Bücherbrief

Da passt jede Silbe, jeder Klang

10.02.2020. Angel Igov führt schalkhaft und fantasievoll in die dunkle Geschichte bulgarischer Volksgerichte, Sigrid Nunez findet mit Witz, Leichtigkeit und einer 80 Kilo schweren Dogge ins Leben zurück, Bov Bjerg kurvt durch die schwäbische Alp und Michi Strausfeld erkundet die Faszination Lateinamerikas. Dies alles und mehr in unseren besten Büchern des Monats Februar.
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Weitere Anregungen finden Sie in in Arno Widmanns "Vom Nachttisch geräumt", der Lyrikkolumne "Tagtigall", dem "Fotolot", in der Krimikolumne "Mord und Ratschlag", in unseren Büchern der Saison, den Notizen zu den jüngsten Literaturbeilagen und in den älteren Bücherbriefen.

Literatur

Angel Igov
Die Sanftmütigen
Roman
eta Verlag. 216 Seiten. 17,90 Euro

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Bei seinem Erscheinen in Bulgarien sorgte Angel Igovs Roman "Die Sanftmütigen" für einigen Wirbel: Die bulgarischen Volksgerichte gelten als Tabu. Genau darum geht es Igov aber in seinem im Jahr 1944 im Armenviertel Sofias spielenden Roman um den Provinzdichter Emil: Als die Rote Armee das mit Hitler verbündete Bulgarien besetzt, wird jener von einem Kommunisten angeworben und stürzt sich leidenschaftlich in seine Arbeit als Ankläger für Journalisten und Schriftsteller beim Volksgericht. FAZ-Kritiker Jörg Plath staunt nicht nur, wie "menschlich" Igov seinen opportunen Helden zeichnet, sondern lobt auch die Idee des Autors, dem Erzähler einen die Stimme des Volkes verkörpernden Chor zur Seite zu stellen. Kurz, lebendig, schalkhaft und fantasievoll nennt SZ-Kritiker Tobias Lehmkuhl den Roman: Hier passt jedes Wort, jede Silbe, jeder Klang, meint er. Und für taz-Kritikerin Barbara Oertel ist das Buch ein wichtiger Beitrag zur Aufklärung über die "dunkelsten Kapitel" der bulgarischen Geschichte, der nicht zuletzt durch raffinierte Figurenzeichnung überzeugt.

Maggie Nelson
Die roten Stellen
Autobiografie eines Prozesses
Hanser Berlin. 224 Seiten. 23 Euro

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Leicht zu verdauen ist Maggie Nelsons Mischung aus Essay, Memoir und Zitatsammlung sicher nicht. Nelson beschäftigt sich in ihrem im amerikanischen Original 2007 erschienenen Buch mit dem Mord an ihrer Tante Ende der Sechziger, der nie aufgeklärte Fall wurde nach 35 Jahren wieder aufgerollt. Wie die Autorin das reale Verbrechen, aber auch die die Erschütterung und Trauer der Familie der Getöteten umkreist, findet taz-Kritikerin Carola Ebeling beeindruckend. Darüber hinaus bietet ihr das Buch aber auch interessante Überlegen zum gesellschaftlichen Kontext der immer wieder verübten Gewalt von Männern gegen Frauen. Intim und schonungslos nennt Dlf-Kultur-Kritikerin Sarah Elsing das Buch, das ihr das Innere der Autorin während des Prozesses "radikal" offenbart: Ein "dunkel schillerndes Kunstwerk" und ein literarischer Höllengang in einem, meint sie. Wenn Nelson das "Zerklüftete" des Prozesses auch formal widerspiegelt, liest Zeit-Kritiker Xaver von Cranach eine berückende Mischung aus True Crime, Suspense, Theorie, Dichtung und Wahrheit.

