Tagtigall

Kommt ins Freie, Ihr Hasenherzen!

Die Lyrikkolumne. Von Marie Luise Knott
07.10.2019. Zeichengebilde ergründet Wortgebilde; Wörter begründen Zeichenbilder. Und immer mit viel Witz. Eine Synästhesie, die Sinnliches im Miteinander intensiviert. So verbindet sich auf einem Blatt, was viel zu oft geschieden wird, und animiert eine pluralistische Bewusstseinsgleichzeitigkeit. Über die Text-Bild-Kompositionen von Nanne Meyer (und auch von anderen).
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Hasen

" Ich hase - du hast - sie hastet - er hat - es hätte gerne - wir hasen - sie grasen - ihr graut." Was für ein Spökes, würde der Rheinländer sagen. Spiel und Spuk auf die Regeln der Konjugation. Ichduersiees. Was können wir in diesen undurchsichtigen Zeiten besseres tun, als den Gebrauch alles vorhandenen neu durchzukonjugieren und uns die Welt so einmal anders durchzubuchstabieren. Ich pack du packst sie packen sich hin, hieß es bei Ilse Aichinger, der großen Sprachstifterin. "Subversion durch Zusatzregeln", nannte das Oskar Pastior.

Nanne Meyer, Wortbild-Zeichnung
Nanne Meyer, Wortbild-Zeichnung

Die Zeichnerin Nanne Meyer, von der die obige Zeile vom Hasen und vom Grasen stammt, hatte soeben eine große Werkschau in der Bonner Kunsthalle. Parallel dazu ist bei Hatje & Cantz ein großformatiger Werk-Katalog erschienen, der den Titel trägt: "Gute Gründe". Tatsächlich hat Meyer über die Jahrzehnte immer neue gute Gründe gesucht oder sich erfunden, auf denen sie Auge, Hand und Stift auf Erkundungsreise schickt - darunter Ansichtskarten, Karteikarten und Landkarten.

Zum Zeichnen gehört das Ziehen: der Stift, zieht seine Linien und Kreise; er taumelt, schwankt, stolpert, verwischt, vernebelt, schraffiert. Bei den Griechen gehörte Schreiben und Zeichnen zusammen, doch die Linie bezeichnet keinen Schriftzug. Sie vollbringt, wie Dieter Mersch das beschrieb,  in erster Linie einen Schnitt, der etwas aus einem Untergrund herausschneidet. Sie fungiert entsprechend als Unter-Scheider: Sie teilt eine Fläche auf, hebt sich, wie auch Benjamin bemerkte, von ihrem Untergrund ab, um sowohl diesen als auch sich selbst als unterschieden zu markieren. 

Zu den besonders guten Gründen von Meyers Kunst gehört die Sprache. Und man stellt fest: Zeichnen hält wie die Dichtung im Unterscheiden den Denkprozess in Gang, denn schließlich löst das Denken, wie die Dichtung und wie Meyers Wort-Zeichnungen in Worte gefrorene Gedanken wieder auf.  Zeichnen befragt Bezeichnungen und Zusammenhänge.

"Unregelmäßige Hasen" nannte Nanne Meyer die eingangs zitierte subversive Variation einer Konjugation. Kommt ins Freie, Ihr Hasenherzen! Hasenbrüder und Hasenschwestern! Im Freien nämlich, also auf dem Papier der Nanne Meyer, endet die Konjugation nicht auf "sie", sondern auf "ihr". Ihr graut. Wer aber ist dieses Ihr? "Begraute", hieß eine Serie von Postkartenbildern, auf denen Nanne Meyer Flächen zum Verschwinden brachte, um im allzu Plakativen der gewohnten Stadtansichten unsichtbar Gewordenes sichtbar zu machen.

Nanne Meyer, Begraute


In Meyers Katalog spukt und schwebt die Zeile mit den grasenden Hasen auf einer fast leeren Doppelseite. Spökes, einem ganz eigenen Erkenntnisdrang folgend und frei nach dem Motto "Ich seh etwas, was du auch siehst". Zeichengebilde ergründet Wortgebilde; Wörter begründen Zeichenbilder. Und immer mit viel Witz. Eine Synästhesie, die Sinnliches im Miteinander intensiviert. So verbindet sich auf einem Blatt, was viel zu oft geschieden wird, und animiert eine pluralistische Bewusstseinsgleichzeitigkeit. Eine Welt im Plural eben. "Beim Zeichnen", sagt Meyer einmal, "hat man es immer mit drei Realitäten zu tun", mit der draußen in der Welt, mit der drinnen im Kopf und mit der vor dem Auge auf dem Papier. Alles wird hin und her übersetzt. Das unbedeutendste Detail unseres Alltags bekommt ein stärkeres Dasein. Wörter werden wörtlicher, Bilder bildlicher. 


Das Wort Spökes, bei dem sich die Sinne aus dem Sinnkitt befreien, steht zu meinem Erstaunen nicht im Wörterbuch der Gebrüder Grimm. Auch nicht im "Rheinischen Hausschatz" von Wrede. Doch im Internet findet sich eine Liste rheinländischer Wörter; dort steht Spoekes in listiger Nachbarschaft mit Spinnewippchen, Stippeföttchen und Sperenzie. Kein Wunder, dass die Hoffnung (esperanza) blüht, wenn der Stift sich sperrt, also ein paar Umwege, Sperenzchen macht.


