Essay

Das Hirngespinst

Von Peter Truschner
22.11.2016. Warum die Debatte um den literarischen Nachwuchs in die Irre geht: Nicht die jungen AutorInnen sind das Problem, sondern der Betrieb, in den sie hineinwollen.
In den letzten Jahren hat sich im deutschsprachigen Feuilleton eine beachtliche Menge an Beiträgen angesammelt, in denen immer wieder Zweifel an der Qualität des literarischen Nachwuchses laut werden, eine Debatte ist entstanden, die zuletzt ausführliche Essays im Perlentaucher zur Folge hatte. Viele Beiträge dieser Debatte sind, wenn es um die Literatur als solches geht, in Wahrheit vernachlässigbar, etwa der viel zitierte Beitrag von Florian Kessler in der Zeit, der dort die Bombe platzen lässt, dass bürgerliche Institutionen wie Literaturinstitute mehrheitlich von bürgerlichen StudentInnen aus der gut situierten Mittelschicht besucht werden. Ebenso willkürlich sind Spekulationen, die die Wurzel des Übels im vermeintlich mangelnden Anteil von AutorInnen migrantischer Herkunft in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur vermuten (Maxim Billers Artikel in der Zeit). Selbst wenn diese viel zu kurz greifenden Erklärungsversuche einen Mehrwert hätten, der der Debatte zuträglich wäre, verfehlten sie den Punkt dennoch klar - einfach, weil die Debatte an sich ein Hirngespinst ist, das sich von einer Reihe falscher Vorstellungen nährt, die man sich von der Literatur und dem Kulturbetrieb als solches macht. Um Licht in dieses Dunkel zu bringen, ist es notwendig, dieses zähe Amalgam aus historischen Missverständnissen und aktuellen (Fehl-)Entwicklungen zu entwirren.

Der Rahmen, in dem sich diese Debatte bewegt, ist jener Verzerrung geschuldet, die man Literaturgeschichte nennt. In dieser verqueren Heldengeschichte sind zum Beispiel Kafka, Musil, Joseph Roth und Broch maßgebende Protagonisten ihrer Zeit - dabei waren sie so gut wie unbekannt, komplette Außenseiter, die zum Teil in bescheidensten Verhältnissen leben mussten und von Kritik und Publikum im Grunde kaum wahrgenommen wurden. Erfolg, Geld und Hymnen seitens der Kritik wurden - wenige Ausnahmen bestätigen hier nur die Regel - anderen zuteil, die heute vergessen sind.

Auch wenn es wie eine Polemik klingt, gibt es in Wahrheit keinen plausiblen Grund anzunehmen, dass das heutige Literaturbetriebspersonal so ohne weiteres in der Lage ist, den James Joyce oder die Gertrude Stein der Gegenwart zu erkennen und zu fördern - erst recht im Jahre 2016, in dem der Buchhandel wieder an die Stelle der Literatur getreten ist und KritikerInnen, LektorInnen und LiteraturdozentInnen die Aufgabe zukommt, den Bücherstrom vom Verlag zum Publikum einigermaßen gehaltvoll zu regulieren, auch wenn das bedeutet, dass man bei Gelegenheit Bücher wie "Feuchtgebiete" zu kulturellen Ereignissen hochstilisiert und den Autor des guten und durchdachten Debüts "Schimmernder Dunst über Coby County" gleich mal mit Handke und Houellebecq auf eine Stufe stellt.

Wer das für eine üble Nachrede jener Art hält, wie sie AutorInnen gern absondern, mag einer in diesem Sinn weniger verdächtigen Stimme wie der von Giovanni Di Lorenzo, dem Chefredakteur der Zeit, Gehör schenken, der ein viel sagendes Profil jenes Personals liefert, das im heutigen Kulturbetrieb zum Einsatz kommt: "Unser Personal ist zu einheitlich sozialisiert. Die Milieus sind zu ähnlich. Wenn Redaktionen neue Leute holen, holen sie jemanden, 'der zu uns passt'. Außerdem wollen wir bei der Beurteilung auf der richtigen Seite stehen. Man stellt sich nicht so gerne gegen den Rest, denn dann kriegt man selbst ein paar Spritzer ab." Hand aufs Herz: Wer würde sich von einem derart beschriebenen Personal erwarten, dass es die innovativsten, mutigsten und ungewöhnlichsten Werke seiner Zeit erkennt, fördert oder hervorbringt? Und ist es nicht ein wenig skurril, wenn Heike Kunert da dem literarischen Nachwuchs ausgerechnet in der Zeit vorwirft, er sei "erschreckend professionell" und es mangele seinen Hervorbringungen an "Unerhörtem"?