Bov Bjerg
Serpentinen
Roman
Claassen Verlag. 272 Seiten. 22 Euro

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Bov Bergs Erfolgsroman "Auerhaus" über das Erwachsenwerden in den Achtzigern in der westdeutschen Provinz wurde gerade erst verfilmt. In seinem neuen Roman "Serpentinen" nimmt uns Berg mit auf eine düstere Erinnerungsreise in die Kindheit auf der schwäbischen Alb. Dorthin nämlich brechen Vater und Sohn auf, stets begleitet von den Erinnerungen des Vaters an die Suizide in seiner Familie, an Alkoholismus, Panik und Verzweiflung, aber auch die wenigen innigen Momente. Der Versuch des Erzählers, die väterliche Todessehnsucht nicht an den eigenen Sohn weiterzugeben, wird laut Felix Stephan in der SZ zur Obsession, das Gespräch des Erzählers mit seinen Dämonen sorgt für Spannung. Stephan lobt zudem die rhythmische Rundheit des Textes. In der NZZ bewundert Paul Jandl die Mischung aus "hammerschlagartiger Kraft des Authentischen" und Gesellschaftsanalyse. Beklemmend, feinfühlig und traurig nennt Claudia Inghoven in der FR den Roman, Wucht, humorige Dialoge und ironische Beobachtungen schätzt hingegen Jan Wiele in der FAZ. Dem neuen autobiografischen Erzählen folgt auch Christian Barons Vater-Sohn-Geschichte "Ein Mann seiner Klasse" (Bestellen), die Ijoma Mangold in der Zeit in einem Atemzug mit den Büchern von Didier Eribon nennt.

Sigrid Nunez
Der Freund
Roman
Aufbau Verlag. 235 Seiten. 20 Euro

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Nach sieben veröffentlichten Büchern ist Sigrid Nunez, Dozentin für "Creative Writing" und einstige Partnerin von Susan Sontags Sohn David, nun ausgerechnet mit einem Roman über eine depressive dänische Dogge der Durchbruch gelungen. Jenen Hund nämlich erbt Nunez' Erzählerin von ihrem besten Freund, der sich das Leben nahm. Die KritikerInnen bewundern den Witz, die Leichtigkeit und den Ernst, mit dem Nunez darüber, aber auch über ihre Trauerarbeit und den Literaturbetrieb schreibt. taz-Kritikerin Isabelle Caldart gefällt, dass Nunez "Sentimentalitäten oder Kitsch" weglässt, dafür Reflexionen und Zitate über Literatur sowie popkulturelle Bezüge einbaut. Starke Figuren und eine raffinierte Handlung bietet der Roman Dlf-Kultur-Kritikerin Sonja Hartl, während Sarah Pines in der Welt hier noch einmal den Zauber der New Yorker Literaturszene der achtziger Jahre spürt. Und FR-Kritikerin Cornelia Geißler kann das Buch gar nicht mehr aus der Hand legen, schon wegen der Bezüge zu Autoren, die laut Geißler von Rilke bis zu Toni Morrison reichen. In der Zeit ist Ijoma Mangold ganz selig angesichts der Reflexionen über Mensch und Tier, Moral und ihre Fragwürdigkeit. Weitere Besprechungen auf Spiegel Online und im WDR2.

Isabela Figueiredo
Roter Staub
Mosambik am Ende der Kolonialzeit. Erinnerungen
Weidle Verlag. 172 Seiten. 23 Euro.

