Essay

Wo der Hammer hängt

Von Thierry Chervel
04.03.2021. Laut Aleida Assmann, den versammelten deutschen KulturfunktionärInnen und über tausend zustimmenden KünstlerInnen kann man entweder einen richtigen oder einen falschen Antisemitismusbegriff haben. Wer letzteren verwendet, ist "rechts", weil er "Unterdrückungserzählungen monoploisieren" will. Krasser wurde der Holocaust seit Ernst Nolte nicht relativiert. Aber zum Trost hat diese Schule noch ein "Sowohl als auch" parat: BDS zum Beispiel ist sowohl falsch als auch richtig. Ein Paradigmenwechel, und wie er zu Politik wird.
"Shoa und der Holocaust: Wer erbt die Autorität der Überlebenden", fragte Aleida Assmann in ihrem FR-Artikel zum Holocaustgedenktag. Verleiht ein Verbrechen seinen Opfern Autorität? Und ist diese Autorität etwas, das jemand in der Nachfolge der Opfer für sich reklamieren kann? Die Frage ist Assmann jedenfalls ein Anliegen, und sie verbindet sie an jenem Gedenktag mit einem zweiten Anliegen, das ihr noch wichtiger ist, denn darüber hat sie schon häufiger geschrieben: Es gibt für Assmann einen falschen und einen richtigen Antisemitismusbegriff, und es ist ihr sehr wichtig, dass ausschließlich diejenigen die Autorität der Überlebenden erben, die auch den richtigen Antisemitismusbegriff haben. Denn der Begriff des Antisemitismus wird laut Assmann missbraucht, wenn man ihn auch auf bestimmte Formen der Israelkritik anwendet: "Problematisch ist diese Verschiebung des Begriffs vor allem deshalb, weil denen, die ihn forcieren, das Schmieden rechter politischer Allianzen offensichtlich mehr bedeutet als der gerade jetzt so wichtige gemeinsame Kampf gegen Antisemitismus", so Assmann in der FR.

Hier ist sich Assmann einig mit einer ganzen Reihe höchster deutscher Kulturfunktionäre, denen im Namen der Weltoffenheit daran liegt, Israelboykotteure einladen zu dürfen - formuliert haben sie ihr Anliegen im "Plädoyer" der "Initiative GG 5.3 Weltoffenheit" (hier als pdf-Dokument).

Worin unterscheiden sich die beiden Antisemitismusbegriffe genauer?

Der "richtige" Antisemitismusbegriff ist schnell umrissen. Er wendet sich gegen "die Verbreitung des Gifts des Antisemitismus in rechten Gruppierungen und im Internet", schreibt Assmann in ihrem großen Merkur-Artikel zur Mbembe-Debatte. Dieser rechte Antisemitismus nimmt laut Assmann "weiter zu und erfordert ein entschlossenes Handeln der Ordnungskräfte, klare Positionen der Politiker, aber auch die Wachsamkeit der gesamten Zivilgesellschaft". Zu den Verbrechen dieses Antisemitismus gehören der Anschlag auf die Synagoge von Halle oder der Anschlag auf die Synagoge von Pittsburgh.

Der neue und für Assmann falsche Antisemitismusbegriff aber hat, wie sie im Merkur klagt, "das politische Klima in Deutschland merklich verschärft". Geprägt wurde dieser Begriff von einer ganzen Reihe demokratischer Staaten. Es handelt sich um die Antisemitismus-Definition der "International Holocaust Remembrance Alliance" (IHRA), die auch einer Selbstverpflichtung gleichkommt. Sie schließt israelbezogenen Antisemitismus ein: "Erscheinungsformen von Antisemitismus können sich auch gegen den Staat Israel, der dabei als jüdisches Kollektiv verstanden wird, richten. Allerdings kann Kritik an Israel, die mit der an anderen Ländern vergleichbar ist, nicht als antisemitisch betrachtet werden", heißt es da. Diese IHRA-Definition ist für Assmann an sich schon Auslöser einer sich verschärfenden Diskussion und hat "einen Prozess eingeleitet, dessen Ende noch nicht abzusehen ist".

