Tagtigall

Die Freiheit der Einzelnen

Die Lyrikkolumne. Von Marie Luise Knott
12.01.2021. Die Frage, wie man oder frau "selbanders" sein kann und welche Freiheit die Sprache hervortreiben kann, durchströmt ihr gesamtes Schaffen: zum Tode von Barbara Köhler, der großen Dichterin und Künstlerin. Ein Nachruf
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Namen sind uns aufgegeben. Wir werden mit ihnen gerufen. Verbinden uns vielleicht mit ihm. Ein Fluch? Eine Magie? Nachdem die Dichterin Barbara Köhler 2007 im schweizerischen Leuk den Spycher-Preis erhielt, schrieb sie: "Barbara zu heißen heißt ja, der Name bedeutet: die Fremde - eine, die anders spricht, die der Landessprache nicht mächtig ist, die Barbarin." Den eigenen Namen im Ohr hatte sie sich schon früh das Material der alltäglichen Sprache fremd gemacht und sich ein "mind the gap" im Kopf, dem gap, der Lücke, verschrieben. Denn sie wollte durch die Lücken im Innern der Sprache zur Sprache und eben zu ihrer eigenen Sprache  kommen, sprich: durch Differenz und Distanz in deren Möglichkeits-  und Mächtigkeitswelten gelangen. An anderer Stelle im selben Kontext notierte sie, dass die Heilige Barbara, die Schutzpatronin der Bergleute, einer Legende zufolge die Fähigkeit hatte, "in den Berg zu gehen", einfach geradewegs in den Fels hinein; auf die Kunst von Barbara Köhler übertragen bedeutete das: geradewegs in den Fels der Sprache, in das dort Verborgene hinein. Und Barbara Köhler tat dies mit dem blinden Vertrauen einer wahren Dichterin, die fest daran glaubt, dass der Berg der Sprache sich ihr tatsächlich auftun wird, wenn sie nur aufmerksam und tatkräftig genug in ihn hinein aufbricht. Man musste herausfinden. "Anders, ich sage es ihnen, kommt man nicht zur Sprache." Konnte man zur Sprache kommen - wie an einen Ort? Wo ein anderer Wind weht?

Voller Lust, Humor und Lakonie und mit einer ihr eigenen Logik und Präzision erkundet sie Zuneigungs- und Herrschaftsverhältnisse zwischen den Menschen, den Wörtern und den Geschlechtern.

wir richten uns
nach den Bildern: du mich und ich dich

Die Sprache fließt. Der Sinn tritt über.

Amerika

Barbara Köhler, geb. 1959, wuchs heran im sächsischen Penig, nicht weit entfernt vom dortigen Stadtteil Amerika. Über Umwege kam sie in den 1980er Jahren als Studentin ans Ludwig-Becher-Institut in Leipzig. Der Band "Deutsches Roulette", der 1991 bei Suhrkamp erschien, machte sie über Nacht bekannt. Weitere Bände folgten. 1994 trieb es sie aus privaten Gründen nach Duisburg, wo sie bis zuletzt lebte, wenn sie nicht unterwegs war - oft mit Auftrag: als Preisträgerin, Stadtschreiberin, Stipendiatin oder Gastprofessorin -, ob in Leuk, in Istanbul, an der Emscher oder in Ohio.

Ob Odysseus, Penelope oder Wittgenstein - Köhler folgte dem, was sie erkundete, aufs Wort, und auf den Klang. "THANK YOU FOR TAVELLING DEUTSCHE SPRACH!'" witzelte sie einmal. Die formale Strenge und die mitunter liedhafte Leichtigkeit des Gestus sorgten für die vielgepriesene zauberhafte Spannung, die sie in Performances, Klang- und Wort-Installationen verdichtete. Außerdem begann sie zu übersetzen (Gertrude Stein, Samuel Beckett und Elizabeth Bischop), wohl um sich in fremdere Bergwerke hineinzubuchstabieren.  

Bei der Peter Huchel-Preisverleihung im Jahr 2016, sprach sie wieder von der Fremde, und vom Fortgehen. "Unbekümmert geht der Fremde davon", habe das mutmaßlich letzte Gedicht von Peter Huchel geendet, so ihre Ausführungen in der Dankesrede:  "DIE FREMDE aber bleibt - muss wohl bleiben, denn sie ist - kann sein - ja auch eine Art Ort, wäre, was (oder wer) bleibt. Bleibt fremd. Muss sich kümmern."

Wer nicht flieht, nicht fortgeht, wer bleibt, muss sich offensichtlich kümmern. Mit dem Ort und dem Alleinsein ins Benehmen setzen.

