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Nichts genuin Feindliches

Über Bücher, Bilder und Ausstellungen Von Peter Truschner
30.03.2022. Fährt man nicht zu den Bettenburgen im Süden Lanzarotes, sondern in den Norden an einen abseits gelegenen Ort mit Blick auf Steilküste und Vulkane, ist er im selben Moment da, in dem man aus dem Bus steigt, und geht auch nicht mehr weg: der Wind. Meditationen über den Nordpassat, Michel Serres, die schreckliche Gleichzeitigkeit.
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Auf dem Flughafen in Arrecife ist es zuerst das Begrüßungskomitee aus Sonne und Wärme, das die Sinne sofort in Beschlag nimmt und Glückshormone freisetzt - erst recht, wenn es Februar ist und im feuchtkalten Berlin nach dem ersten bald der zweite Sturm aufzieht. Fährt man nicht zu den Bettenburgen im Süden Lanzarotes, sondern in den Norden an einen abseits gelegenen Ort mit Blick auf Steilküste und Vulkane, ist er im selben Moment da, in dem man aus dem Bus steigt, und geht auch nicht mehr weg: der Wind.

Weht er aus östlicher Richtung, heißt er Calima, kommt aus der Sahara und trägt Wüstensand übers Meer. Wenn er Teil einer seltenen Gewitterfront ist, stürzen die Frauen aus dem Haus, um die Wäsche von der Leine zu nehmen, die sich sonst braun verfärbt und noch einmal gewaschen werden muss.

Ein kühler, nordatlantischer Passatwind fegt aus anderer Richtung abends die Dorfplätze leer und treibt die Menschen in ihre Häuser. Tagsüber ist er ein willkommener Begleiter, der für Abkühlung sorgt, wenn man auf überraschend einsamen Pfaden die von Vulkanausbrüchen geformte Landschaft zu Fuß durchquert.

In den Wintermonaten kann seine Heftigkeit dazu führen, dass der Wind etwas Körperhaftes annimmt, das sich dir entgegenstellt, ohne dabei jedoch übergriffig zu werden (als "übergriffig" würde ich den Ausläufer eines Sandsturms bezeichnen, den ich in der marokkanischen Sahara erlebt habe, der in jede Öffnung drang, es auf jede Pore des Körpers abgesehen hatte).

Der Nordpassat besitzt eine souveräne Präsenz, der nichts genuin Feindliches anhaftet, die einfach nur da ist, so ist. Obwohl er nur aus Luft besteht, kann man die Botschaft des Windes mit Händen greifen: die existenzielle Tatsache, dass es hinter der vermeintlichen Ödnis - auf Spanisch "Malpais" genannt, schlechtes Land - noch etwas anderes gibt. Etwas, das nicht darauf angewiesen ist, die physische Unversehrtheit des Menschen zu gewährleisten oder seinen Wunschvorstellungen von Landschaft und Wetter gerecht zu werden, da es ihn schlicht nicht braucht, er nur eine biosphärische Option darstellt, ein Spielzug in einem Spiel, das ungleich älter ist als er selbst.

Famara © P. T.


Jeder, der einmal nach einem zehrenden Fußmarsch in der Sahara nachts einen Blick auf die vollständig ausgeprägten Sternbilder am Firmament geworfen oder sich abseits der maritimen Handelsrouten am Bug eines Schiffs in der blauen Weite des pazifischen Ozeans verloren hat, kennt das Gefühl: die instinktive Erkenntnis von der Geringfügigkeit der eigenen Existenz, der Existenz des Menschen überhaupt.

 "Wir haben die Welt verloren", schrieb Michel Serres vor über dreißig Jahren, "indem wir die Natur vergessen, sie auf die menschliche Natur reduziert haben". Serres zufolge ist die Natur in all ihren Erscheinungsformen keine Ressource, sondern ein Gegenüber, das es zu akzeptieren und nicht aus den Augen zu verlieren gilt.

Wem es gelingt, das starke Bedürfnis nach Sicherheit und Komfort, das im Alltag in diversen Ritualen und Routinen zum Ausdruck kommt, für kurze Zeit hinter sich zu lassen, kann selbst an einem touristisch aufbereiteten Ort wie Lanzarote das Andere der Kultur spüren, das natürliche Gegenüber, das unserer Existenz den Rahmen gibt - und von dem die westliche Zivilisation lange dachte, dass sie ihm den Rahmen gäbe, gleich, ob unter dem Gesichtspunkt der Nützlichkeit, Schönheit oder Rentabilität.