Noch deutlicher wird das laut Assmann durch neuere Versionen der IHRA-Definition, in denen der Satz, dass "Kritik an Israel, die mit der an anderen Ländern vergleichbar ist, nicht als antisemitisch betrachtet werden kann", weggelassen wird. Assmann nennt diese Veränderung zwar selbst nur "minimal". Aber allein durch die Weglassung des Satzes wurde die IHRA-Definition laut Assmann "im Handumdrehen zu einem Instrument politischer Intervention und Repression".

Nun könnte man natürlich auch fragen, wo eigentlich das Problem liegen soll, wenn in einer Definition - die ihrem Wesen nach am besten funktioniert, wenn sie sich auf die Essenz ihres Gegenstands konzentriert - ein Element weggelassen wird, das schlechterdings überflüssig ist: Dass "Kritik an Israel, die mit der an anderen Ländern vergleichbar ist, nicht als antisemitisch betrachtet werden" kann, ist doch selbstverständlich: Gehört es also in eine Definition?

Zu fragen ist also, warum Assmann aus diesem Detail einen solchen Casus konstruiert. Assmann behauptet, dass diese Weglassung jüdischen Studenten und ehrbaren Professorinnen die Kritik an Israel unmöglich macht. Auf der anderen Seite hätten "aktuelle Kritiker und Meinungspolizisten", so Assmann, den minimalen Spalt, der sich da auftat, genutzt, um ihre skrupellose Agenda zu verfolgen und "rechte Allianzen" zu schmieden.

Nun kann man Assmann natürlich zugestehen, dass sie und die protestierenden IntendantInnen eine Minderheit sind, aber sind sie eine verfolgte? Nicht die paar publizistischen Gegenstimmen sind die Meinungspolizei. Man muss die Perspektive schon umdrehen, damit sie einen Sinn ergibt: Die von Assmann beratenen KulturfunktionärInnen sind es, die hier zeigen, wo der Hammer hängt. Sie sind die Minderheit, die das Geld hat, die Posten vergibt und entscheidet, wer eingeladen wird.


Der Coup gegen die Souveränin 

Sie rufen mal eben die Volksvertreter auf, ihre Meinung zu ändern. Der Bundestag - müssen wir daran erinnern: das ist nicht der Staat und nicht der Chef, sondern die Repräsentanz der Souveränin - hatte sich in der BDS-Resolution feierlich geschworen, gegen Antisemitismus einzustehen und spricht sich dagegen aus, Organisationen, die den Boykott Israels durchsetzen wollen, Räume zu überlassen. Und die Leiter der Berliner Festspiele, des Berliner Künstlerprogramms des DAAD, des Deutschen Theaters Berlin, des Goethe-Instituts, des Hauses der Kulturen der Welt, der Kulturstiftung des Bundes, der Stiftung Humboldt Forum im Berliner Schloss, des Wissenschaftskollegs zu Berlin und kleinerer Institutionen fordern sie auf, diese Erklärung zu revidieren, und zwar subito. Das ist in der Demokratie ihr gutes Recht, mag man einwenden, aber die Respektlosigkeit gegenüber der Souveränin, die sich nicht allzu häufig zu solchen feierlichen Erklärungen hinreißen lässt, steht schon unangenehm im Raum.

Was soll's, wer regt sich darüber auf? Außenminister Heiko Maas hat sich neulich in der Welt in einer ostentativ vagen Erklärung zur IHRA-Definition bekannt, ostentativ vage, denn er vermeidet jede Benennung des israelbezogenen Antisemitismus und warnt ausschließlich vor Antisemitismus von rechts. Das Wort "Israel" kommt in seiner Erklärung nicht mal vor.

Als Beleg für das verschärfte Debattenklima führt Assmann die Mbembe-Debatte an. "Mbembe musste aufgrund kompromittierender Textstellen in seinen Werken als Gast der Ruhrtriennale 2020 wieder ausgeladen werden", schreibt sie im Merkur. Daran sind zwei Punkte falsch: Mbembe wurde nicht in erster Linie aufgrund kompromittierender Textstellen kritisiert, sondern weil er sich aktiv für die Israelboykottbewegung BDS einsetzte. Und er wurde nicht ausgeladen, sondern die ganze Veranstaltung wurde wegen Corona abgesagt.