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jemand geht & er weiß daß er fortgeht
jemand geht & sie weiß das er fortgeh
t jemand weiß daß er fortgeht weil er
weiß daß sie bleibt &daß jemand fort
geht weiß sie weil sie bleibt er kann
nur fortgehn wenn sie bleibt weiß sie
wenn sie auch geht würde es kein fort
gehen mehr geben weil es nichts geben
würde was bleibt aber wie kann er das
wissen er dreht sich nicht einmal um.

Ein Liebeslied? Ein Abschiedsgedicht? Zwischen Ost und West? Was tut der Anlass schon zur Sache.

An eindeutigen Antworten ist Köhlers Sprachbefragung nirgends interessiert, dafür umso mehr an Rekonstruktion von Pluralität: "Die Fremde, sehen Sie, könnte die Sache auch anders sehen". Untergründig schwingt in vielen ihrer Verse die Sehnsucht mit, dass man nicht länger zwischen der, die und das scheiden müsste. Komm ins Offene, Freund. Mit dem Drehen und Wenden der Worte und Buchstaben wird auch die Welt aus ihrer Enge herausgeholt und als eine denkbar, die sich wenden und wandeln kann. So endet ihr Gedicht "Jemand geht":

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sie ist nicht jemand der geht sie ist
nicht niemand der spricht sie ist die
eine ist anders selbanders geht sie &
spricht ihn an aber meint er es ginge
ihn nichts an geht nichts spricht nie
mand es hört keiner zu er hört keiner
zu ihr hört keiner zu keiner hört wer
spricht von verlassen wer verläßt ihn
verläßt sie verläßt sich & wer ist es
wohin kommt es & geht sie wenn jemand
geht & er sieht: sie ist es. die geht

Die Frage, wie man oder frau "selbanders" sein kann und welche Freiheit die Sprache hervortreiben kann, durchströmt ihr gesamtes Schaffen. Seit dem Band "Deutsches Roulette" ist ihr zart-witziger und dennoch robuster Ton immer präsent. Auf ihren Expeditionen begegnen wir bittersten Wahrheiten und üppigsten Forsythienhainen. In den letzten Monaten vor ihrem Tod arbeitete Barbara Köhler an einem Zyklus, den sie "Eckstein" nannte, und der wohl bald in den Horen erscheint, wo man zuletzt immer wieder Texte von ihr fand. Wieder schwingt die Sorge um die Welt hinein. Hier ein paar Zeilen daraus.

IHRE FREIHEIT, die Freiheit DER EINZELNEN wäre womöglich ja
eine für Alle, könnte sein: für jede Einzelne, die frei da-
rin wär: selbst zu entscheiden, ob sie dazugehören mag oder
nicht, wie auch für jeden Einzelnen, wo der nicht meint, er
allein wäre maßgeblich: wo er nicht allein ist, kein Einzi-
ger, der gegen die Anderen kämpfen muss. Ihre und seine: die
FREIHEIT, eine, könnte etwas einendes sein, Einzelne einen,
viele, gesellig: Unterschiedliche, Andersartige, Ungleiche,
Gleiche - IHRE FREIHEIT, DIE FREIHEIT DER EINZELNEN, aller.

Barbara Köhler, die Großmeisterin in der Kunst der Sprachbefragung, ist am 8. Januar nach schwerer Krankheit gestorben. Ihre Stimme wird fehlen; allen, die sie kannten, fehlt schon jetzt ihre tiefe Menschenfreundlichkeit. Die Lebenszeit, die ihr gegeben, war zu kurz, aber sie nahm sie sich wie eine Gabe. Und gab sie her. In der Gewissheit, dass jede Spracherweiterung eine Welterweiterung ist. Und wissend, dass sie wie alle großen Dichterinnen und Dichter dieser Welt Worte prägte, an die wir anderen uns dann halten.

*****

Zum Weiterlesen:

Das Gedicht "Jemand geht" ist nachzulesen in dem Band Wittgensteins Nichte. Auf Lyrikline liest sie den Text, fast wie einen Rap.
Im Suhrkamp Verlag ist derzeit nur lieferbar: ""Deutsches Roulette". Gedichte 1984-1989, 1991. Die übrigen Titel: "Blue Box" (1995), "In Front der See" (1995), "Wittgensteins Nichte" (1999), und "Niemands Frau" (2007) sind momentan vergriffen. 2012 erschien in der Edition Korrespondenzen "Neufundland"; 2013 im Dörlemann Verlag "36 Ansichten des Berges Gorwetsch" , 2016 im Lilienfeld-Verlag "Istanbul zusehends" und 2017, wieder in der Edition Korrespondenzen, der großartige Band "42 Ansichten zu Warten auf den Fluss", der während eines Aufenthalts an der Emscher entstand.
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