Tagtigall

Vom Glück der Kindheit

Die Lyrikkolumne. Von Marie Luise Knott
14.09.2021. Jeden Morgen setzt sich die amerikanische Dichterin Mary Ruefle vor die Doppelseite eines Buchs und löscht Wörter mit Tipp-Ex aus, bis nur noch wenige sichtbar sind. Eine Meditation, von der man viel über das Lesen lernen kann. Das Schreibheft hat ihr jetzt ein Dossier gewidmet.
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Jedes Mal, wenn ich eine Publikation einer mir unbekannten Dichterin oder eines mir unbekannten Dichters zur Hand nehme, fremdele ich anfangs. Ich beginne zu "lesen" ... wobei "lesen" die Sache nicht trifft. Ich beginne vielmehr, die Oberfläche abzutasten: Buchstaben, Silben, Worte, und wie sie miteinander reden oder miteinander schweigen, und wie sie auf den Weißräumen der Seite oder des Bandes Platz gefunden, ja, ihren Platz genommen oder bekommen haben. Anfangs sind sie mir abgewandt, die Sprache tut nur so, als spräche sie. So taste ich mich voran, bis irgendwann in der Oberfläche etwas meine stärkere Aufmerksamkeit erregt, sich öffnet: ein Schlüssel, eine Luke, ein Fenster, eine Tür ins Werk vielleicht - oder in etwas anderes?

Vor mir liegt das Schreibheft-Dossier "Weiße Schatten", das sich der amerikanischen Dichterin Mary Ruefle widmet. Was konnte es mit diesen Schatten auf sich haben? fragte ich mich. Ich las, und las, tastete mit den Augen ab, was sich dort auf den Seiten versammelt hatte. Würde ich hinter die Oberfläche gelangen? So blieb ich bei einer Serie von "erasure"-Gedichten hängen, also bei fast vollständig geweißten Buchseiten aus "The Little White Shadow" - und mit einem Mal ging mir durch den Kopf, dass im "Erasen", also im Ausweißen, Austilgen, ein ähnlicher Prozess am Werk ist, wie beim Lesen. Ein Abtasten der vorhandenen Textoberfläche, hier mit Tippex-Pinsel.
 

"The Little White Shadow" war offensichtlich, so findet man im Internet, der populäre Roman einer Autorin namens Emily Malbone Morgan aus dem Jahr 1889, die mit dem Erlös Erholungsheime für (arbeitende) Frauen und Mädchen errichten wollte. Ruefle hatte sich ein altes gegilbtes, fleckiges Exemplar davon vorgenommen und die Textoberfläche Zeile für Zeile geweißt, von wenigen Aussparungen abgesehen. Übrig geblieben waren so auf jeder Seiten einige Textbausteine, die als das sichtbar waren, was sie geworden waren: gelockerte Ziegelsteine. Einblicke in Möglichkeitswelten. Ein Spiel. Eine Lesart.

Täglich mache Mary Ruefle diese "erasures", liest man in einem Interview im Schreibheft. Zuallererst für sich selbst. Über 100 solcher Bücher hat sie mittlerweile "verfasst", oder richtiger: aus ihrer ursprünglichen Facon gelöst. Eine Meditation. Ein Sich-Ausleeren. Jeden Morgen eine Doppelseite.

Eine Voraussetzung für dichterische Empfänglichkeit sei der Müßiggang, so Walt Whitman: "Ich feiere und lade meine Seele zu Gast / liege auf dem Erdboden, behaglich halte ich Rast und betrachte einen Halm vom Sommergras", zitiert ihn Ben Lerner in "Warum hassen wir die Lyrik?" Wer da wie Whitman die Halme betrachtet oder wie Ruefle dasitzt und weißt, weiß, dass auf diese Weise ein anderer Flow, der Flow der Sprache, beginnen kann, der anderen Wahrheiten Raum verschafft.

Das erste Gedicht von Ruefle im Dossier wirkt in seiner Fragmentik, als sei es auch technisch von "erasure" inspiriert. Es beginnt so:

In diesem Zimmer
sahen wir nackt aus.
Ohne eine Theorie,
drei Eier in einer Schale.
Stück für Stück
gaben wir die Hoffnung auf
je verstanden zu werden.
Wir gaben ein großes Leuchten von uns.

(...)

Ein Leuchten nach dem Ende der Hoffnung, verstanden zu werden. Eine Unterbrechung der Gegenwart, eine Aussetzung des Jetzt-Zeit-Getümmels.

Der Prozess des Ausweißens (und das Schnüffeln von Tipp-Ex) sind bei Ruefle meist nur Einstimmungen, nicht Teil der Produktionsform. Die Gedichte beginnen meist im Kopf, wie sie sagt, nicht auf dem Papier. Als Sprach-Schleifen. Das Gedicht, das Hinweise auf ihre "Ars Poetica" enthält und nicht "Weißer Schatten", sondern im Gegenteil "Dunkle Ecke" betitelt ist, lautet:

Ich wischte eine leere Schublade aus,
ich wollte Dinge hineingeben.
Nicht viel war drin -
eine tote Fliege, ein trüber Pfennig,
eine gerade Nadel, Staub
in den hinteren Ecken.
Als ich die Finger krümmte,
um die Nadel aufzunehmen,
kam mir ein Gedicht.
Vielmehr es erschien
Wort für Wort mir im Geist.
Wie war es in die Schublade geraten?
Wie lange hatte es dort ausgeharrt?
Hatte ich es hineingelegt,
zur Aufbewahrung?
Gehörte es der Fliege?
Hatte sie es aus einsamer Höhe fallenlassen
auf diesen Spielplatz des Abfalls,
und ihr eigener Tod
kam aus dem Nichts?