Der Schock darüber, dass nicht die ganze Welt ihre Meinung über Mbembe teilt, bewog Aleida Assmann auch, dem Aufruf der Kulturfunktionäre für "Weltoffenheit" beratend zur Seite zu stehen. Auch hier wird vor "missbräuchlichen Verwendungen des Antisemitismusvorwurfs" gewarnt. Man kritisiert die "zögerliche Aufarbeitung der deutschen Kolonialgeschichte. Dazu bedarf es eines aktiven Engagements für die Vielfalt jüdischer Positionen". Der fugenlose Übergang zwischen diesen beiden Sätzen verblüfft: Warum bedarf es eines Engagements für die Vielfalt jüdischer Stimmen, um die deutsche Kolonialgeschichte aufzuarbeiten? Man teilt zwar die Position von BDS gar nicht, beeilt man sich ferner zu versichern. Aber darum geht es den InstitutsleiterInnen auch gar nicht. Es geht ihnen darum, Stimmen Raum zu schaffen, die Israel als Kolonialmacht und Apartheidsstaat betrachten und die darum einen Boykott Israels verlangen.

Dem Aufruf der Funktionäre schloss sich wenig später eine Art Bewerbungsschreiben von 1.472 Künstlern und Künstlerinnen an, die signalisierten, dass sie aber weiterhin zu jenen "vielfältigen Stimmen" gehören, die eingeladen werden wollen. Sie sprechen ihre "Solidarität mit den Kulturinstitutionen" aus und benennen damit, was den "Weltoffen"-Aufruf so besonders macht. Es handelt sich hier nicht um die Meinungsäußerung einer Gruppe von Einzelpersonen, sondern sie sprechen ausdrücklich im Namen ihrer Institutionen. Das Wort "Solidarität" fällt oft im Aufruf der KünstlerInnen. Auch BDS wird hier als eine Solidaritätsbewegung bezeichnet. In ihrem Überschwang vergröbern die KünstlerInnen die Argumentationslinien ihrer potenziellen Auftraggeber noch: "Nachdrücklich lehnen wir die Monopolisierung von Unterdrückungserzählungen durch Staaten wie Deutschland ab, die historisch Unterdrücker waren. Wir lehnen die Vorstellung ab, dass die Leiden und Traumata von Opfern politischer und historischer Gewalt gemessen und in eine Rangfolge gebracht werden können."

Krasser wurde die Relativierung des Holocaust in Deutschland seit Ernst Nolte nicht gefordert.

Weiterhin fällt am Aufruf der IntendantInnen und der KünstlerInnen sowie an der Argumentation Assmanns das Tremolo auf. Die BDS-Resolution hätte ein "Klima der Zensur" geschaffen, beklagen sie und "fordern den Deutschen Bundestag auf, den umstrittenen Beschluss zurückzunehmen". Wenig später entlarvte ein Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes (hier als pdf-Dokument) den moralischen Bombast, der da produziert wurde: Die Resolution ist im Grunde nicht viel mehr als eine feierliche Meinungsäußerung des Bundestags. Sie hat keine juristisch bindende Wirkung. Die IntendantInnen können mit ihren Steuergeldern so viele Roger-Waters-Konzerte veranstalten, wie sie wollen. Mag sein, dass sie dann auch mal mit dem Unwillen jener Parlamentarier rechnen müssen, die ihnen unsere Steuergelder geben.

Dagegen wollten sie sich wohl auch absichern. Susan Neiman, Leiterin des Potsdamer Einstein-Forums und Mitinitiatorin des "Weltoffen"-Aufrufs bestätigt das im Gespräch mit der SZ (unser Resümee). Ohne Beispiele zu nennen und ohne dass die Journalisten nachfragen, behauptet sie, einigen Mitgliedern der Initiative seien Dienstverfahren und Haushaltskürzungen angedroht worden. "Das kann wie Zensur wirken."

Halten wir also fest: Einige der bedeutendsten Kulturorganisationen Deutschlands rufen den Bundestag dazu auf, eine mit großer Mehrheit beschlossene Resolution zurückzunehmen. Der Außenminister bekennt sich nur mit spitzen Lippen zur IHRA-Definition und warnt ausschließlich vor Antisemitismus von rechts. So gut wie alle deutschen KünstlerInnen von Rang und Namen schließen sich der Forderung der Kulturinstitutionen an, wollen den Holocaust in neue Geschichtserzählungen einbetten und möchten einer Israelkritik mehr Räume schaffen, die Israel als Kolonialmacht und Apartheidsregime denunziert.