Eine weitere historische Verzerrung stellt die Periode nach dem Zweiten Weltkrieg dar. Die Deutschen hatten nach dem Holocaust das Bestreben, sich zu entnazifizieren und als Kulturnation neu zu erfinden. Unter dem Eindruck des Wiederaufbaus kam es zu einem kulturellen Wandel, der von der 68er Generation befördert wurde. Es entstand eine offene Kulturszene, die dem Widerstand gegen das Überkommene, Reaktionäre verpflichtet war, und sich dabei trotzdem vom Geld des Wirtschaftswunders nährte, das von offizieller Seite dazu verwendet wurde, Deutschlands Ruf in der Welt wiederherzustellen. Es gab eine beispiellose Nachfrage nach Menschen, die in den Künsten ausgebildet waren - eine Situation, die nicht nur dem Aufbruch geschuldet war, sondern schlicht der Tatsache, dass so viele Menschen ermordet worden oder ins Exil gegangen waren, dass es schlicht an Personal mangelte. Diese Umstände erklären, warum so schwierige und exzessive Menschen wie Rainer Werner Fassbinder im Kulturbetrieb reüssieren konnten oder warum ein aus England zurückkehrender, egomanischer Theaterzampano wie Peter Zadek rasch Aufnahme fand. Beide Karrieren wären so in der heutigen Situation im deutschsprachigen Raum undenkbar.

Mit der allgemeinen, kapitalistischen Profitgier der neunziger Jahre war diese Phase kritischer Transparenz (nicht nur) in (West-)Deutschland vorüber. Kein Wunder: Es ist eine Ausnahme-Zeit gewesen, die sich dennoch in vielen Köpfen als Status Quo festgesetzt hat. Viele kulturelle Phänomene - die Hinwendung zum Mainstream, zur Eventkultur, zum Starkult, zum Affektiven und Affirmativen - werden als Indikatoren des kulturellen Niedergangs beschrieben, während in Wahrheit nur wieder die Normalität einkehrt, wie sie abgesehen von jener Ausnahmezeit nach dem Zweiten Weltkrieg immer schon vorgeherrscht hat.

Für die Kunstschaffenden bedeutet das eine soziale und politische Marginalisierung sowie eine finanzielle Prekarisierung; eine Gleichstellung von künstlerischem Rang und finanziellem Erfolg; eine Umwertung von Begabungen in Ressourcen, die es erlaubt, die Arbeitskraft vor allem junger Menschen als PraktikantInnen, AssistentInnen und freie MitarbeiterInnen auszubeuten, während das Establishment ausschließlich damit beschäftigt ist, seinen Bestand zu wahren.

Abstiegsangst und Besitzstandswahrung führen immer zum Konformismus - zum vorauseilenden Gehorsam und zur Absicherung nach innen und nach außen. Womit wir wieder bei Giovanni Di Lorenzos Anforderungsprofil für heutige KulturarbeiterInnen wären.

Dem Anpassungsdruck des Betriebs arbeitet dabei die Anpassungswilligkeit derjenigen entgegen, die in ihn hinein wollen. Die jungen Leute sind informierter als jede Generation zuvor und wissen nur zu gut, dass nichts, was in den letzten zwanzig Jahren für eine kulturelle Innovation stand, seinen Ursprung im deutschsprachigen Raum hat - auch, weil es die dafür unabkömmliche Start Up-Mentalität nicht gibt. Sie wissen auch, dass eklatant mehr Leute in den Künsten ausgebildet werden, als am Ende davon werden leben können. Das macht aus Mitstreitern von Beginn an Konkurrenten auf der Jagd nach der möglichst renommierten Referenz und dem Erfolgs-Lebenslauf - der Regisseur Dominik Graf spricht von einer "Nadelöhr-Situation", die den Nachwuchs erpressbar und schneller zu Kompromissen bereit macht. An einer Schauspielschule schaut das dann zum Beispiel so aus, dass es keinen interessiert, was man wie macht und warum, sondern nur, wer es macht und wo - je prominenter der Name des Regisseurs und des Ortes, desto besser. Charlotte Kraft beschreibt im "Perlentaucher" den Open Mike Wettbewerb sinngemäß als "traumhafte Verheißung", da er "eine exklusive Abkürzung in den Literaturbetrieb (sic!)" darstelle. Im besten Fall komme man so zu "Preisen, Aufmerksamkeit, Geld und Ruhm".