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Isabela Figueiredos Erinnerungsbuch war bei seinem Erscheinen in Portugal im Jahr 2009 ein Skandal, entlarvte es doch die portugiesische Inszenierung einer nicht-gewalttätigen Kolonialmacht. Ihren Erinnerungen folgend erzählt uns Figueiredo, wie ihr Vater, ein Elektriker, in den Fünfzigern der portugiesischen Provinz nach Mosambik entflohen, und vor Ort seine Macht an den schwarzen Untergebenen auslebte. Als die Kolonialmacht 1974 zusammenbricht und viele Schwarze sich rächen, wird die Autorin von ihrem Vater zurück nach Lissabon geschickt, mit dem Auftrag, das erfahrene Unrecht publik zu machen. Doch erst nach dem Tod des Vaters beginnt Figueiredos zu erzählen, allerdings vom Rassismus und Sexismus ihres Vaters. Auch die Aktualität kolonialen Rassismus lernt Dlf-Kritiker Tilo Wagner hier kennen. In der taz ist Rudolf von Bitter beeindruckt, wie klar die Autorin von den Brutalitäten zu schreiben vermag. Und Dlf-Kultur-Kritikerin Birgit Koß staunt, wie Figueiredos das Gefühl zwischen Bewunderung und Abscheu dem Vater gegenüber in Worte fasst.


Sachbuch

Rabindranath Tagore
Nationalismus
Berenberg Verlag. 144 Seiten. 22 Euro

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Nicht nur von dem weithin bewunderten George Orwell ist gerade ein Essay über den Nationalismus neu herausgegeben worden (bestellen), sondern auch von Rabindranath Tagpore. Indiens großer Dichter und Literaturnobelpreisträger mag von Thomas Mann einst als Humanist belächelt worden sein, auf SZ-Kritiker Gustav Seibt macht seine Schrift über die Umformung der Welt durch den europäischen Nationalismus nachhaltig Eindruck. Denn Tagore belässt es nicht dabei, zwischen einem aggressiven Nationalismus und einem vertretbaren Patriotismus zu unterscheiden, wie Seibt betont, sondern schildert aus der Sicht eines kolonisierten Landes, welchen welthistorischer Schock die Bildung der Nationalstaaten darstellten, was für Machtapparate damit entstanden und welch "dramatische Vermännlichung der Gesellschaft" damit einherging. Ausgerechnet Mann belächelte den sanften Charismatiker Tagore mit seinen wallenden Gewändern und langen weißen Haaren als "feine englische Dame"!

Hans-Joachim Hinrichsen
Ludwig van Beethoven
Musik für eine neue Zeit
J. B. Metzler Verlag. 386 Seiten. 39,99 Euro

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Das Beethoven-Jahr ist noch ganz jung, die Zeitungen haben dem Genie aber schon ganze Feuilletons gewidmet, in einem sehr schönen Text in der FAZ erzählte etwa Daniel Barenboim von seinen frühen Erfahrungen mit Beethoven. Als verlässlichen Begleiter durch das Beethoven-Jahr empfiehlt Christiane Wiesenfeldt in der FAZ die Biografie des Musikwissenschaftlers Hans-Joachim Hinrichsen. Das Buch bietet ihr weder Anekdoten noch Klischees, stattdessen stelle der Autor die Musik in ihrer Zeit ins Zentrum seiner Betrachtungen. In zwölf Kapiteln setze er die Musik und die Philosophie Kants zueinander ins Verhältnis und lege dabei ungeahnte Tiefenschichten frei. Manches Beethoven-Bild wird dadurch "neu justiert", meint sie. Sicher keine ganz einfache Lektüre, aber doch gehört der Band für sie zum Anspruchsvollsten und Erhellendsten, was zum Thema auf dem Markt ist. Recht "mühsam" findet Dorothea Husslein im SWR2 allerdings die Lektüre: Dem Buch attestiert sie eine "freudlose Intellektualität". Empfehlenswert ist sicher auch der von dem im letzten Jahr verstorbenen Beethoven-Experten Martin Geck gemeinsam mit Werner Busch verfasste Band "Beethoven-Bilder". (Bestellen)

Michi Strausfeld
Gelbe Schmetterlinge und die Herren Diktatoren
Lateinamerika erzählt seine Geschichte
S. Fischer Verlag. 576 Seiten. 26 Euro