Nicht, dass das in Brandenburg unmöglich wäre. Alle, die die Zeichen des ausgetrockneten Bodens aufgrund immer neuer Hitzerekorde zu deuten wissen, werden zu ähnlichen Schlussfolgerungen kommen wie Serres oder der prophetische Bericht des "Club of Rome" aus den siebziger Jahren (bei dem ich mir damals schon dachte: genau so wird es kommen).

Einen gewichtigen Unterschied macht die Umgebung: während aufgrund des Raubbaus an der Natur immer mehr Regionen der Welt lebens- und damit auch menschenfeindlicher werden, ist die Lebens- und Menschenfeindlichkeit Lanzarotes der Ausgangspunkt, um den herum sich alles Leben und seine Kultivierung durch den Menschen ordnet.

Lanzarote entstand durch unterseeische Vulkanausbrüche, in Intervallen von Millionen von Jahren bildete sich durch vulkanische Tätigkeit die Oberfläche der Insel aus. Nachdem die Spanier und Portugiesen die von den Phöniziern abstammenden Ureinwohner zuerst versklavt und dann durch eingeschleppte Krankheiten ausgerottet hatten, kam es zwischen 1730 und 1824 wieder zu schweren Vulkanausbrüchen. Davor war Lanzarote die Kornkammer des kanarischen Archipels - danach waren die fruchtbaren Böden und eine Reihe von Dörfern unter frischer Lava begraben.

Auf den erkalteten Lavazungen zu wandern ist eine zähe Angelegenheit, das Gestein ist instabil, scharfkantig und porös, bei jedem Schritt muss man abwägen, ob der Untergrund der Belastung stand hält. Unaufmerksam zu sein, seinen Gedanken nachzuhängen, kann üble Folgen haben - wie für eine Wanderin, die hinter mir wegrutschte und sich das Knie blutig schlug. Ihre tiefe Fleischwunde musste später mit vier Stichen genäht werden.

Je weiter man sich am Rande der "Montanas del Fuego" in das Lavafeld hineinbewegt, während die anderen auf einem Trampelpfad die Caldera eines erloschenen Vulkans ansteuern, desto weiter entfernt man sich von dem, was angenehm oder sinnvoll erscheint. Auch wenn die Sonne nicht so gnadenlos herunterbrennt wie in der Sahara und es keine Giftschlangen und Skorpione gibt, vermag man sich nach einer gewissen Zeit  vorzustellen, wie mühsam und öd es sein muss, täglich einen Fußmarsch von fünfzehn, zwanzig Kilometer durch eine Sand- oder Steinwüste zurückzulegen, um an ein Wasserloch oder einen Brunnen zu gelangen. Vollumfänglich werden das diejenigen nie nachempfinden können, auf die (wie auf mich) ein Rückflug wartet, da ihnen die existenzielle Unausweichlichkeit eines solchen, das Überleben sichernden Rituals fehlt.

Dennoch macht es einen Unterschied, ob man darüber nur gelesen oder es zumindest im Ansatz selbst verspürt hat, in den müden Knochen, dem ausgetrockneten Mund, dem geröteten, verschwitzten Gesicht.

Dasselbe gilt auch für den Umgang mit Menschen.

Hätte ich bei der Arbeit zu meinem Fotobuch "Bangkok Struggle" nicht so viel Zeit mit den Straßenhändlerinnen und Tagelöhnern verbracht, mit ihnen gegessen und bei Bedarf mit angepackt, dass ihnen meine Anwesenheit irgendwann vertraut und selbstverständlich war, wäre es sicher ein anderes, vielleicht grelleres, dabei oberflächlicheres Buch geworden.

El Jable © P. T.


Was für Urlauber auf Lanzarote existenziell werden kann, auch wenn sie wieder zu Hause sind, ist die Stille. Wobei Stille das falsche Wort ist, denn still ist es nicht wirklich, wenn man am Rande des windumtosten Famara-Gebirges wohnt, mit Blick auf die in der Ferne aufragenden Feuerberge und das am Ende des Tages immer ungestümer gegen die Küste brandende Meer.