Was daran schockiert, sind nicht die Positionen, die so von der Linken in verschiedenen Färbungen seit siebzig Jahren bis zum Überdruss wiederholt werden. Was schockiert, ist die ungeheure Breite, von der dieser Aufruf getragen wird. Gibt es in der deutschen Kulturwelt überhaupt noch jemanden, der anders denkt? Ein Gegenaufruf mit der gleichen institutionellen Wucht wäre in Deutschland zur Zeit nicht denkbar.

Eines muss man den FunktionärInnen lassen: Ihr Coup ist geglückt. Jörg Häntzschel gratulierte ihnen in der SZ gleich zum "kulturpolitischen Erdbeben", das sie ausgelöst haben. Sie müssen ihr "Plädoyer" über Monate vorbereitet haben, keine(r) hat geredet. Man präsentierte den Aufruf am 11. Dezember, genau jenem Tag, als der Bundestag den Haushalt für 2021 verabschiedet hatte. Man bereitete ein perfekt produziertes Video vor, in dem sich die FunktionärInnen gegenseitig absicherten. Zugleich signalisiert das KünstlerInnen-Papier: Das Plädoyer ist kein Plädoyer, sondern ein Machtwort. Es legt fest, wer künftig als "weltoffen" zu gelten hat, und wer nicht mehr eingeladen wird. Und es legt fest, für wessen Meinungsfreiheit zu kämpfen ist, für die von BDS, aber nicht zum Beispiel für die der ermordeten Charlie-Hebdo-Zeichner, hier ist keine entsprechende Intendantenwallung archiviert.

Es muss hier nicht daran erinnert werden, dass die BDS-Resolution des Bundestags auch aus dem Erschrecken zustande kam, dass die BDS-Bewegung in Deutschland Terrain gewann. Das "Festival Pop-Kultur" in Berlin wurde 2017 von einer ganzen Reihe arabischer und internationaler Musiker boykottiert, weil die israelische Botschaft israelischen Künstlern 500 Euro zu den Reisekosten zugeschossen hatte (hier die Erklärung des Festivals zu dieser Intervention des BDS). Na Hauptsache, die Stimmen, die künftig eingeladen werden, sind "divers"! Wie genau die Einladungspolitik der Institutionen funktioniert, lässt sich von außen ja kaum beurteilen. Für Zensur sitzen sie jedenfalls am richtigen Ort. Im Zweifelsfall werden schon die Richtigen nicht gefragt.


Die Mbembe-Debatte als Paradigmenwechsel

Diese streng gescheitelte Vielfalt ist also der Preis für einen Paradigmenwechsel beim Blick auf den Holocaust, der bei der Mbembe-Debattte fürs breitere Publikum erstmals zutage trat (ich habe dazu hier und hier im Perlentaucher geschrieben) und der nun durch die IntendantInnen zur offiziellen Politik erklärt wurde.

Vor diesem Paradigmenwechsel erschien auch vielen Linken Auschwitz als "negativer Gründungsmythos" der Bundesrepublik. Joschka Fischer rechtfertigte mit diesem Argument die Intervention im Kosovo - allerdings gegen erbitterten Widerstand vieler Linker in seiner Partei (man sah Christian Ströbele bei dieser Gelegenheit weinen). Mit dem sich in der Mbembe-Debatte abzeichnenden neuen Blick auf den Holocaust, der in den postkolonialen Eliten längst Doxa ist, zeigt sich, dass die Idee des Holocaust als eines singulären Ereignisses, welches Politik künftig prägen müsse, eine Episode war. Sie begann mit dem Historikerstreit und endete spätestens jetzt, mit der Mbembe-Debatte und dem "Weltoffen"-Plädoyer.