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Als Suhrkamp-Lektorin war Michi Strausfeld eine wichtige Wegbereiterin für die Rezeption lateinamerikanischer Literatur in Deutschland. Nun legt sie eine Kulturgeschichte vor und die KritikerInnen sind begeistert (hier unser Vorgeblättert): Als Wegweiser durch den Dschungel lateinamerikanischer und karibischer Literatur empfiehlt Welt-Kritiker Marko Martin das Buch, dem er analytische Kraft und gute Lesbarkeit attestiert. Durch einzelne Länder nimmt die Autorin ihre Leser mit, sie zeichnet auch Autobiografien nach, bietet kulturhistorische wie politische Hintergrundinformationen und macht den Leser neugierig auf Inhalte, sowohl fiktionaler Texte als auch der "Cronicas", lobt er. SZ-Kritiker Sebastian Schoepp bewundert vor allem den farbigen, faszinierenden Blick der Autorin, die anekdoten- und zitatenreich dafür sorgt, dass er Lateinamerika ein wenig besser versteht.

Rebecca Solnit
Nonstop Metropolis
Ein Atlas in Worten
Hoffmann und Campe Verlag. 240 Seiten. 24 Euro

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Für diesen Band hat die amerikanische Kulturhistorikerin, Feministin und Aktivistin Rebecca Solnit zwanzig Essays von Linguisten, Ethnologen, Soziologen und Künstlern versammelt. Die AutorInnen setzen sich hier mit vernachlässigten Aspekten urbanen Zusammenlebens auseinander: Solnit schreibt über wilde Tiere in New York, Shirley Thompson über Zucker in New Orleans und Joshua Jelly-Shapiro liefert eine historische Analyse New Yorks als "käufliche Stadt". "Haarsträubend spannend", genial, überraschend und aufschlussreich nennt Eva Hepper im Dlf-Kultur den Band, dessen Texte ein faszinierendes, vielstimmiges, facettenreiches, interdisziplinäres Konglomerat bilden, wie sie versichert. Dass der deutsche Verlag auf die in der Originalausgabe vorhandenen Stadtkarten verzichtet hat, findet Hepper zwar ärgerlich, dennoch gehört das Buch für sie zum "Besten, was das Genre zu bieten hat". Wer sich lieber ins Paris des 19. Jahrhunderts zurückziehen möchte, dem sei Walburga Huelks Buch "Der Rausch der Jahre" (Bestellen) empfohlen, den Joseph Haniman in der SZ als Feuerwerk zwischen "Kuriosität und Gelehrsamkeit" würdigt.

Till van Rahden
Demokratie
Eine gefährdete Lebensform
Campus Verlag. 196 Seiten. 24,95 Euro

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Der Historiker Till van Rahden betrachtet Demokratie nicht moralphilosophisch, intellektuell oder technokratisch, sondern sehr realitätsnah: Da man die Menschen nicht auf gemeinsame Inhalte festlegen kann, muss man sie auf gemeinsame Formen verpflichten, auf einen zivilisierten, toleranten Umgang. Das klingt ein wenig nach Sonntagsrede, räumt Jens Hacke in der SZ ein, sei aber doch sehr konstruktiv. Wenn man sich darauf einlasse, könne man mit Rahden verfolgen, wie sich politische Differenzen zivilisieren lassen, wie Demokratie auch in den Familien verankert wurde, als verfassungsrechtlich die unumstritttene Autorität des Vaters in Erziehungsfragen gekippt wurde. Wichtig erscheint Hacke auch Rahdens Hinweis, dass nicht leere Kassen zur Schließung von Bibliotheken und Schwimmbädern führen, sondern ein Mangel an politischer Kultur und Gemeinwohlorientierung. Im Dlf-Kultur hätte sich Sieglinde Geisel zwar mutigere Schlussfolgerungen gewünscht, verdankt dem Autor aber doch überraschende und fruchtbare Einsichten in eine lebendige Demokratie. In der FAZ umreißt Rahden seine Ideen in einem kurzen Essay.