Im Kino

Alles gerät ins Wanken

Die Filmkolumne. Von Tilman Schumacher
22.05.2024. Eine Wiederaufführung: Shinji Sōmais außergewöhnlicher Jugendfilm "Typhoon Club" ist auf verschiedenen Ebenen von Unordnung geprägt. Der Blick auf die jugendlichen Protagonist:innen ist eine Mischung aus Distanziertheit und intensiver Nähe.

Ein Sturm zieht auf. Typhoon Club (1985) - einer von gleich drei 1985 erschienenen Filmen des früh verstorbenen japanischen Regisseurs Shinji Sōmais (1948-2001) - erzählt seine Coming-of-Age-Story entlang eines herannahenden, wütenden und schließlich abklingenden Taifuns, der eine Ortschaft im ländlichen Umland Tokios heimsucht. Und er erzählt, metaphorisch gesprochen, von jugendlichen Gefühlsstürmen, die sich inmitten des "Auge des Sturms" bahnbrechen. Alles gerät ins Wanken.

Unordnung und frühes Leid: Rie, Kyoichi, Michiko, Ken, Akira, Yumi und Midori sind Klassenkameraden an der Oberschule, tragen die typische Schuluniform und wollen zugleich ihre Individualität behaupten. Die pubertierenden Neuntklässler fühlen sich ausgegrenzt, ungeliebt, mal von ihren Nächsten verstanden, mal missverstanden. Sie können ihre Emotionen kaum bändigen, bangen zugleich um die Großmutter ihrer Freundin, die im Krankenhaus liegt. Einer von ihnen beschäftigt sich in einem Schulaufsatz damit, ob das Individuum seine Art "transzendieren" könne, ob es die Gemeinschaft hinter sich lassen kann - und passend dazu kämpfen sie alle für ihre Sehnsüchte und zugleich doch um einen Platz in einer Gesellschaft, die ihnen Unterordnung und Funktionieren abverlangt.

Ihre Eltern sehen wir nie. Lediglich ein Lehrer kommt vor, Herr Umemiya, und der ist aufgewühlt wie sie, spätestens ab dem Moment, in dem die Mutter seiner Lehrerkollegin, mit der er eine Affäre hat, vor versammelter Klasse eine Rechtfertigung für sein Verhalten einfordert. Kurz zuvor sahen wir ihn am Schulschwimmbecken knien, zu dem man ihn gerufen hatte, weil dort der Schüler Akira am Ertrinken war. Mitschülerinnen hatten den verspulten Spanner genüsslich so lange im Becken untergetaucht, bis er ohnmächtig wurde. Eine erste Szene der Gewalt, der weitere folgen.


Was wie eine hochdramatische Erzählung klingen mag, ist tatsächlich oft beiläufig, betont bruchstückhaft und mit spürbarer Distanz dem schwer entwirrbaren Figurenensemble gegenüber erzählt. Aber auch das ist nicht ganz richtig. Denn es gibt durchaus Szenen, die einen völlig ins Filmgeschehen "hineinziehen", so etwa der unvermittelte Vergewaltigungsversuch eines Jungen an seiner Mitschülerin in der Sturmnacht, während sie Unterschlupf im Schulgebäude suchen. Wie die Körper durch die Bankreihen krachen, wie sich Lärm und irreale Stille abwechseln, wie der Angreifer wild an der Kleidung des Mädchens reißt und sie um Hilfe schreit - solch eine rohe Intensität habe ich lange nicht in einem Film gesehen. Oder die durchchoreografierten Tanzszenen - eine völlig andere Stimmung! - zu Talking-Heads-artigem Popfunk und Reggae-Beats: Kurze, umso mehr zelebrierte Momente jugendlicher Unbeschwertheit. Sie könnten Träumen entstammen; es sind lustige Musikclips, die die aufgewühlte Wirklichkeit für kurze Zeit vergessen lassen.