Unter diesen Chor der Naturgewalten mischt sich bis weit in die Nacht das Gebell der Hunde, das im Süden immer auch ein Klagelied darüber ist, dass sie draußen an der Kette angebunden sind, anstatt im Haus bei ihrem Menschenrudel sein zu können.

Was sich inmitten dieser Geräuschkulisse auffinden lässt, ist ein Schweigen, in dem das, was Serres zufolge verloren ging, wieder an Präsenz gewinnen kann - die reale Welt. Einfach, weil der Betriebslärm verstummt, und weil man das, was zwingend zu ihm gehört - in meinem Fall das Notebook - zu Hause lässt und anderes - wie den Fernseher und das Email-Postfach am Smartphone - unangetastet lässt. Ab und an verschicke ich auf Instagram eine Art Flaschenpost in Form eines Fotos, mehr nicht.

Was folgt, ist im Grunde immer dasselbe in so einer Situation: der Tag gewinnt wieder an Stunden, sein Vorankommen in ihm an Raum. Die Müdigkeit, die durch das Bearbeiten von Texten und Fotos, das Surfen im Internet und das Streamen von Filmen hervorgerufen wird, ist schon nach drei Tagen verschwunden, und ich brauche den Managerschlaf zwischen sechzehn und siebzehn Uhr nicht mehr zur Regeneration.

Stattdessen marschiere ich durch das Niemandsland der Sandwüste "El Jable", in der es nichts Spektakuläres gibt. Nach Regenfällen im Frühjahr kann sie sich kurz in ein Blumenmeer verwandeln, ab und an halten Vogelfreunde mit dem Fernglas nach der scheuen und perfekt an ihre Umgebung angepasste Kragentrappe Ausschau, die nur auf Lanzarote und Fuerteventura vorkommt. Die Felder, auf denen Süßkartoffeln und Melonen geerntet werden, sind von Vulkanasche bedeckt, die die Feuchtigkeit der kühlen Nachtluft speichern und an den Boden weitergeben kann.

Den größten Schatz, den es hier für den Wanderer zu bergen gibt, ist die Zeit, die sich zuerst sammelt und dann souverän ausdehnt, da sie nicht von Zerstreuung bedroht ist, bis man an einem bestimmten Punkt beglückt sagen kann: Die Welt selbst ist die Uhr.

Meine Vermieterin wiederum versteht nicht, was ich in El Jable zu finden glaube, warum ich mir stattdessen nicht lieber die (tatsächlich großartigen) Bauwerke von Cesar Manrique anschaue, die dieser im Einklang mit vulkanischen Formationen errichtet hat. Wittgenstein würde ihr antworten: "Habe ich den Ofen kontempliert, und es wird mir gesagt: jetzt kennst du aber unter den vielen Dingen der Welt nur den Ofen, so scheint mein Resultat kleinlich. Habe ich aber den Ofen kontempliert, so war er meine Welt und alles andere dagegen blass."

Aber Lanzarote ist eben doch nicht die Welt, und so geschieht es, dass an einem Tag, an dem ich mit dem seligen Lächeln eines Narren mit meinen Fingerkuppen über die Schaumkronen der Meereswellen taste, Russland seinen Angriffskrieg auf die Ukraine beginnt.

Tenesar © P. T. 


Es ist einer jener Momente, in dem man die schreckliche Gleichzeitigkeit unglaublichen Glücks und Unglücks, Schönheit und Grauen, Hunger und Sättigung, Freude und Schmerz auf der Welt vor Augen geführt bekommt - ein Zustand, mit dem zu leben man lernen muss, und mit dem man sich doch nie abfinden darf. Im Zuge der Globalisierung und Digitalisierung ist das Wissen darüber zur manchmal schier unerträglichen Belastung geworden - und gleichzeitig zur einzigen Möglichkeit, weltweit ein gemeinsames Bewusstsein dafür zu entwickeln, was in Zukunft notwendig ist.

Im Grunde ist das aber immer schon so gewesen.

Gegen Ende des Zweiten Weltkriegs schreibt Pasolini: "Wir flüchteten uns in meine Einsiedelei, wohin nicht einmal ein Echo jener entsetzlichen Explosionen drang, die Tag und Nacht die Erde erschütterten. Wir diskutierten über Musik und über Dichtung, aber mit größter Heiterkeit und viel Gelächter."

Peter Truschner
truschner.fotolot@perlentaucher.de