Im Kino

Durchdrehendes Kino

Die Filmkolumne. Von Stefanie Diekmann, Nikolaus Perneczky
11.12.2019. Suspense als Formzitat, Milieurealismus als beige-braunes Farbschema, Spitzfindigkeiten statt Tatsachen: Quentin Dupieux' "Die Wache" hat ganz klar einen an der Waffel. Generische Traurigkeit in generischer Kulisse der westdeutschen Provinz, mit jungen, attraktiven Menschen besetzt: Das funktioniert erstaunlich glatt in Neele Vollmars Verfilmung von Bov Bjergs Roman "Auerhaus".
Der Kommissar

Ein Mann (Grégoire Ludig) sitzt wegen Mordverdachts auf der Polizeistation. Er beteuert, er habe den Leichnam lediglich gefunden und könne keine weiteren Angaben machen. Aber der ermittelnde Kommissar (Benoît Poelvoorde) will es ganz genau wissen. Alles scheint ihn zu interessieren, Sachdienliches ebenso wie Zufälliges, solange er sich nur gut unterhalten fühlt. Auf seiner Schreibmaschine hält der Kommissar fest, was der Tatverdächtige zu Protokoll gibt - nicht ohne sich laufend über Wortwahl und Erzählweise zu mokieren. Als er sich eine Zigarette ansteckt, qualmt es aus dem grauen Rollkragenpullover. Er habe ein Loch in der Brust, kommentiert er trocken. Nicht nur der Kommissar, der Film selbst hat einen an der Waffel, und so drängt sich schon in den Auftaktmomenten von "Die Wache" die Frage auf: Steckt Methode hinter diesem Wahnsinn?

Der französische Regisseur Quentin Dupieux - meiner Generation zuerst als DJ und Produzent unter dem Pseudonym Mr. Oizo bekannt - hat sich in letzten zehn Jahren, von "Rubber" (2010) bis "Le Daim" (2019), international einen Namen gemacht mit metafilmisch entgrenzten Genrekino-Fingerübungen zwischen Hommage und Groteske. Sie genießen einen gewissen Kultstatus, oder werden jedenfalls vom Festival- und Kinobetrieb konsequent in diesem Sinne vermarktet. "Die Wache" ist keine Ausnahme. Dupieux greift ursprünglich funktionale Kriminalfilmelemente auf und reduziert sie zu reinen Oberflächeneffekten. Suspense, aller Wirkmacht beraubt, kehrt wieder als Formzitat; Milieurealismus als beige-braunes Farbschema. (Gedreht hat Dupieux unter anderem in Oscar Niemeyers Betonutopie für die französische kommunistische Partei im 19. Pariser Arrondissement.)

Man versteht gleich, dass man einem Kammerspiel beiwohnt, zugleich aber wird das Kammerspielartige des Films überall unterlaufen. Ständig öffnet sich die Polizeistation auf angrenzende Räume: Räume der Erinnerung (an den Tathergang), der Fantasie (von einer einsamen Insel) oder des körperlichen Bedürfnisses (auf der Toilette). Zeitebenen überlagern und vermischen sich mit möglichen Welten. Vierte Wände sind prinzipiell durchlässig, oder werden erst gar nicht aufgerichtet. Der eh schon dünne Plot wird am Ende nicht aufgelöst, sondern aufgehoben in einer nicht besonders inspirierten Film-im-Film-Figur. Erzähltheoretisch mag das was hergeben, filmisch eher weniger. Alles bleibt im Spiel; nichts steht auf dem Spiel. Der Eindruck, der sich aus all den Abschweifungen und Ablenkungsmanövern ergibt, ist allseitige Gleichgültigkeit.