Wörtlichnehmer und Bildlichnehmer

Die Kombination von Wort- und Bildkunst hat Tradition. Man denke an die berühmten Sprachbilder von Carlfriedrich Claus, oder an den Fluxus-Künstler Tomas Schmit (Website), auf den Cia Rinne kürzlich in der Tagtigall verwies. Auch Oskar Pastior hat Wort und Bild verschränkt. Jüngst erschienen erstmals seine gesammelten Zeichnungen, hervorragend ediert, die auch im Frühjahr 2019 im Rahmen des Poesiefestivals in der Berliner Akademie der Künste zu sehen waren. "Sinn kommt und geht durch die Hintertür, Bedeutung bleibt im Schwebezustand", heißt es im Klappentext.

Eigentlich ist Pastiors Medium der Lautleib der Sprache, doch zeitlebens bewirtschaftete er auch das benachbarte Terrain der Zeichnung. Seine Zeichnung "Frischgewaschenes Gedicht" zum Beispiel speist sich aus einer Lektüre der Tagebücher Tristam Shandys. Ein Spökes ganz eigener Art. Die Schrift muss ihre Vernunft verlieren. Vielleicht kommt sie dann zu Verstand?

Oskar Pastior, "Frisch gewaschenes Gedicht". Abb.: Pastior Stiftung, Berlin/DLA Marbach



Die Urbanistin Heidede Becker, die Herausgeberin des Oskar-Pastior-Bandes, wohnte ihrerseits von 1973 - 1985 mit Oskar Pastior in einer Berliner Wohngemeinschaft. Immer wieder widmete der Dichter ihr kleine Zeichenblätter, die in dem Band mitenthalten sind.

Beide, Nanne Meyer wie Oskar Pastior, nehmen Phänomene der Wirklichkeit beim Wort und Bild und treiben ihnen die kommunikative Seite aus, und plötzlich tauchen unerwartete Gemeinschaften auf. "Die Leute", so empörte sich Pastior einmal, halten sein Tun für ein Sprachspiel.

"Sie wissen nichts von Sprachnot, Denkverzweiflung oder gar Erkenntnisdrangsal (Gewissensbisse, bitte, allesamt, 'diese drei') und haben auch nie überlegt, dass unser Subjekt-Objekt-Satzgefüge-Denken, das wir ständig überkommen-übernommen lasten fühlen, wenn wir wörtlich mit ihm umgehn, uns etwa gerade noch Newtons Weltbild von der klassischen Mechanik der Physik zu fassen erlaubt und wir gar nicht wissen können, wie z.B. unbekannte Attraktoren funktionierten, wenn wir sie in einer 'ihnen adäquaten' Sprache wüßten, die wir aber nicht kennen..."

Oskar Pastior, "Gehbehinderter Brief". Abb.: Pastior Stiftung, Berlin/DLA Marbach
Unbekannte Attraktoren, ein Wort das sich auch bei Nanne Meyer finden könnte. Fast hört man Traktoren heraus, aber das vorangestellte A macht alles anders. Diese Attraktoren sind Attraktionen, sie durchpflügen unbekannte Felder. Sie sind unter uns. Doch welches wäre eine "ihnen adäquate" Sprache?

Linien, die entfernt an handschriftliche Zeilen erinnern, tragen Zeichen, die ihrerseits entfernt an Buchstaben erinnern. Und so beide Sinne wachrufen. Synästhesien.
Wort und Bild stehen in gewitzter Spannung. Auch wenn Nanne Meyer Pastiors Liebe zum Kalauer nicht teilt - was die Dichter teilen, ist die Fähigkeit, Vielsinnig zu erfassen und so unsere Vielsinnigkeit zu entfachen. Hinzu kommt das produktive Spiel mit Stoffwechselstörungen. Tatsächlich tragen Klang und Rhythmus Pastiors Traumgeschöpfe. Etwa die Jalouzien:



Neben Reck-Eulen und anderen Widmungszeichnungen finden sich bei Pastior Modehefte und Skizzenblöcke, Bildtafeln zum "Krimgotischen Fächer" neben Hieroglyphen-Tafeln und Sestinen-Monaden.

Von Pastior habe er gelernt, sagt der Dichter Ulf Stolterfoht, dass es das Verstehen nicht braucht. Wozu auch, wenn es Freuleins, Feurios, Landschaften mit Socken, Ohrale Stilfiguren und "Wish & draw - der Scheibenwischer" (S. 146) gibt.
Wörter wie Bilder, schreckliche wie schöne, haben bekanntlich eine bezwingende Macht. Wir sind ihnen ausgeliefert, sagt Herta Müller. Also studieren wir sie, brechen sie auf . "Ich hase - du hast - sie hastet -- wir hasen - sie grasen - ihr graut." Man sollte viel mehr idiotische Dinge sehen und lesen, hat die Dichterin Monika Rinck einmal gesagt: sie schenken uns Zeit zum Grasen.

Marie Luise Knott

Weitersehen, Weiterlesen:

Nanne Meyer, Gute Gründe, Zeichnungen 1979-2019, hrsg. von Nicola von Velsen, Hatje und Cantz 2019. (Bestellen bei buecher.de)

Oskar Pastior, Aubergine mit Scheibenwischer - die Zeichnungen von Oskar Pastior, hg. von Heide Becker,  Wunderhorn Verlag Heidelberg, 2018. (Bestellen bei buecher.de)

Dieter Mersch, Schrift/ Bild -Zeichnung/ Graph - Linie/ Markierung. Bildepisteme und Strukturen des ikonischen "Als" (pdfs)