Es ist dabei wesentlich zu erkennen, dass der Postkolonialismus in diesem Punkt nur eine modisch verkleidete neue Version uralter marxistischer und antiimperialistischer Muster im Blick auf den Holocaust ist. Der erste Leugner - Leugner hier im Sinne eines programmatischen Beschweigens - war Josef Stalin, der Ilja Ehrenburgs und Wassili Grossmans "Schwarzbuch" verbieten ließ und als nächstes seine Kampagne gegen die Weißkittel inszenierte. Diese Linie wurde nach 1968 von der antiimperialistischen Linken mit tatkräftiger Unterstützung der DDR noch verschärft. "Politclown" Dieter Kunzelmann geißelte den "Judenknax" der Deutschen, 1969 wurde zum 9. November eine Bombe ins Jüdische Gemeindehaus Berlin gelegt. Drei Monate darauf starben sieben BewohnerInnen eines jüdischen Altenheims in München, Holocaustüberlebende, die Täter sind bis heute nicht ermittelt. Deutsche Terroristen sortierten bei der Flugzeugentführung von Entebbe jüdische Passagiere aus. Ulrike Meinhof begrüßte das Attentat auf die israelische Olympiamannschaft. Und Jean-Luc Godard hielt mit hämischem Grinsen einen zum Hakenkreuz umgezeichneten Davidstern in eine ZDF-Kamera. Godard ist bis heute ein prominenter BDS-Unterstützer.

Jean-Luc Godard hält in einem ZDF-Interview einen zum Hakenkreuz umgezeichneten Davidstern hoch, anschließend überreicht ihm der ZDF-Journalist einen Scheck, mehr dazu hier.


Israel mit der Nazidiktatur gleichzusetzen, ist also eine linke Tradition, in die sich Mbembe stellt, wenn er die Besetzung Palästinas durch Israel als den größten moralischen Skandal seit 1945 bezeichnet. Mit Blick auf Mbembe spricht Aleida Assmann von "kompromittierenden Textstellen", die sie aber nicht benennt. Statt dessen behauptet sie, Mbembe suche einen "inklusiven Blick" auf die Geschichte der Menschheitsverbrechen. Es fällt überhaupt auf, wie wenig Mbembes VerteidigerInnen auf seine Aussagen eingehen. Man betont nur, wie marginal die Rolle sei, die Israel und der Holocaust in seinem Werk spiele. Aber zeigt nicht gerade die Beiläufigkeit, mit der er die Hämmer gebraucht, wie sehr sie in Mentalität übergegangen sind?

Assmann wehrt sich gegen den Begriff der "Relativierung" des Holocaust. "Das Argument der neuen Antisemitismus-Spezialisten lautet, dass bereits die Tatsache, dass der Holocaust zusammen mit anderen Menschheitsverbrechen wie Sklaverei, kolonialen Genoziden oder Apartheid genannt wird, dessen Einzigartigkeit infrage stellt." Ein Vergleichsverbot solle installiert werden, schreibt sie - nein, über die Selbstverständlichkeit des möglichen Vergleichs werde ich hier nicht schreiben.

Aber natürlich beinhaltet die Einbettung des Holocaust in eine größere Erzählung auch eine Relativierung - und auch dies sollte möglich sein. Über die "Singularität" des Holocaust wird wahrscheinlich niemals Einigkeit zu erzielen sein. Sie ist kein religiöses Dogma. Es geht eher um die Frage, wie sich der Holocaust historisch beschreiben lässt. Steffen Klävers zeigt in seiner fulminanten Studie "Decolonizing Auschwitz?" (einer Dissertation bei Stefanie Schüler-Springorum übrigens) allerdings, dass eine Einbettung des Holocaust in eine Geschichte des Kolonialismus, an dem angeblich bereits erprobt worden sei, was im Holocaust dann in noch größerem Ausmaß praktiziert wurde, nur mit gewaltsamen Kappungen seiner Besonderheit machbar ist. Klävers weist das in intensiven Lektüren der Ansätze von Dirk A. Moses, Jürgen Zimmerer und Michael Rothberg nach. Warum überhaupt eine Geschichtstheorie, die den Holocaust wahlweise zum Kulminationspunkt oder bloßen Spezialfall einer älteren Tendenz in der Geschichte macht? Die Antwort ist wohl, dass der Holocaust in einem Geschichtsbild, das das Urverbrechen im Kolonialismus und beim "Westen" verorten will, stört. Es ist überhaupt ein Problem mit Geschichtstheorien, dass sich die Ereignisse nie so recht in sie fügen wollen. Die Mbembe-Debatte hat immerhin das Verdienst, diesen Fragestellungen auch ein größeres Echo zu geben. In der FAS setzt sich Claudius Seidl kritisch mit den postkolonialen Theorien zum Holocaust auseinander, ebenso Thomas Schmid in der Welt.