Der Verdächtige

Der Sprung auf über- und nebengeordnete Erzählebenen hat bei Dupieux immer etwas von einer Verlegenheitslösung. "Rubber" machte keinen Hehl daraus: Damit das hanebüchene Horror-Roadmovie vom beseelten Autoreifen, der serienweise Köpfe zum Explodieren bringt, nicht auserzählt werden muss, wird das Publikum (im Film) kurzerhand von einem Handlanger des Regisseurs vergiftet. Einer der Zuschauer, gespielt von B-Film-Haudegen Wings Hauser, überlebt den Anschlag, weshalb der Film zum Leidwesen aller Beteiligten weitergehen muss bis zum bitteren Nicht-Ende: "Wait all you want, there is no end." Auch "Die Wache" löst sich, sobald die Erzählprämisse ausgereizt ist, also relativ bald, in Metakino auf, und versucht erst gar nicht den Anschein zu erwecken, sich ernstlich für den Ausgang des Films zu interessieren. Wenn Dupieux es nach einer Stunde und zehn Minuten gut sein lässt, ist man dankbar, dass der Film aufhören darf, bevor er sein Publikum vergiftet hat.

Zusätzlich zur Gnade seiner relativ kurzen Laufzeit hat "Die Wache" noch andere errettende Eigenschaften, die "Rubber" schmerzlich abgingen, von denen in der deutschen Synchro jedoch vermutlich wenig übrig bleibt. Sie drehen sich sämtlich um den Sprachwitz, den Ludig, Poelvoorde und der Rest des fantastischen Casts im Laufe des absurden Verhörs entfalten. Alle sprechen hier im selben flapsigen Tonfall schlecht gealterter Jugendsprache, der quer liegt zum (vermeintlichen) Ernst der Situation; eine redundante Floskel ("C'est pour ça") springt von einer Figur zur nächsten wie ein Virus; und der Kommissar ist durchwegs mehr an sprachlichen Spitzfindigkeiten interessiert als an den Tatsachen. Im Sprachlichen, abgeleitet nicht von der Kinoleinwand, sondern von der Theaterbühne, kommt dann doch noch so etwas wie echte Bewegung ins durchdrehende Kino des Quentin Dupieux.

Nikolaus Perneczky

Die Wache - Belgien 2018 - OT: Au Poste! - Regie: Quentin Dupieux - Darsteller: Benoît Poelvoorde, Grégoire Ludig, Marc Fraize, Anaïs Demoustier - Laufzeit: 73 Minuten.

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Literatur zu verfilmen ist ein ziemlich undankbarer Job. Fast immer und fast unabhängig von Genre, Kategorie, Widerstandswert des Verfilmten, einfach weil diejenigen, die später im Kino sitzen, um sich das Verfilmte anzusehen, nicht wegen des Films, sondern wegen des Buches da sind. Und weil ihnen das Buch meistens lieb und teuer ist.

Literatur zu verfilmen heißt also, mit jeder Streichung und Änderung die irritierten Rückfragen verliebter Leserinnen und Leser zu antizipieren; heißt das Verschwinden von Figuren, Szenen, Statements zu verantworten, ohne die eine Geschichte nicht mehr dieselbe ist (ach, echt?), heißt in eine Dramaturgie zu intervenieren, auktoriale Setzungen zu revidieren und nicht zuletzt diesen ganz wichtigen Satz, der kurz vor Schluss und an der entscheidenden Stelle steht und überhaupt - diesen Satz also auch noch kassiert zu haben, was dann wirklich unverzeihlich ist.

Im Fall von "Auerhaus" ist der Job vielleicht besonders undankbar, weil der Roman "Auerhaus" von besonders vielen sehr geliebt wird, und zwar mit jener etwas verstockten Hingabe, die identifikatorische Beziehungen nun einmal kennzeichnet. Was große Teile der liebenden Leser mit diesem Roman verbindet, ist die Erinnerung an die 1980er; an die Topografie westdeutscher Klein- und Kleinststädte; an die Provinz, die für manche zur Vorgeschichte von Berlin, Hamburg, Köln geworden ist; an letzte Schuljahre, die ewig gedauert haben und auf einmal doch vorbei waren, was nicht immer eine gute Nachricht sein muss. "Auerhaus", bei dem Bov Bjerg sich vielleicht gar nichts Besonderes gedacht hatte (ein schönes Buch kann man ja auch einfach so schreiben), war auf einmal so etwas wie der Roman einer Generation, unser Haus und unsere Kleinstadt, und auch diese Nachricht ist nicht immer gut.

