierend stilsicheres Regiedebüt vorgelegt. Mit dem minimalistischen "Charly", ihrem ersten wirklichen Langfilm, enttäuscht sie nicht. Erst ist man irritiert, denn von Charly ist die erste halbe Stunde überhaupt nichts zu sehen. Erzählt wird nämlich zunächst die Geschichte des vierzehnjährigen Nicholas, eines antriebslosen, von seinen Mitschülern gemobbten Teenagers, der bei seinen Großeltern lebt und eines Tages reißaus nimmt.
Zufällig begegnet er dann in einem Dorf der gleichaltrigen Charly, die ihn in ihren winzigen Wohnwagen mitnimmt. Sie arbeitet, stellt sich heraus, als Prostituierte, hat einen ziemlichen Ordnungsfimmel und kommandiert ihren Mitbewohner Nicholas ständig herum. Es kommt zur Annäherung zwischen den beiden, aber nur in winzigen Schritten - und einmal in einem großen aufregenden Sprung, als sie Zeilen aus Frank Wedekinds "Frühlings Erwachen" miteinander proben; das Buch ist der einzige Gegenstand, den Nicholas bei sich trägt. Beide sind sie Gefangene ihrer selbst und in gewisser Weise bleiben sie es; jedenfalls denkt Le Besco nicht daran, ihnen einfach so die Freiheit zu schenken, die man sich als Zuschauer für sie ersehnt. "Charly" ist emotional und erzählerisch auf Millimeterpapier gearbeitet; die Souveränität, mit der die Regisseurin konsequent auf der Sprödigkeit ihrer Figuren beharrt, ist wirklich atemberaubend.
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Männer im Krieg: Serge Bozons "La France"
Und dann war da noch ein Ding aus einer anderen Welt. Ganz unbescheiden nennt der auch noch recht junge französische Schauspieler und Regisseur Serge Bozon (Jahrgang 1972) seinen zweiten Langfilm: "La France". Er schickt darin Sylvie Testud als Camille in den Ersten Weltkrieg, auf der Suche nach ihrem Ehemann (Guillaume Depardieu), der ihr einen lapidaren Abschiedsbrief von der Front schickt. Sie werde, heißt es darin, ihn nie wieder sehen. Sie findet sich damit entschieden nicht ab. In Männerkleidern zieht sie los, trifft auf einen versprengten Soldatentrupp und lässt sich nicht abschütteln. Dieser Trupp, das zeigt sich bald, ist eine Gruppe von Deserteuren. Diesen Männern und der Figur der Camille als Mann unter ihnen folgt im wesentlichen der Film.
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(Hier ein auf Englisch geführtes Interview mit Serge Bozon bei Youtube, hier der Trailer von "La France" und hier die Filmwebsite)
Anmerkung: Der Autor war auf Einladung des Festivals Indielisboa, das die Hotelkosten übernahm, in Lissabon.