Der Relativismus Assmanns und der ihr folgenden Funktionäre und Künstler basiert aber nicht allein auf einer Nivellierung von Ereignissen im Sinne einer Ideologie. Er funktioniert noch anders: Er bannt die sich ausschließenden Widersprüche der Debatte in ein "Sowohl als auch", um nach der einen Seite noch anschlussfähig zu bleiben und dabei dennoch Positionen wie denen Mbembes, die die Mode regieren, den Teppich auszulegen.


Das "Band der Empathie" und wen es ausschließt 

Das "Sowohl als auch" stellt Assmann in ihrer sympathischen Versöhnungsabsicht dem "Entweder oder" entgegen, denn das "Entweder oder" bestehe gegenüber den Diskussionsvorschlägen des Postkolonialismus starrsinnig auf einer "Exklusivität" des Holocaust - auch eine verräterische Vokabel.

Assmann möchte sowohl die "Singularität" des Holocaust anerkennen als auch Positionen zulassen, die sie negieren oder für sich reklamieren. Es geht in dieser Art Gedächtnistheologie gar nicht darum, was ein Ereignis ist, sondern wie sich Erzählungen von Ereignissen zu einem harmonischen Ganzen zusammenfügen lassen. Der Holocaust - und davon abgeleitet die politische Position zu Israel - wird zu einem Objekt der Quantenphysik. Je nachdem, von wo er angeblickt wird, ist er ein Teilchen oder eine Welle. Für den deutschen Hausgebrauch findet Assmann die Rede von der Singuarität durchaus richtig: "Nach mehr als dreißig Jahren ist der Konsens über die Singularität des Holocaust in Deutschland zu einem Bekenntnis geworden, das in die Identität der Nation eingegangen ist." Interessant, dass sie die Vokabel "Bekenntnis" nutzt. Die Frage ist für Assmann nicht, ob der Holocaust als solcher und objektiv als singulär beschrieben werden kann, die Frage ist, ob man sich dazu bekennt, weil es zum nationalen Selbstverständnis gehört.

Aber Mbembe sagt natürlich etwas ganz anderes, und es ist charakteristisch, dass Assmann - wie praktisch alle Mbembe-Verteidiger - die eigentlichen Äußerungen Mbembes zu Israel in ihrer Argumentation ignorieren muss, um sie als einen Beitrag zu einem "Mehrweggedächtnis" zu werten, in dem sich traumatische Erinnerungen gegenseitig bereichern. Mbembe sah Israel in mehreren Äußerungen als den schlimmsten Skandal seit 1945: "Wenn der Holocaust die Katastrophe des 20. Jahrhunderts war, so ist Palästina der größte moralische Skandal unserer Zeit", sagte Mbembe 2014. Diese Position ist es, die inkludiert werden soll. (Am intensivsten hat Alan Posener zu Mbembe recherchiert, mehr hier.)



Dieselbe Inklusion sich ausschließender Widersprüche findet sich in Stefanie Carps Verteidigung von Mbembes BDS-Engagement. Carp war als Leiterin der Ruhrtriennale attackiert worden, weil sie Mbembe als Eröffnungsredner eingeladen hatte. Den "Kern des Missverständnisses" bezüglich Mbembe beschreibt sie am 23. Dezember letzten Jahres in der Berliner Zeitung so: "Für ihn wie für alle kolonialisierten Nicht-Europäer ist Israel ein normaler westlicher Staat. Für Deutsche kann es das nicht sein. Aber es grenzt an Hybris, wenn Deutsche sich kraft ihrer Schuldgeschichte berechtigt sehen, diese Perspektive allen Menschen auf der Welt aufzuzwingen." (Carps Text ist in der Berliner Zeitung übrigens unter CC-Lizenz erschienen, trotzdem stellt ihn die Zeitung nicht frei lesbar online.)