Die Inhaber der Filmrechte (die Filmrechte müssen in diesem Fall sehr früh gesichert worden sein) haben entschieden, die Adaption keinem der üblichen Verdächtigen anzuvertrauen, die ein Abo auf die entsprechende Altersgruppe und ihre Befindlichkeiten haben (Kandidaten etwa: Sebastian Schipper, Matthias Glasner, Stefan Krohmer et.al.). Stattdessen ist "Auerhaus" von Neele Vollmar adaptiert worden, einer Regisseurin (* 1978), der die 1980er vor allem aus Erzählungen und von Familienfotos bekannt sein dürften, und die in den letzten Jahren eine gewisse Routine darin entwickelt hat, sehr erfolgreiche Bücher in Filme zu konvertieren (zwei Mal "Oscar, Rico …", einmal "Maria, ihm schmeckt's nicht").



Für die Adaption von Bjergs Roman hat das Konsequenzen. Unter anderem die, dass die Welt, die auf die Leinwand gesetzt worden ist, eine gewisse Künstlichkeit behalten wird. "Ein Italiener", "eine Eisdiele", "unser Gymnasium" heißt es zu Beginn, und weiter: ein Supermarkt, eine Bäckerei, ein Polizeiauto, eine Psychiatrie sowie ein Ort, an dem ein Weihnachtsbaum aufgestellt und attackiert werden kann. Zwischen diesen Orten, die mehr oder weniger den Feldern eines Spielbretts entsprechen, bewegen sich die Figuren, die ebenfalls einem Reservoir der generischen Aufstellung entstiegen sind: der jugendliche Naive (vielleicht etwas zu großäugig: Damian Hardung), die Dorfschönheit (Luna Wedler), die höhere Tochter (Devrim Lingnau); der Spinner, genial und gebrochen gleichermaßen (Max von der Groeben); und etwas später, als die vier sich im Auerhaus einigermaßen eingerichtet haben, noch ein paar weitere Figuren, die schillernder und gefährlicher sind und einer anderen Typologie entstammen.

Die längste Zeit passiert nicht viel. Nur dass der Abschied begonnen hat, selbst wenn sie es noch nicht wissen. Manchmal geht es ihnen ziemlich gut, manchmal schaut jemand vorbei; in einigen Momenten sieht es so aus, als ließe es sich zusammen aushalten, und in anderen blicken sie vor sich hin, als wären sie alleine auf der Welt. Eine ganze Weile lang funktioniert das im Film "Auerhaus" erstaunlich glatt: generische Traurigkeit in generischer Kulisse, mit einem sehr absehbaren Score unterlegt und mit jungen, attraktiven Menschen besetzt, für die der Film eine Chance ist, die einige (Max von der Groeben) gar nicht mehr unbedingt brauchen. Irgendwann geht es nicht weiter, aber das war abzusehen. Für die Figuren, denen nicht viel mehr eingefallen ist, als es darauf ankommen zu lassen. Und für den Film, der mit seinem Material nicht viel mehr macht als das, was sich mit jeder beliebigen Vorlage machen ließe: nacherzählen, bebildern, eine so genannte Stimmung einfangen.

Die Party, wenn sie dann vorbei ist, war noch einmal spektakulär. Und weil Traurigkeit immer ein wenig suspekt bleibt, wird auch das Ende kein Ende sein, sondern in einen Aufbruch transformiert, der aussieht wie viele: die Zigarette unter Freunden, das alte Auto, noch einmal der Score. Am Horizont wartet Berlin, und wenn "Auerhaus", der Film, sich von "Auerhaus", dem Roman, unterscheidet, dann genau darin, dass er dort schon die ganze Zeit hin wollte.

Stefanie Diekmann

Auerhaus - Deutschland 2019 - Regie: Neele Vollmar - Darsteller: Damian Hardung, Luna Wedler, Devrim Lingnau, Max von der Groeben - Laufzeit: Laufzeit: 104 Minuten.