Für viele stellt sich das Problem ohnehin nicht. Nach einigen Seminaren und Workshops an Hochschulen traue ich mich zu sagen: Der Ehrgeiz der Mehrheit des künstlerischen Nachwuchses zielt nicht auf die Kunst, sondern zum Beispiel auf die Eigentumswohnung, in der man es sich mit seinem MacBook und einem Latte Macchiato am Schreibtisch gemütlich machen kann. Die heimlichen, unaussprechlichen Idole heißen dabei eben nicht James Joyce oder Gertrude Stein, sondern Mutti und Vati beziehungsweise der konsum- und mainstreamintensive Wohlstand, in dem die meisten aufgewachsen sind. Die Generation ihrer Eltern lebt dabei konsequent vor, wie man sich mit den Verhältnissen arrangiert und es sich dabei so bequem wie möglich macht.

Das trifft sich wiederum mit der Mehrheit des heutigen Publikums, das beim Gedanken an die nächste Handtasche und das nächste Smartphone nicht von irgendwelchen unangenehmen und komplizierten Sachverhalten gestört werden will und sowieso nicht auf Kunst an sich steht, sondern nur auf solche, die Erfolg hat oder Erfolg verspricht.

Ruben Zumstrull bringt folgerichtig die Lehre, die er dem Hildesheimer Studiengang "Kreatives Schreiben"  entnommen hat, in der Zeit auf den Punkt: "Lieber ein vorsichtiges Projekt fehlerlos umsetzen, als sich beim Versuch, etwas Gewaltiges zu schaffen, eine Ungereimtheit zu erlauben."

Literaturinstitute wie Leipzig und Hildesheim sind - nicht anders als Kulturredaktionen oder Schauspielschulen - ohnehin keine Brutstätten des Neuen und "Unerhörten", sie stellen eher eine Art "TÜV" dar, der seine AbsolventInnen für den Betrieb und seine Spielregeln fit macht. Nicht weniger, aber auch nicht mehr.

Das Seltsame ist, dass die KritikerInnen der "Schreibschul-Hegemonie" sich darüber völlig im Klaren sind - kein Wunder, die LiteraturredakteurInnen und LektorInnen stehen in ständigem Austausch mit den DozentInnen aus Leipzig und Hildesheim, unterrichten dort manchmal sogar selbst. Warum sie trotzdem immer wieder über den so ausgebildeten Nachwuchs jammern? Christiane Kiesow drängt sich im Perlentaucher der Eindruck auf, "dass die Kritik am literarischen Nachwuchs oft eher eine Generationskritik ist". Meiner Generation gelingt es tatsächlich perfekt, aktuelle Problemlagen - Klimawandel, Finanzkrise, Flüchtlingskrise, unsichere Renten, Konsumwahn und so weiter -, für die sie entscheidend verantwortlich ist, auf die sogenannte "Generation Y" abzuwälzen und geradezu besessen auf ihr herumzuhacken.

Blickt man etwa auf das Literaturinstitut Leipzig, fällt auf, dass immer nur StudentInnen und AbsolventInnen hinterfragt werden, nie aber das verantwortliche Personal. Vielleicht wäre es angesichts der andauernden Kritik ja eine Überlegung wert, den dort seit einer gefühlten Ewigkeit verantwortlichen Josef Haslinger, Michael Lentz und Hans-Ulrich Treichel für ihre Verdienste zu danken und einen Personalwechsel durchzuführen, der ja vielleicht auch zu einem Mentalitätswandel und zu Werken führen wird, die dem Anspruch der Kritik gerechter werden.

Warum es aber eine solche Forderung im Feuilleton nicht geben und man stattdessen weiter die JungautorInnen kritisieren oder aber in den Himmel loben wird, dürfte allen klar sein, die diesen Essay gelesen haben. Dennoch gibt es keinen Grund zu verzweifeln, da es schlussendlich immer auf Einzelne ankommt und was sie aus den Möglichkeiten machen, die sie vorfinden: Als Rainald Goetz' Roman "Johann Holtrop" sich nicht auf der Long List des Deutschen Buchpreises fand, weil viele es nicht goutierten, wie er darin die Bertelsmannsippe mit hohem Wiedererkennungswert vorführte, war es der Kritiker Ijoma Mangold, der Goetz in der Zeit ausführlich Gelegenheit gab, sein künstlerisches Anliegen darzulegen.

Peter Truschner