BDS ist also sowohl falsch als auch richtig. Als Deutscher muss man BDS ablehnen, als ''kolonialisierter Nicht-Europäer" muss man BDS gut finden. Die Frage lässt sich gar nicht aus der Sache selbst beantworten, es kommt nur auf den Standpunkt an: Das ist schon kein Relativismus mehr, das ist eine Relativitätstheorie! Ähnlich die Formeln der IntendantInnen. Man lehne den Boykott Israels ab. "Gleichzeitig halten wir auch die Logik des Boykotts, die die BDS-Resolution des Bundestags ausgelöst hat, für gefährlich." Man ist also gleichzeitig gegen BDS und für BDS oder zumindest für Leute, die für BDS sind.

Es sei unproduktiv, so die Funktionäre weiter, wenn "wichtige lokale und internationale Stimmen aus dem kritischen Dialog ausgegrenzt werden sollen, wie im Falle der Debatte um Achille Mbembe zu beobachten war". Von welchem kritischen Dialog reden sie hier? Keine der hier versammelten IntendantInnen hat Mbembe kritisiert. Im Gegenteil: Wer Mbembe kritisierte, wurde von ihnen in die rechte Ecke einsortiert. Keiner der so am Dialog interessierten hat sich gegen den Guardian-Artikel Brian Enos verwahrt, der Deutschland McCarthyismus vorwarf, weil seine Parlamentsabgeordneten einen Boykott israelischer Künstler ablehnen. Übrigens ist mir auch nicht aufgefallen, dass einer der attackierten Bundestagsabgeordneten, die für die Resolution stimmten, publizistisch eingegriffen hätte..

"Die historische Verantwortung Deutschlands darf nicht dazu führen, andere historische Erfahrungen von Gewalt und Unterdrückung moralisch oder politisch pauschal zu delegitimieren", fahren die IntendantInnen fort. Wieder so ein Satz, der mich stutzen lässt. Inwiefern sollte denn Deutschlands historische Verantwortung dazu führen, die Leiderfahrungen anderer in Frage zu stellen? Im Gegenteil ist es doch eher so, dass die Einbettung des Holocaust in eine größere Geschichte der Kolonialverbrechen die historische Verantwortung Deutschlands schmälert. Die Künstler sprechen wie gesagt sogar von einer "Monopolisierung von Unterdrückungserzählungen durch Staaten wie Deutschland". Man spürt förmlich, wie erleichtert deutsche KünstlerInnen wären, wenn diese Last auf breitere Schultern gelegt würde.

Aber so sehr die Hauptschuld für den Holocaust in Deutschland zu suchen ist, so wenig ist die Aufarbeitung des Holocaust in erster Linie den Deutschen zu verdanken: Im Gegenteil, die Deutschen wurden von außen auf ihre Verbrechen gestoßen. Und so wenig sind die Lehren, die aus dem Holocaust zu ziehen sind, nur in Deutschland gültig. Sie sind auch kein Bekenntnis, sondern eben Lehren. Streit muss sein, gewiss. Aber die IntendantInnen suchen offenbar gerade das Gegenteil von Streit, wenn sie sich auf ihre "privilegierte Position" zurückziehen, um den Unsinn nicht in Frage stellen zu müssen, den auch "kolonialisierte Nicht-Europäer" zu verzapfen in der Lage sind.

Mit dem Begriff des "Privilegs" ist die "Critical Race Theory" in die Politik regierungsnaher Organisationen in Deutschland eingezogen. Der Begriff des "White Privilege" ist das Bekenntnis zum postmodernen, heute modischen Antirassismus, der behauptet, dass Rassismus automatisch, strukturell und unhintergehbar ist. Weiße müssen sich durch die "von Rassismus Betroffenen" zunächst mal über das Ausmaß ihrer Komplizenschaft aufklären lassen, um überhaupt wieder mitreden zu dürfen. Wenn Achille Mbembe und mit ihm BDS- und Black-Lives-Matter-Anhänger (vielleicht nicht alle, hoffen wir's!) finden, dass Israel die schlimmste Untat seit Auschwitz sei - wer wären die IntendantInnen, das in Frage zu stellen? Es werden ja nicht die Privilegien kritisiert, die sich aus ihren Machtpositionen und Gehältern ergeben (und an denen sie etwas ändern könnten), sondern das "Privileg" ihrer nun mal unveränderbaren Hautfarbe.