Was eigentlich steht da? Erstens: Die leere Schublade ist in Wirklichkeit nicht leer, jedoch der nützlichen Dinge entledigt. Dank der Leere werden die Rückstände sichtbar, mit denen sie bevölkert ist, auch wenn diese meist unsichtbar bleiben: ein trüber Pfennig, eine tote Fliege, eine gerade Nadel und: Staub - Residuen, die vorher unbesehen gewesen waren und nun, wie die Wort-Rückstände auf dem geweißten Papier, Kosmen evozieren. Wer schreibt, krümmt seine Finger. In der Schublade des Gedichtes kann alles ins Sein gedacht werden. Auch alles Abwesende, alles Tote. Gedichte entstehen aus den Residuen der Angst, des Schmerzes, aus Erinnerungen, aus Glück; und aus der Tatsache, dass wir alle sterblich sind, was recht eigentlich eine Binse, tatsächlich aber ein Schock ist, wenn es plötzlich um den Gedanken an den eigenen Tod geht.

Ruefles Gedichte untersuchen Fragilität und Scheitern mit Schönheit, Humor und Fantasie - und immer wieder ist das Glück der Kindheit mit von der Partie.

Glücklich

Als meine Mutter gestorben war,
hörte ich sie auf dem Dachboden
mit Puppen spielen.
ich konnte durch Dinge hindurchsehen, wie durch Luft
oder Abschaum.
Es war wunderbar -
ich durfte die Erde putzen
auf allen Vieren, ich durfte sie wachsen!
Als sie glänzte, ging ich eislaufen
mitten in der Nacht.
Ich war glücklich dort draußen
beim Eislaufen unterm Mond,
und niemand war dabei.
Ich war so glücklich, ich fing an,
dem Mond Kleider zu nähen.
Winzige Dinge erst,
wie Taufkleidchen für Raupen.
Und meine Mutter kaufte sie!
Sie war so glücklich, mich so glücklich zu sehen,
es machte kaum etwas aus, daß wir
auf Erden nie viel geredet hatten.
Ich habe immer zu den mürrischen stillen
Typen gehört, die nicht wissen, wie sie vorankommen.
Und jetzt bin ich glücklich. Ich bin so glücklich,
das nächste Mal, wenn ich Papa sehe
im schwarzen Cape auf dem Baum,
wo er Botschaften abwirft,
lasse ich einen Drachen steigen
mit seinem Gesicht.

*

Alle Zitate aus: "Weiße Schatten. Mary Ruefle", ein Dossier der Zeitschrift Schreibheft, zusammengestellt von Daniel Medin. Mit Beiträgen und Übersetzungen von Sonja von Brocke, Esther Kinsky, Norbert Lange, Daniel Levin Becker, Clemens Setz, Cecilia Tricker und Anja Utler. In: Schreibheft. Zeitschrift für Literatur, herausgegeben von Norbert Wehr. Heft 97, 2021. Alle Gedichte übersetzt von Esther Kinsky.

Sehr zu empfehlen außerdem: Ben Lerner, "Warum hassen wir die Lyrik?" Aus dem Englischen von Nikolaus Stingl, Suhrkamp 2021

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In anderer Sache:

Derzeit findet im Zürcher Strauhof eine Ausstellung zu dem Schweizer Dichter Kurt Marti statt, dem ich einen meiner Leitsprüche verdanke: "Wo kämen wir hin, wenn alle sagten, wo kämen wir hin, und niemand ginge, um mal zu schauen, wohin man käme, wenn man ginge." Parallel zur Ausstellung ist in dem Schweizer Lyrikverlag von Urs Engeler Kurt Martis "Wortwarenladen" erschienen. Ein Wörterbuch nicht im üblichen Sinne. Aber eine grandiose Wortfundgrube von dichterischen Neuschöpfungen aller Art und durch mehrere Jahrhunderte hindurch. Nach Sachthemen recht willkürlich, sprich nach eigenem inneren Raster des Dichters geordnet. Unter der Rubrik "Luft Himmel" zum Beispiel findet sich die Himmelsrunse (Franz Wurm), die Himmelwand (Arno Schmidt) der Lichtpalast (= Himmel, Jean Paul) , und dazwischen viel Mayröcker: Lichtwechsel, Lufthunger, Luftkuss, Luftschwingung. Luftsee hingegen stammt wiederum von Jean Paul.

Unter der Überschrift "Bodentiere" findet sich als erstes der Eintrag affenbös, von Else Lasker-Schüler. Unter "Lebensalter" der Begriff Surdität. Man sieht, solche Listen sind Residuen aus den Sprachspielfreuden der Kindheit - auch Wahnflamme von Friedrich Wolfskehl, und der Wunschseufzer von Oskar Pastior gehören dazu. Uns mögen viele der zeitgenössischen Dichterinnen und DIchter mit ihren Wortschöpfungen fehlen (etwa Oswald Egger, Monika Rinck oder Uljana Wolf), doch das mindert weder Spaß noch Inspiration des "Wortladens". Kein Wunder, dass Marti dieses Schnipselwerk bis zuletzt um sich hatte.

Kurt Marti, Wortwarenladen, Urs Engeler, Taschenbuch, Neue Sammlung 006, zu bestellen hier.