Abseits dessen hält der Film sein Publikum vor allem dadurch auf Abstand, dass er kein erzählerisches Zentrum kennt, uns nicht an die Hand nimmt. Denn statt wie in einem konventionellen Coming-of-Age-Film ein Mädchen oder einen Jungen als Hauptfigur auszuwählen und von dieser Figur aus ein Beziehungsgeflecht auszubreiten, springt Sōmais Drama beständig zwischen verschiedenen Cliquen und Konflikten hin und her. Das ist ebenso wenig "geordnet", wie es die von uns erahnte Innenwelt der Protagonisten ist. Sie drückt sich in Blicken und Gesten aus, kaum durch Drehbuchsätze. "Typhoon Club" vertraut auf Sinnlichkeit. Das Sichtbare teilt viel mit. Alles ist in Bewegung.

Dabei ist die Naturgewalt des Taifuns lange Zeit bloß Nebensache, kündigt sich durch wehendes Haar am geöffneten Klassenzimmerfenster an. Sobald der Sturm da ist, ist er ein dramatisches Ereignis unter vielen, wenn auch ein besonders eindrückliches, das nie zur bloßen Chiffre oder zum dramaturgischen Kalkül wird, alle Handlungsstränge doch noch zu verbinden. Sōmai ist an klaren Aussagen desinteressiert, ebenso an einer Moral von der Geschicht'. Das Ende des Sturms markiert das Filmende, aber für die Figuren, soviel sei verraten, ist nichts abgeschlossen. Anders als in John Hughes' amerikanischem Coming-of-Age-Klassiker "The Breakfast Club", der - eine kuriose Parallele - ebenfalls 1985 erschien und ebenfalls Jugendliche in einem Schulgebäude aufeinanderprallen lässt, gibt es in "Typhoon Club" keine High-Schooler-Typologie, auch keinen pädagogischen Fingerzeig.

Die "Unordnung", die das Leben der Filmfiguren ebenso wie die Erzählweise des Films bestimmt, greift auch auf die Formensprache durch. Deutlich komponierte Passagen wechseln sich mit solchen ab, die mit ihrer wackligen Kameraführung wie dokumentarisch "aufgeschnappt" wirken.

Stark gebaut wirkt etwa die häusliche Szene mit Klassenlehrer Umemiya und seiner vorab im Klassenzimmer enttarnten Partnerin, die wir in leichter Untersicht durch geöffnete Shōji - die typisch japanischen Raumteiler - beobachten. Die Assoziation zur statischen und streng grafischen Inszenierungsweise der Familiendramen Yasujirō Ozus liegt nahe, die für die japanische Filmgeschichte so prägend sind. Speziell zum tragikomischen Jugendfilm "Ohayo" (1959) gibt es Parallelen, der wie "Typhoon Club" aus der Sicht von Minderjährigen und gänzlich ohne lehrerhaft-belehrendes Getue von deren Sehnsüchten zu berichten weiß.

Der Kölner Verleih Rapid Eye Movies bringt "Typhoon Club" in einer digitalen 4K-Restaurierung zurück auf die große Leinwand. Das Release reiht sich ein in ein ganzes Repertoire ambitionierter Wiederaufführungen, die das seit gut drei Jahrzehnten auf asiatisches Autorenkino spezialisierte Label neben Neustarts wie Ryūsuke Hamaguchis oscarprämiertem "Drive My Car" (2021) herausbrachte. Hamaguchi hatte "Typhoon Club" übrigens als seinen Wunschfilm für die Coming-of-Age-Film-Retrospektive der Berlinale 2023, "Young at Heart", ausgewählt. In seiner Begründung heißt es, vielleicht helfe er dem Publikum dabei, "für das Kind zu sorgen, das Sie lebenslang [in ihrem Inneren] begleiten wird."

Tilman Schumacher

Typhoon Club - Japan 1985 - Regie: Shinji Sōmai - Darsteller: Yuichi Mikami, Yōki Kudō, Tomokazu Miura, Yuka nishi u.a. - Laufzeit: 115 Minuten.