Da sind wahrlich Abgründe zu überbrücken und Aleida Assmann schlägt dafür im Schluss ihres Merkur-Essays das "Band der Empathie" vor (war das so ähnlich nicht mal ein Slogan der Dresdner Bank?) Seltsam, so sehr es ihr in ihrem Essay um Öffnung zu außereuropäischen Positionen zu tun ist, hier konzentriert sie sich doch wieder auf den deutschen Kontext. Zurecht konstatiert sie, dass in Deutschland die Hauptgefahr vom Rechtsextremismus ausgeht. Jahrzehntelang ist diese Gefahr in Deutschland kleingeredet worden. Schändlich versagten die Behörden bei der NSU-Terrorgruppe. Auch die Medien, die über Jahre nicht nachfragten, haben sich hier keine Verdienste erworben (sie schweigen nur lieber darüber, mehr hier).

Daraus zieht Assmann aber sehr weitreichende Konsequenzen. Sie konzediert zwar, dass es auch muslimischen Antisemitismus gebe, aber sie behandelt ihn als Nebenwiderspruch, der mit dem "Band der Empathie" schon einzuhegen ist. Als Bindemittel empfiehlt Assmann außerdem "Dialogforen, Bildungsprojekte und Gesprächskreise". Hier gilt es dann besonders die Einsicht zu erarbeiten, "dass die muslimische Minderheit dem deutschen Rassismus und Fremdenhass nicht weniger ausgeliefert ist als Juden und Jüdinnen".

Assmanns "richtiger" Antisemitismusbegriff schließt Antisemitismus und antimuslimische Ressentiments mit dem "Band der Empathie" zusammen. Dass ihr bevorzugter Antisemitismusbegriff einige unschöne Details ausblendet, scheint ihr als Preis für der Versöhnung nicht zu hoch. Dazu gehört zum Beispiel, dass der islamistische Attentäter in Wien seinen Mordzug an einer Synagoge begann, dass die weitaus meisten antisemitischen Attentate in Frankreich und Belgien in den letzten Jahren von Islamisten begangen wurden, dass es neben dem Attentat auf die Synagoge von Pittsburgh auch ein Attentat auf einen koscheren Supermarkt in New York gab, für den eine komplett durchgeknallte schwarze Sekte verantwortlich ist (sechs Tote, mehr in der New York Times) und dass der Iran praktisch wöchentlich mit der Vernichtung Israels droht.

Rassismus existiert, auch unbewusst, und muss bekämpft werden. Aber der modische Antirassismus, der heute wie ein Tsunami durch die Institutionen brandet, begründet sein Geschäftsmodell auf der Multiplikation immer neuer Opfergeschichten, die am Ende immer auf den selben Täter verweisen. Geschichte mag einst komplex gewesen sein, nun wird sie wieder schrecklich vereinfacht. Da allen Opfern nur ein Täter gegenübersteht, bei dem auch heute noch alle Macht verortet wird, beschreibt Michael Rothberg seine "multidirektionale Erinnerung" als eine Art Benefizprogramm in einem Wettbewerb verschiedener Opfer, die um dessen Anerkennung konkurrieren.

"Wer erbt die Autorität der Überlebenden", hat Aleida Assmann eingangs gefragt. Aber vielleicht ist die "Autorität der Überlebenden" kein Erbe, das sich qua Eingemeindung des "richtigen Antisemitismusbegriffs" in den neuen Antirassismus auf neue Anspruchsberechtigte verteilen lässt. Dass die Relativierung des Holocaust zugleich auch dazu dient, die Legitimität Israels in Frage zu stellen, zeigt mir, dass mit der Opferstilisierung heutiger AntirassistInnen etwas nicht stimmt.

Die Lektion, die Israel zog, war eine andere: Autonomie. Israel ist eine Erfolgsgeschichte. Es stört im Programm des Antirassismus auch, weil es zeigt, dass man sich nicht aus dem Opferstatus befreit, indem man eine Planstelle beim ehemaligen Kolonialherren beantragt.

Thierry Chervel